von Ronnie Grob

«Ja klar interessiere ich mich für Macht – was gibt es Dramatischeres?»

Als einer der besten Schreiber der Schweiz hat Constantin Seibt beim Tages-Anzeiger viele Freiheiten. Obwohl er maximale Entspanntheit verbreitet, bloggt er für seinen Arbeitgeber noch am Abend über Journalismus. Im MEDIENWOCHE-Interview redet er über Schuldenkrise und Anarchie, das Verhältnis zwischen den Journalisten, über Kaffee, Alkohol und Zigaretten und über Blocher, Köppel und Rickli.

Nein, bloss nicht noch ein Medienblog, dachten viele, als Seibt «Deadline» eröffnete mit 15 Thesen zur Zukunft des Journalismus. Doch glücklicherweise hat er die Erwartungen enttäuscht: Keine weiteren Thesen zur Medienzukunft und keine Debatten zur Frage, ob jetzt Print oder doch Online «besser» ist. Sondern einfache Handwerkstipps aus der über 20-jährigen Erfahrung eines Sprachklöpplers, den viele für den besten Stilisten der Schweiz halten. Die Nachricht lautete: Ich kann nicht generell besser schreiben als ihr, sondern ich verwende Tricks. Und ich teile sie mit euch.

«Früher, auf Journalistenparties, hat man so ungefähr nachts um zwei gesagt: Alle Chefredaktoren Idioten, alle Verleger Verbrecher. Lass uns eine eigene Zeitung gründen. Die gleiche Konversation führt man heute eigentlich schon um zehn Uhr morgens topfnüchtern beim Kaffee.» Das sagtest Du 2008 bei einer TV-Diskussion. Über was spricht man heute?
Heute spricht man nicht mehr viel. Das Erstaunliche ist, dass die Branche das Gefühl hat, nur weil sie die ersten Schockwellen der Krise überlebt hat, wird sie alles überleben. Ich sehe die Leute nicht, die sich Gedanken machen, wie es weiter geht, ausser natürlich: Wie legt man Zeitungen zusammen und wie schafft man Synergien. Und dann gibt es noch ein paar Experimente online. Es hat keiner das Rezept, es hat aber auch keiner die Melancholie, dass etwas Wichtiges fehlt. Etwa das Rezept.

Nun, vier Jahre später, arbeitest Du immer noch bei Tamedia. Was ist schief gelaufen?
Tamedia, insbesondere der Tages-Anzeiger, ist ein klasse Arbeitgeber, Tagi-Reporter zu sein ist ein klasse Job. Bis jetzt gab es keine aufsehenerregende Neugründung. Und um selbst ein Blatt gründen zu wollen, braucht es sehr viel Cash.
Die eigene Bude zu besitzen, wäre aber schon klasse. Bei der WOZ war es ja so, dass man zu einem Fünfzigstel Verleger war und zu einem Dreissigstel Chefredaktor [Seibt arbeitete 1997 bis 2004 bei der genossenschaftlich organisierten Wochenzeitung]. Da warst Du für alles, was schlecht lief im Laden, mitverantwortlich. Entweder, weil Du es nicht verhindert hast. Oder noch schlimmer, weil Du es selbst initiiert hast. Es ist verblüffenderweise ein viel besseres Gefühl, schuldig zu sein für alle Dinge, die bei der eigenen Zeitung schief laufen, als nicht schuldig. Es hat viel Spass und viel Ärger gemacht, die Politik der eigenen Zeitung zu bestimmen.

«Ich bin zum Tages-Anzeiger gegangen, weil ich den für die beste Zeitung der Schweiz halte», sagtest Du im Radio1-Doppelpunkt (mp3-Datei). Wieso ist der «Tages-Anzeiger» die beste Zeitung der Schweiz?
Sie hat am meisten Power unter der Haube, es arbeiten hervorragende Leute an den Nebentischen. Am Tag 1 nach einem Ereignis ist der Tages-Anzeiger eigentlich fast immer die cleverste, stärkste Zeitung. Eine kluge Entscheidung war die Eliminierung der mittleren Distanz vor zwei Jahren, nun sind die Texte entweder kurz oder lang. Den Dreispalter, der weder Fisch noch Fleisch war, gibt es inzwischen nicht mehr. Denn wenn Du nichts zu sagen hattest, war es eine irrsinnig lange Strecke und wenn Du etwas zu sagen hattest, fast nichts.

