von Ronnie Grob

Existenzängste

Die Aussage von SVP-Nationalrätin Natalie Rickli, dass sie die Masse der Deutschen in der Schweiz störe, veranlasst die Schweizer Medien, die x-te Grossdebatte über Deutsche in der Schweiz loszutreten. Die neue Konkurrenz durch gut ausgebildete Arbeitskräfte beschäftigt Journalisten auch deshalb, weil es um die eigene Existenz geht.

Alle paar Jahre, in letzter Zeit eher alle paar Monate, wird wieder über die Zuwanderung diskutiert, über die Deutschen in der Schweiz. Auch wenn die Diskussion längst abgestanden ist, wird sie von Journalisten südlich und nördlich des Rheins immer wieder begeistert aufgewärmt. Denn es ist ein Thema, das die Leser beschäftigt, die Klicks und die Verkäufe anziehen lässt. Auch das Schweizer Fernsehen kümmert sich um die Polemik, und weil sich Natalie Rickli von Roger Schawinski nicht einladen lässt, wird heute Abend um 22.55 Uhr einmal mehr Christoph Mörgeli in die Kameras lächeln. Und sogar im Musikantenstadl redet man darüber.

Warum wird das Thema immer wieder breitgewalzt? Zunächst ist festzuhalten, dass die Deutschen in den letzten Jahren wie keine andere Nationalität in die Schweiz geströmt sind. Sie lieben die Schweiz. Und die Schweizer werden von den Deutschen eigentlich auch ganz gut gemocht, auch wenn sie die nicht immer so richtig ernst nehmen können. Begeistert oder gezwungenermassen ziehen die Deutschen in einen vergleichsweise schlanken Staat, der auch noch richtig gut funktioniert meistens. Es erwartet sie weniger Bürokratie, weniger Steuerbelastung, ein höheres Einkommen, überhaupt ein ganz ansehnliches Land mit einer hervorragenden Infrastruktur.

Wie die Einwanderer zuvor, die Italiener, die Kroaten, die Kosovaren, erledigen sie jene Jobs, für die sich offenbar keine Schweizer finden. Anders als die Einwanderer zuvor, konkurrenzieren die oft gut ausgebildeten Deutschen jene Schweizer, die bisher den Integrationsdruck nur aus den Medien kannten: Akademiker, Kadermitarbeiter, Journalisten, also jene gebildete Schicht, die Zeitungen liest und kauft.

Und diese Schicht ist not amused über die neue Konkurrenz. Bisher kümmerte sie die sozialen Herausforderungen, die in Gemeinden wie Spreitenbach entstehen, wo 5349 Schweizer zusammen mit 5482 Ausländern wohnen, nur am Rande. So wie «chinesische Bodenleger und ungarische Isoleure», die auf den Baustellen der Migros-Pensionskasse mutmasslich zu Dumpinglöhnen beschäftigt werden, wie die Gewerkschaft Unia berichtet, kaum das eigene Leben beeinflussten. Der durchschnittliche Hochschulabsolvent wohnt mit seiner Familie nämlich eher in einem Einfamilienhaus auf dem Land oder einer ausgebauten Stadtwohnung.

Zur Belastung wird für den gut ausgebildeten Schweizer vielmehr der neue deutsche Mitarbeiter, der durch seinen ausserordentlichen Einsatz und seine besondere Befähigung plötzlich die längst sicher geglaubte Beförderung gefährdet. Und natürlich die von zugezogenen Deutschen in die Höhe getriebenen Mietpreise. Diese Angst vor einem Verlust von Privilegien ist denn auch der Kern der Mediendebatte.

«Blick-am-Abend»-Blattmacher Thomas Benkö schrieb in einer Replik an eine Österreicherin vom deutschen «Tagesspiegel» von einer Wohnungsnot, «ausgelöst auch durch den Zuzug der Deutschen». Dass der von Peter Röthlisberger (Schweizer!) geleitete «Blick am Abend» dieses Thema anpackte, war vielleicht kein Zufall. Kurt W. Zimmermann (Schweizer!) notierte in der «Weltwoche», dass der von Ralph Grosse-Bley (Deutscher!) geleitete «Blick» nicht auf die für den Boulevard durchaus attraktive Debatte einging, während der von Karsten Witzmann (Deutscher!) geleitete «SonntagsBlick» eine Umfrage startete und das Ergebnis unter dem Titel «Zu viele Deutsche hier? Schweizer sagen nein!» vermeldete. Peer Teuwsen (Deutscher!) bemerkte dazu, dass 36 Prozent, die finden, es gebe zu viele Deutsche im Land, nicht wenige seien: «Es sind weit mehr, als die SVP Wähler hat.»

