von Lothar Struck

Auf einer Glatze Locken drehen

Die Unverständlichkeit mancher Feuilleton-Texte ist nicht nur ein Problem des Schreibers, sondern auch des Rezipienten, der vermehrt nach schneller Erkenntnis sucht. Ein populäres Feuilleton wäre aber ein Widerspruch in sich.

„Und jetzt noch mal auf Deutsch“ schmetterte Fabian Baumann dem Feuilleton im Allgemeinen und drei Autoren im Besonderen entgegen: „Gewisse Kultur-Redaktoren unterstreichen ihre intellektuelle Brillanz gerne durch eine besonders gewählte, syntaktisch komplizierte und mit Fremdwörtern durchsetzte Sprache.“ Drei Beispiele führt er an: Zum einen Martin Meyers „Schuld und Bühne“, ein „Geschwauder“ ohne „Rücksicht auf Klarheit und Verständlichkeit“ und ein „Meisterwerk des pseudo-intellektuellen Obskurantismus“. Vieles spricht dafür, dass Meyers Feststellungen in Bezug auf die „Political correctness“, die Baumann als „angeblich“ bezeichnet, dem Kritiker nicht passen.

In Joachim Güntners „Niemand will die Hausfrau loben“ gefällt ihm die vermeintliche politische Ausrichtung nicht. Wenn Güntner über das „Hausfrauenbild“ referiere, fehlen Baumann die Hausmänner – ein Einwand, der zwar von emanzipatorischem Furor zeugt, aber haarscharf an der Intention des Artikels vorbeischrammt. Dass dann ausgerechnet Moritz von Uslars läppischer, vor Stereotypen und Fehlern strotzender Text (Gerhard Schröder ist nicht 1995 Kanzler geworden, sondern erst 1998) über einen Besuch bei dem Maler Georg Baselitz noch halbwegs Gnade findet, weil eine „gewisse ironische Distanz“ des Autors wahrgenommen wurde, ist erstaunlich. Als würde es nicht genug unernst-dauerironisierende Texte geben, die damit notdürftig ihre Bedeutungslosigkeit verschleiern.

Es wird gekürzt, wo es nur geht

Baumann mutmasst in seiner Polemik, die (vermeintliche) Ausführlichkeit der Texte diene nur dazu, den Platz zu füllen. Wer jemals Redakteure und freie Mitarbeiter dahingehend befragt hat, weiss, dass längst das Gegenteil der Fall ist: Es wird gekürzt, wo es nur geht. Längere Texte, die mit einer gewissen Gedankentiefe und damit natürlich auch gelegentlichen Abschweifungen daherkommen, gibt es im deutschsprachigen Feuilleton immer seltener. Die letzte Bastion („Die Zeit“) ist vor einigen Jahren sang- und klanglos gefallen. Man will dem eiligen Leser nicht mehr allzu viel zumuten. Das schlimmste Schimpfwort lautet „Bleiwüste“. Dabei spricht vieles dafür, dass der Meyer-Text in einer längeren Darstellung an Klarheit und Eindeutigkeit hätte gewinnen können und die ein wenig abrupte Wendung am Ende abgefedert worden wäre. Ausführlichkeit kann zur Verständlichkeit beitragen. Wobei man sich natürlich auf etwaige Gedankensprünge auch einlassen müsste. Im Übrigen ist Meyers assoziativer Text, den Baumann ob seiner Ausschweifungen kritisiert, in Times New Roman 12, Zeilenabstand 1.0, tatsächlich nur etwas mehr als zwei Seiten lang.

Die Klage über die fremdwortgespickte Ausführlichkeit hat eine grosse Tradition. Schon der Theater- und Literaturkritiker Alfred Kerr beklagte vor 100 Jahren die „Bandwurmsätze“ seiner Zeitgenossen. Dessen Intimfeind Karl Kraus zitiert Baumann sogar, wobei Kraus die „Journalisten“ als Feindbild hatte. Den Feuilletonisten behandelte er milder: „Mit den perfekten Feuilletonisten liesse sich leben, wenn sie es nicht auf die Unsterblichkeit abgesehen hätten. Sie wissen fremde Werte zu placieren, haben alles bei der Hand, was sie nicht im Kopf haben, und sind häufig geschmackvoll.“ Diejenigen, die Kraus da auf die Unsterblichkeit hinschreiben sieht, sind unter vielen anderen Autoren wie Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Egon Erwin Kisch und Kurt Tucholsky.