Wärst Du ein guter Chefredaktor?
Kommt draufan, in welcher Disziplin. Es wäre eine tolle Sache, bestimmen zu können, welche Inhalte auf welche Art kommen, in welcher Form kommen, über die eigenen Quadratzentimeter hinaus Zeitung zu machen. Einmal Hebamme zu sein: Das wäre schon faszinierend.

Du schreibst im Blog: «Das Mass für die Brillanz eines Chefs – gerade in der Medienindustrie – ist nicht dessen persönliche Eindrücklichkeit, sondern die Brillanz seiner Untergebenen.» – ist das ein Lob für Res Strehle und Markus Eisenhut?
Ich glaube schon: Den guten Chef erkennt man daran, dass seine Leute gut sind, wenigstens auf dem Gebiet, das sie beherrschen.

Durch Deine stilistischen Fähigkeiten hast Du Dir beim Tages-Anzeiger schreiberische Freiheiten erarbeitet. Ärgert das Deine Mitarbeiter?
Ich glaube schon, dass manchmal welche denken, dass die Reporter leben wie Zuckerpüppchen bei Tifus. Der Tages-Anzeiger ist eine Redaktion ohne Intrigen, ohne viel Neid, ohne Bösartigkeit, es sind wirklich freundliche, kompetente Leute. Manchmal ist man fast enttäuscht, weil man am Abend nichts zu erzählen hat. Man fragt sich, wo man hier sein dramatisches Menschenbild bestätigen könnte.

Sind sie aber nicht vielleicht manchmal zu nett, vor allem auch zueinander?
Ich glaube, in jeder Redaktion ist man tendenziell zu nett zueinander. Letztlich sitzen wir in einem Boot, machen zusammen Zeitung und müssen uns immer wieder zusammenraufen. Man kennt die anderen ja auch und weiss, was an ihnen zu ändern ist und was nicht.
Journalisten sind generell nett zueinander, im Gegensatz zu Künstlern beispielsweise. Wenn dort einer ein Stipendium kriegt oder von einem Sammler gesammelt wird, sinkt die Wahrscheinlichkeit massiv, dass der andere dasselbe Glück hat. Es herrscht dort eine Anspannung und eine Hierarchie bis in die Begrüssungsküsschen hinein. Journalisten dagegen nennen sich zwar gegenseitig andauernd inkompetent und Idiot und weiss der Teufel was, doch sie freuen sich, wenn sie sich gegenseitig irgendwo sehen. Denn egal, wer etwas schreibt: Am nächsten Tag ist dieser Platz wieder leer und ein anderer kann ran.

Bei möglichen Beförderungen gibt es doch aber schon konkrete Konkurrenz.
Das schon, es gibt nicht so viele Chefpositionen im Journalismus. Aber im Gegensatz zu fast allen anderen Branchen ist nie klar, ob die Chefposition wirklich die bessere Position ist. Du hast viel mehr Sitzungen, Du kannst nicht mehr einfach rausgehen und Dir die Sachen ansehen, Du hängst bei allen Reklamationen mit drin. Weil Journalisten auch noch relativ selbstbestimmt sind (jedenfalls beim Tagi), hält sich die persönliche Macht eines Chefs in Grenzen.

Dein Facebook-Profilbild zeigt Dich an Deinem Arbeitsplatz, bequem im Sessel versunken, mit den Füssen auf dem Tisch. Arbeitest Du so?
Es stellt meinen tiefen Wunsch dar, dass das, was ich zum Teil hinwürge und ächze, am Schluss ganz entspannt aussieht. Als hätte ich es aus dem Ärmel geschüttelt. Es ist die verzweifelte Suche nach einem Stück Coolness, die mich seit meinem 15. Lebensjahr begleitet. Ich bin mir sicher: Eines Tages werde ich das kleine Stück Coolness, das für mich da ist, finden.