Um es plakativ zu sagen: Der Schweizer Bildungsbürger und der bisherige Einwanderer liefen sich bisher bei Renovierungs- und Reinigungsarbeiten über den Weg, vielleicht traf man sich in der Pizzeria oder am Kebabstand. Der neue Einwanderer dagegen, keineswegs immer ein Deutscher, hat die guten Plätze in der Oper reserviert und erhält den Zuschlag für diese schöne Wohnung im Zürcher Seefeld, die man selbst eigentlich schon immer wollte.

Wie wird die Diskussion von Journalisten in Deutschland gesehen?

Natalie Rickli sei «die Gabriele Pauli der Schweiz, mehr nicht», die Diskussion dazu «ein sinnloser Hype», sagt einer. Alexander Kissler von «Focus Online» kannte Rickli bis vor kurzem nicht – und in Kürze werde er sie wieder vergessen haben: «Ihre Worte lohnen die Aufregung nicht. Es ist wahrlich keine Neuigkeit, dass zum Genom der SVP ein gerüttelt Mass an Ausländerkritik gehört. Dass die Schweizer mehrheitlich ausländer- oder deutschenfeindlich wären, stimmt meiner Wahrnehmung nach nicht.» Die Wahrnehmung sei sowieso verzerrt, findet Matthias Schumacher, freier Journalist und Autor in Berlin, denn «die Schweizer Politik wird vom Deutschen nur ganz am Rand wahrgenommen, umso grösser wirkt alles, das es in unsere Medien schafft, selbst wenn es ein grosses Nichts ist.» Und Krystian Woznicki von der «Berliner Gazette» hat beobachtet, dass die Bezahlung in der Schweiz zwar stimme und für die Karriere Chancen biete. «Doch das soziale Klima ist dürr, man fühlt sich ewig fremd und das obwohl man sprachlich und kulturell kaum näher dran sein könnte im Ausland.»

Journalisten in Deutschland sind von vielen Seiten unter Druck, aber von Integrationsdruck sind sie persönlich kaum betroffen – deshalb vielleicht auch das generelle Unverständnis für jegliche ausländerkritischen Aussagen, das viele von ihnen pflegen. Es ist kein Geheimnis, dass sie oft in bevölkerungshomogenen Bezirken wohnen, wo Ausländer in aller Regel in der Form des Touristen auftauchen. Einige wissen auch nicht, dass die Schweiz (2010: 22,4 Prozent) gegenüber Deutschland (2010: 8,8 Prozent) einen viel höheren Ausländeranteil aufweist.

Ausbrüche über nervige Touristen (und Repliken dazu) kann man in Berliner Zeitungen übrigens zuhauf lesen. Der Ausländer schmerzt halt jeden sehr individuell. Nur zu Wort kommen dürfen die einen etwas mehr, und die anderen etwas weniger.

Offenlegung: Ronnie Grob (Schweizer!) wohnt seit 2007 recht zufrieden in Berlin.

Leserbeiträge

Rolf Isler 08. Mai 2012, 09:39

das ist ein sehr guter Beitrag und sehr, sehr treffend geschrieben.
Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich als Schweizer durch diesen Beitrag ertappt – und die Wahrheit tut bekanntlich weh. Tatsächlich haben wir früher die „Ausländer“ nur deswegen nicht so stark wahrgenommen, weil sie in anderen Bereichen gearbeitet haben und deshalb für mich (bzw. uns) als gut ausgebildeten Arbeitnehmer, kein Risiko darstellten. Diese Situation hat sich aber nun massiv geändert – und auf neue Situationen reagiert der Mensch bekanntlich zuerst mit Ablehnung, egal ob Deutscher oder Schweizer!

Beat 24. Februar 2016, 06:52

Existenzängste werden immer geschürt, und viele von uns ein Leben lang begleiten. Bin ich allerdings gut ausgebildet, werde ich bei einer gewissen Flexibilität wohl immer eine Job finden. Dazu gehört auch Weiterbildung, Stillstand ist Rückschritt. Kurse wie Organisationsmanagement oder ähnliches bringen mich sicher weiter. Und nur darum geht es. Firmen suchen gut ausgebildete Mitarbeiter, und dafür ist jeder mitverantwortlich