Krawallmacher im Feuilleton

Diese Qualität hat das deutschsprachige Feuilleton nach dem Krieg nie mehr erreicht. Die Teilnehmer der Gruppe 47, ein loser Schriftsteller-Verbund der sich 1947 in Deutschland konstituierte, wurde mit seinen politisch links-liberalen Protagonisten in den 1960er Jahren zur dominierenden publizistischen Kraft. Den aus den Feuilletons sukzessive verdrängten rechts-konservativen Kolumnisten weinte man berechtigterweise keine Träne nach. Das Bildungsbürger-Ideal, bis in die 1930er Jahre eine unsichtbare Klammer der Intellektuellen (auch derer, die es eigentlich ablehnten), hielt sich nur noch in der Nische Feuilleton. Im idealen Fall entstanden dort pluralistische Diskussionsräume (was man dann hochtrabend Diskurs nannte), die sich jenseits von tagesaktuellen Zwängen politischen, philosophischen, sozialen und ästhetischen Fragestellungen widmete. Inzwischen wird das Feuilleton insbesondere in Deutschland fast nur noch über eigens angestellte Krawallmacher, die in überpointierten Erregungen für eruptive, aber letztlich wenig ergiebige Skandalisierungen sorgen, wahrgenommen. Ansonsten hat längst das lieblos-mainstreamige Rezensions-Feuilleton Einzug gehalten, oder, in der Provinz, beschränken sich die „Kulturseiten“ auf die Übermittlung von Veranstaltungsdaten.

Insofern ist Baumanns gönnerhaft eingestreute Bemerkung zu Martin Meyer, dieser habe ein „sympathisch elitäres Kulturbild“ nichts anderes als eine inhärente Beschreibung dessen, was Feuilleton ist. Schliesslich handelt es sich bei den dort abgedruckten Texten nicht um Schulaufsätze mit üblicher Gliederung „Einleitung-Hauptteil-Schluss“ oder Bastelanleitungen für ein Modellflugzeug. Die graduelle Unverständlichkeit so manches Textes (ich nenne nur Karl-Heinz Bohrer und Jürgen Habermas; Bohrer verstehe ich fast nie) ist nicht nur ein Problem des Schreibers, sondern eben auch des Rezipienten, der nach allzu geschmeidiger, vor allem jedoch schneller Erkenntnis sucht.

Quadratur des Kreises

Gerade in Zeiten der öffentlich zugänglichen Enzyklopädien sollte es doch viel eher möglich sein, komplexe Inhalte nicht immer durch Erklärungen auf Vorschulfernsehniveau zu vermitteln. Der Wunsch nach einem egalitär formulierten Textgebilde, welches dennoch allumfassend bleibt, kommt der Quadratur des Kreises gleich. „Definieren Sie das Universum und geben Sie drei Beispiele“ wurde dies einmal verballhornend auf den Punkt gebracht. „Aber maximal 1000 Zeichen“ würde ein Redakteur heute ergänzen.

Das heutige Feuilleton steht längst unter immensem Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck. Die Feuilletonisten, die (vorübergehend) Aufnahme in das Massenmedium Fernsehen geschafft haben, betonen fast unisono, wie wichtig die vereinfachende Darstellung sei, um Erfolg zu haben – was auch immer das bedeutet. Der Reduktionismus, der sich dabei beispielsweise in der Literaturkritik eingegraben hat, schafft es nur noch die biographischen Daten des Autors eines Romans mit denen der Figur(en) abzugleichen und den Text nach den Authentizitäts-Kriterien abzuklopfen. Eine ästhetische, weitergehende Betrachtung findet kaum noch statt; aus Zeitgründen, wie man hört, denn der Stapel der ungelesenen Bücher wird ja nicht kleiner.

Das Internet als Chance

Als der NZZ-Redaktor Roman Bucheli kürzlich in seinem Artikel „Ein Leben nach dem Papier“ ausgerechnet das Internet als Möglichkeit für die Re-Vitaliserung des Feuilletons hin zu einer „Vertiefung des argumentativen Sachverstands“ skizzierte und die schlagzeilenträchtige Zuspitzung eher dem Print-Feuilleton überlassen wollte, schien dies derart abwegig zu sein, dass sich aus dem etablierten Betrieb nur eine Replik fand, die naturgemäss mit Buchelis Idee nichts anfangen konnte und ihr – salopp formuliert – ein stures „Weiter so“ entgegen schleuderte.

Der Kontrapunkt zum „egalitären“ Feuilleton wäre das „populäre“ – ein Widerspruch in sich. Natürlich bewegt sich der Feuilletonist auf einem schmalen Grat. Ich halte es aber nicht unbedingt für ehrenrührig, Fremdwörter wie „Dezennien“, „syntaktisch“, „Tribunalisierung“ oder „Obskurantismus“ zu verwenden. Unter Umständen können solche Bezeichnungen treffender sein als einfacher klingende Begriffe. Ich scheue auch davor zurück, vorschnell das Präfix „pseudo“ zu verwenden, wo es ein erneutes Lesen vielleicht auch tun würde. Und wenn Hubert Winkels zum Bachmannpreis und einer „potenziellen Ubiquität“ schreibt, ist da tatsächlich ein Musterbeispiel für die Phrasenhaftigkeit eines Textes zu bestaunen, dessen Schreiber sich im Distinktionsgewinn massiver Unverständlichkeit sonnt. Da sollte man dem Kaiser einfach sagen, dass er nackt ist. Aber ein „Feuilleton schreiben heisst auf einer Glatze Locken drehen“ schrieb der umtriebige Karl Kraus. Unklar bleibt, wessen Kopf dafür herhalten muss.