Seit Anfang Mai schreibst Du im Blog Deadline aktiv als Newsnet-Blogger über Journalismus. Wie sind die ersten Erfahrungen?
Es macht Spass. Über das Schreiben zu schreiben ist ein ganz anderes Schreiben: Ich kann mich dabei entspannen, weil es ein Thema ist, über das ich in meinem Leben nachgedacht habe wie über kein anderes. Diese Artikel schreibe ich am Abend zur Erholung. Und ich würde nie sonst einen Artikel zur Erholung schreiben.

Was hast Du gelernt?
Die Warnungen der Newsnet-Leute, die Leute würden mir nun deprimierend böse Kommentare schicken, weil ich nicht mehr weit weg bin wie bei der Zeitung, haben sich nicht bewahrheitet. Lästig sind aber kommentierende Dauerstammgäste, die einfach nur assoziieren. Die schreiben dann über ihre Jugend, über Adolf Hitler, über sich, wie sie Baudrillard gelesen haben – nur mit dem, was oben drin steht, hat es nicht zu tun. Solche Kommentare werde ich nun streichen. Nach dem Motto: Wenn Du mir eins vor den Bug knallst, dann bist Du drin. Wenn Du einfach nur rumschwafelst, dann fällst Du raus.

Ist ein Buch zum Blog bereits geplant?
Nein. Ich finde, man soll das Fell des Bären nicht verkaufen, solange ihm erst Achselhaare gewachsen sind.

Nach einigen Jahren mit vielen Fehlern und Schludrigkeiten ist nun bei Newsnet eine Qualitätsoffensive mit auch längeren Artikeln zu spüren. Ist Dein Blog ein Teil davon?
Michael Marti von Newsnet war sehr dafür, dass der Blog gestartet wird. Gerüchten zufolge kommt ja irgendwann auch beim Tages-Anzeiger die Konvergenz. Der Printausgabe kann es nicht schaden, etwas schneller zu werden. Und Newsnet kann es nicht schaden, etwas langsamer zu werden. Der Teufel steckt nur in den Details.

Du hast meines Erachtens richtig festgestellt, dass Medien nicht nur im Informations-, sondern auch im Zeitverschwendungs- also Unterhaltungsbusiness sind. Warum begreifen so wenige der so genannt seriösen Journalisten, dass Fakten schön gebündelt besser ankommen?
Es ist eine Frage der Tradition und die lautet: Wir kommen von der Information her – und dann schreiben wir’s noch auf. Relativ wenige Leute kommen vom Schreiben in den Journalismus – und schon gar nicht in die harten Ressorts, also Inland und Wirtschaft. Mein Fressvorteil war schon immer, dass ich vom Schreiben her komme.

Deine Themenschwerpunkte sind Medien, Wirtschaft und Politik.
Ja, und als Viertes die Zückerchenschiene, also irgendetwas Leichtes und Fröhliches von Zeit zu Zeit.

Wie die Vuvuzelas?
Ja.

Medien, Wirtschaft und Politik – weil Du Dich für Macht interessierst?
Ja klar interessiere ich mich für Macht – was gibt es Dramatischeres? Ursprünglich hatte ich eine grosse Fehlkalkulation in meinem Leben. Ich dachte, ich studiere nicht Wirtschaft, weil Wirtschaft etwas für Schwiegersöhne ist: die heiraten, machen ihr Geld, gehen in ihr Einfamilienhaus und dann sterben sie dort reich, das ist kein abenteuerliches Leben. Und ich studierte Germanistik, weil ich dachte, die Welt wird durch Worte zusammengehalten, nicht durch Zahlen. Diesen Irrtum musste ich um das Jahr 2000 herum korrigieren.

Um einen thesenbetonten Artikel zu schreiben, biegen Journalisten nicht selten Fakten zurecht. Hast Du das auch schon getan?
Ich versuche Nein, aber ich fürchte Ja. Ich versuche die Sachen in meinem Kopf so lang wie möglich in der Schwebe zu halten und allen eine faire Chance zu geben, bevor ich schreibe. Wenn ich aber die Menschen um mich rum beobachte, dann gibt es sehr wenige Leute, die gegen ihre Vorurteile irgendetwas zur Kenntnis nehmen, und damit meine ich nicht nur Journalisten.
Von Zeit zu Zeit schreibe ich eine Zahl oder einen Namen falsch. Ich bin ja immer noch Legasteniker, und wenn ich mir mal etwas falsch gemerkt habe, dann bleibt das falsch. In der Schule ist jeder Aufsatz zurückgekommen mit dem Verdikt «Thema verfehlt» und «Rechtschreibung ungenügend».

Dein Artikel «Der rechte Abschied von der Politik» war mit vielen Tausend Likes, Shares und Tweets ein beispielloser Erfolg in den sozialen Netzwerken. Damit hast Du die Träume einiger Leser perfekt bedient: Die Rechte sieht endlich ein, immer falsch gelegen zu haben und gibt der Linken vollumfänglich recht. Ist der Text auch populistisch?
Diesen Text habe ich in einem Schwung geschrieben und er ist völlig unprofessionell lang geworden. Am Tag vorher hatte ich drei oder vier Folgen West Wing gesehen. Amerikanische Fernsehserien sind ja die Kunstform des 20. Jahrhunderts, ich dachte, ich will auch mal so schreiben wie ein Berater eines amerikanischen Präsidenten: mit der gleichen Präzision, mit dem Einsatz von Zitaten, mit ein wenig Pathos und mit ein bisschen Spin. Ich freue mich nach wie vor, dass so ein Langtext gegen alle Klischees erfolgreich war. Der ist schon populistisch, aber er hat auch etwas spielerisches drin.

Du hast, wie nachher auch Frank Schirrmacher, den Satz «I’m starting to think that the Left might actually be right» des britischen Konservativen Charles Moore aufgegriffen, der sich darauf unvollständig zitiert fühlte.
Er will es nicht so gemeint haben, aber dieser Satz war eigentlich das Sprungbrett für einen Bericht von 15.000 Zeichen. Auch wenn Charles Moore heute bei Mrs. Thatchers Gesundheit schwört, dass er die Sache nie so gedacht habe, hat er da etwas gefunden, das gestimmt hat.
Das Schöne am Schreiben ist, dass es ein gnädiges Gewerbe ist: Du wirst nicht für Deine Fehler in Erinnerung behalten, sondern für die Sachen, bei denen Du mal wirklich gut warst. Du kannst fünfmal etwas doofes schreiben und das sechste Mal etwas vernünftiges – und die Leute werden Dir zuhören.

Reden wir über die Schuldenkrise: In einem Kommentar auf meinem Blog hast Du mal geschrieben: «Es geht darum, einen intelligenten Kapitalismus zu erfinden – und das je nach Lage immer wieder neu.» Wie lautet die Lösung in der aktuellen Lage?
Ich bin mir sicher, jetzt wird dann gleich der Helikopter von Brüssel einfliegen und mich mitnehmen wegen dem, was ich sage. Trotzdem ein paar Gedanken. Erstens: Wie anders will man die Finanzmärkte beeindrucken als durch einen grossen, entschlossenen, kühnen Akt? Fast egal, was man tut, es braucht ein Zeichen grosser Entschlossenheit und keine Heftpflasterpolitik. Zweitens: Warum gibt es so wenige Politiker, die hinstehen und sagen «Wir haben wirklich etwas zu verlieren, wir haben wirklich etwas zu gewinnen, es wird Blut, Schweiss und Tränen kosten, aber wir machen das, das und das». Drittens: Wenn die Banken extrem schwach kapitalisiert sind, wenn die Binnenwirtschaft nicht läuft, wenn die Privaten sparen, wenn selbst grosse Konzerne, die auf riesigen Finanzpolstern sitzen, kein Geld ausgeben – wer denn zum Teufel soll es tun, wenn nicht der Staat? Wer soll sonst das System wieder aufstarten?

Aber es ist doch gar kein Geld mehr da.
Der Staat hätte durchaus Geld, bzw. die Zentralbanken können Geld drucken.

Das haben sie ja gemacht.
Ja, aber sie haben nur Pflaster geklebt. Sie haben nicht gesagt: So, und jetzt ersäufen wir das ganze System in Geld und dann machen wir dieses, jenes und das. Sondern sie haben immer im Nachhinein die grossen Löcher gestopft. Und sie haben nicht das verbreitet, was ja dieses grosse Geld ja kaufen sollte: die Zuversicht, dass es jetzt aufwärts geht, dass jetzt der Rubel wieder rollt, dass man jetzt wieder investieren kann, dass sich das lohnt.

Wenn der Kessel, auf dem Schuldenkrise draufsteht, explodiert, wenn Lehrer nicht bezahlt werden können oder Polizisten, dann haben wir Anarchie in Europa. Wird dann der Traum der Punks erfüllt sein?
Weniger Anarchie als Oligarchie: Es gibt immer noch eine stabile Schicht von sehr, sehr reichen Leuten, die in den letzten Jahrzehnten reich geworden sind. Die Macht würde von der Mitte nach oben verschoben. Es gäbe dann eine grosse Unterklasse – und Du wirst dazu gehören. Das hätte auch nicht das Element von Spass, das da ist, wenn man sich freiwillig in die Anarchie begibt.

Anonyme Zitate werden von Dir öfters verwendet. Auch wenn Du beteuerst, sie seien echt, können sie natürlich frei erfunden sein.
Das könnte sein. Aber ich kann es mir nicht leisten, Dinge zu erfinden und ich bin auch nicht gut darin.
Anonyme Zitate stammen oft von den Nummern 2 bis 5 der Hierarchie, die nicht offiziell reden dürfen und nur «off the record» etwas sagen. Das sind kluge Leute, die gerne diskutieren, deren Sätze es wert sind, zitiert zu werden. Doch wenn man ihre Aussagen konkret zuordnet, dann sind sie ihren Job los. Die Nummer 1 der Hierarchie darf zwar reden, aber tut das nicht; das weiss jeder, der schon mal ein Interview mit einem CEO gelesen hat.

Wenn ich Deinen Text über Markus Somm lese («Ein Prediger, von Gott verlassen» vom 26. November 2010), dann macht der doch nichts anderes, als der Weltwoche und der BAZ vorgeworfen wird. Er stützt eine zu Beginn gesetzte These, in diesem Fall: Somm ist mehr Prediger als Journalist, verändert die BAZ zum Schlechten. Und am Ende jubeln die Leser, weil sie mit ihren Mutmassungen bedient werden.
Ich schreib das Ding, um mir die Sache zu erklären, ob die Leser am Schluss jubeln oder fluchen, ist mir völlig egal. Das ist ihr Bier, nicht meins.
Wenn man über Somm nachdenkt, dann kommt man schon drauf: Der Typ ist ein Prediger, und zwar ein Strafprediger. Also einer der Mönche, die extremer sind als die extremsten Christen. Als Somm noch ein Linker war, war er linker als alle möglichen Linken und hat ihnen immer Inkonsequenz vorgeworfen. Dann geht er nach rechts und wirft wieder allen vor, dass sie inkonsequent sind. Das ist, was sich durch sein Leben zieht: Er liebt Diskussionen, die völlig ergebnislos abgebrochen werden, weil er grundsätzlich bei seiner Meinung bleibt. Nichtsdestotrotz kann er sie stundenlang führen. Das ist niemand, glaube ich, der von Erkenntnis getrieben wird, sondern von Mission. Der Ton in seinen Artikeln ist ja nicht «Ich versuche dieses oder jenes rauszufinden», sondern «Ich versuche dieses oder jenes zu verkünden».

Die Schweizer Medien arbeiten sich seit vielen Jahren am quotenträchtigen Christoph Blocher ab. Der Dauerskandalisierung hinzugefügt wurden nun Personen wie Roger Köppel oder Natalie Rickli. Mich langweilt das. Und Dich?
Von den dreien langweilt mich Blocher am wenigsten, weil er eine vitale Figur ist und mehrere Leben auf einmal lebt: Der erfolgreiche Familienvater. Der erfolgreiche Industrielle. Einer der abgefeimtesten Trickser, die auf dem Wirtschaftsplatz Zürich zu sehen waren. Ein populistischer Politiker. Ein Patriarch, der jetzt langsam alt wird und fällt. Jemand, der seine Zukunft hinter sich hat und einfach weiter machen muss, weil er keinen weiteren Plan hat. Das ist alles schon recht faszinierend und das macht an dieser Figur eigentlich ziemlich Spass.
Köppel fand ich sehr spannend, als er auf dem changierenden Weg zwischen links und rechts war, doch heute ist er niemand mehr, für den ich mich interessiere, ich sehe ihn nicht mehr mit Neugierde an. Es ist traurig, er war das grösste Talent seiner Generation, nun ist er langweilig geworden. Er macht im Grunde nicht mehr Journalismus, sondern Politik.
Rickli ist jemand, der eher aus dem Marketing kommt, sehr glatt ist, sehr schnell redet, sicher clever ist, aber eigentlich überhaupt nicht originell.
Aber es stimmt, Aussagen werden unnötig gepusht und viele Artikel sind Unfug und müssten nicht geschrieben sein. Andererseits: So viele alternative interessante Figuren in der Schweiz gibt es auch nicht, als dass man sie mit Schweigen hätte übergehen müssen. Das sind nun mal die Typen, die eine wichtige Rolle auf der rechten Seite spielen, natürlich verdienen die Aufmerksamkeit.

Welche Partei wählst Du eigentlich?
Eigentlich immer eine andere linksgrüne Partei, weil ich denke: Die das letzte Mal haben auch nicht wirklich die Stricke zerrissen. Meine eigentliche Sehnsuchtspartei wäre die FDP, weil meine politischen Vorstellungen eigentlich von anarchistisch bis liberal gehen. Nur ist die FDP so grottenmässig anders als die FDP, die ich mir vorstellen würde und die mal dieses Land mal klug, energisch, begeistert, umsichtig gegründet hat. Es wird wohl ein unerfüllter Traum bleiben, dass ich eines Tages FDP auf den Wahlzettel schreibe.

Wie geht es dem Schweizer Journalismus?
Es eine Situation wie bei der Swissair vor dem Grounding: Fundamentale Bedingungen im Markt haben sich geändert, es existiert noch kein wirkliches Geschäftsmodell, alles mögliche ist probiert worden, noch ist der Vogel nicht am Boden und es ist ein stolzer Vogel. Aber es ist klar, dass grosse Veränderungen kommen werden. Niemand weiss, welche, und niemand will es wirklich wissen.

Und wie unterscheidet er sich vom Journalismus in Deutschland?
Der deutsche Journalismus hat ein paar grossartige Supertanker. Und zuweilen ist er erstaunlich gravitätisch, einige Debatten werden in der Schweiz doch weniger moralisch und unangestrengter geführt. Die Hierarchie im Schweizer Journalismus ist auch wesentlich flacher, sowohl innerhalb der Zeitung als auch gegenüber den Prominenten. Es ist nicht so ein Spektakel, wenn einen die Leute empfangen, es ist aber auch nicht so ein Spektakel, wenn jemand gestürzt wird. In Deutschland wird jemand mehrfach in Scheiben geschnitten, damit sicher ist, dass er nie mehr aufsteht.

Und wie organisierst Du Deine Zitate? Du schleust ja in fast jeden Text welche ein.
Ich hab ein mieses Gesichtergedächtnis, ich hab ein mieses Namengedächtnis, ich hab ein klasse Zitategedächtnis.

Die Erinnerung spielt Dir da keine Streiche?
Kultur ist immer nur der Rohstoff für neue Kultur. Ich versuche, Zitate akkurat zu setzen, aber wenn sich dann mal irgendwas in meinem Kopf verändert hat und Lichtenberg in drei Formulierungen etwas anders gesagt hat, der Sinn aber stimmt, dann sehe ich kein riesiges Problem. Ich google je nach dem, aber viele Zitate sind da nicht zu finden.

Gehört zu einem Journalisten Kaffee, Alkohol, Zigaretten dazu?
Zigaretten sind der Rohstoff, Kaffee ist unverzichtbar, Alkohol ist mehr für den Abend, aber wahrscheinlich nur, weil wir alle Weicheier geworden sind gegenüber früher. Viele Journalisten heute trainieren ja über Mittag bei Kieser, gehen joggen oder ins Krafttraining. Zürich ist ja sowieso eine Fitnessstadt. Da der Rhythmus gestiegen ist, halten sich massenweise Leute fit, um im täglichen «rat race» zu bestehen.

Du rauchst lieber?
Ich will meinen Körper in Unschuld sterben lassen. Ohne Joggen, Yoga, Krafttraining und Marathon. Er soll nicht wissen, dass es etwas Böses gibt auf dieser Welt.

Günter Hack twitterte mal, er kenne «kaum Männer, die freiwillig (ausserhalb des Jobs (als Journalist)) Belletristik lesen». Gehörst Du auch dazu?
Nein, ich lese freiwillig Belletristik. Im Moment «Die rote Zukunft» von Francis Spufford über die sowjetische Gummiindustrie in den 1950er-Jahren. Kürzlich erst hab ich Tolstoj gelesen, «Anna Karenina», eine Wucht. Und dann gucke ich natürlich viele TV-Serien: Sopranos, Six Feet Under, West Wing, aber gerne auch charmante, herzliche Sachen wie Hung.

Die Gretchenfrage als Tagi-Mitarbeiter: Wie hältst Du es mit Bob Dylan?
Bob Dylan ist auf jeden Fall ein faszinierender Typ, Kollege Jean-Martin Büttner und Ex-Kollege Urs Bruderer sind hingerissen. Allerdings verstehe ich nichts von Musik, habe so gut wie keine Ahnung vom Popdiskurs und war auch nie einer von denen, die Angst hatten, die falsche Plattensammlung zu besitzen. Weil es gar keine Plattensammlung gibt. Ich bin als einer von wenigen Jugendlichen ohne Musik aufgewachsen und habe erst mit 16 erstmals freiwillig eine CD gehört (von den Beatles). Ich reagiere naiv auf Musik.

Das Gespräch mit Constantin Seibt wurde am 18. Juni 2012 in Zürich geführt.

Leserbeiträge

Alexandra 26. Juni 2012, 20:19

Habe kein Kommentar, nur ein Dankeschön für das herrliche Interview sowohl an den Interviewten als auch an den Autor!

maxen 27. Juni 2012, 13:08

Cool, sein Wissen und Können zu teilen, Tricks zu verraten. Vorbildlich! Sorgt für Qualitätsschub und -steigerung, wie über die Freie Software-Bewegung hinaus bekannt, vom Schweizer Uhrenmacher-Handwerk

Zitat [x]:‘Du kannst ein Hacker-[..]-Uhrmacher, wie die anarchistischen Uhrmacher im Schweizer Jura des 19. Jahrhunderts. Ihr oberstes Prinzip war ihre Autonomie. Sie waren ihre eigenen Herren und teilten solidarisch ihr Wissen untereinander. Diese Handwerkerethik war eine praktische Ethik, da sie durch ihre Praxis voneinander lernten.

[x] http://texte.datenteiler.de/die-anarchie-der-hacker-ebook

Mara Meier 28. Juni 2012, 11:48

Constantin Seibt: gut.

Aber, herrgottnochmal, man sieht den armen Kerli ja fast nicht mehr durch die dicken Schwaden Weihrauch, die in die Knie Gefallenen türmen sich tagi- und twitterhaft vor mir auf.; ich kann den Erlöser gar nicht sehen da vorne, wie er am Altar hantiert. Aus dem Weg, Unwürdige!

Oder anders: Nehmt die Fotos und die Interviews vom Bildschirm, und gebt mir seinen Namen in die Hand, der da steht über seinem Text, Schwarz auf Weiss. Gebt ihm seine Geheimnisse zurück!

Ich habe keinen Bock auf diese blöde Entzauberung. Bläh.