von Markus Schär

Vergangenheit verklären, Gegenwart verachten

Während das Jahrbuch «Qualität der Medien» eine Qualitätseinbusse der Schweizer Medien feststellt, blühen längst Alternativen im Netz auf. Die Autoren des Jahrbuchs erkennen den Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht und verklären die Vergangenheit.

Mein Reflex auf das Jahrbuch zur Qualität der Medien ist nicht eingeübt, wie ihn Nick Lüthi beschreibt: Ich habe erstmals die Urteilsverkündigung miterlebt – und mich spontan aufgeregt. Als die Medienwissenschaftler Mark Eisenegger und Kurt Imhof uns zum Fragen und ausdrücklich auch zum Streiten aufforderten, blieb es lange ruhig. Mir war schon während den Referaten eine kurze Frage durch den Kopf geschossen: In welcher Welt leben Sie eigentlich? Doch die Begründung wäre so lang ausgefallen, dass ich es bleiben liess.

Ich will aber auch nicht in der Schmollecke verharren und den Blick in den Spiegel verweigern, wie es uns Nick Lüthi vorwirft. Darum reiche ich meine Fragen hier nach, damit sich auch die Qualitätspäpste dem Spiegel stellen müssen. Ich enthalte mich aber jeglicher Wertung ihrer Arbeit. (Mit Kurt Imhof lässt sich, wenn es nicht gerade um Medienqualität geht, angeregt reden und auch gepflegt streiten – das will ich nicht gefährden.)

Vorerst die Fragen zur Frage: Wie lässt sich die Qualität von Medien werten und vor allem messen? Was taugt also die Methode des Jahrbuchs? Warum sprechen die Forscher beispielsweise der NZZ hohe Qualität zu, der NZZ Online aber nur mittlere – obwohl sich auf dem Web dieselben Inhalte finden, plus ein reiches Angebot an News, Blogs und Archivmaterialien? Diese gute Frage stellte an der Medienkonferenz eine junge, vermutlich betroffene Kollegin. Die Antwort lautete ungefähr, auf dem Netz fänden sich halt zusätzlich viele nicht vertiefende Elemente, die den Relevanzkoeffizienten drücken. Ich gebe zu, ich hörte nicht genau hin, denn ich schaute gerade auf dem iPad NZZ Online an. Ich fand einen einzigen nicht einordnenden Artikel, die journalistisch einwandfreie Berichterstattung über die Wahl ins Bundesgericht eine Stunde zuvor. Der – verlinkte – Hintergrund dazu war am Vortag zu lesen gewesen. Und die aktuelle Meldung stand am nächsten Tag in der Zeitung, abgehangen und deshalb mediensoziologisch wertvoller.

Wie messen die Forscher die Qualität der Weltwoche (mittel), für die ich arbeite? Sie werten – neben stichprobeweiser Analyse der Zeitungsartikel – in erster Linie die Frontseiten aus: Halten sie sich bei der Weltwoche nur an die drei Geschichten auf dem Cover? Oder nehmen sie grosszügig auch noch die Zeile über dem Titelbild mit den Stichworten zu drei bis vier weiteren Artikeln (von insgesamt dreissig bis vierzig) dazu? Machten sie sich je Gedanken darüber, dass sich ernste und deshalb meist schwere Themen dem Publikum nur anbieten lassen, wenn es auch noch etwas leichte, aber nicht minder gute Kost bekommt – die oft für sein Alltagsleben viel wichtiger ist? Die Titelthemen der aktuellen Ausgabe sind übrigens: die Analyse des Therapiestaates Schweiz, die Geschichte der Juden über Jahrtausende, die Kritik eines Vierteljahrhunderts Klimapolitik, dazu Sarrazin über Angela Merkel als mächtigste Frau Europas, Engeler über ein paar Jahrhunderte Familie von Wattenwyl und Milo Rau über Lenin (1870-1924). Sorry für so viel Oberflächlichkeit, Kurzatmigkeit und Einfalt.

Warum schelten die Forscher die Medien und damit auch das Publikum dafür, dass sie der Fall «Carlos» mehr interessierte als die Gripen-Debatte oder auch das Schwingfest? Wie angetönt, gilt alles, was für uns im Alltag wirklich wichtig ist, für die Forscher als irrelevant: Liebe, Sex, Familie, Ernährung, Gesundheit, Ausgehen, Hobbies, Sport, aber auch die ganz normale Arbeit – das wahre Leben halt. Ob je Gripen über die Schweiz donnern, betrifft niemanden im Geringsten ausser den bedauernswerten Berner Oberländern. Der Fall «Carlos» aber packte alle, weil sich an diesem Einzelfall (der kein Einzelfall ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiss) grundsätzliche Fragen abhandeln liessen, die sich alle stellen müssen, wenn nicht in der Familie, so doch im Land: Wie setzen wir die Regeln im Alltag durch? Wie gehen wir mit Tätern und Opfern um? Und, vor allem, wie gliedern wir auch schwierige Menschen in unsere Gesellschaft ein?

Als Kurt Imhof und ich Geschichte studierten, entdeckte sie, inspiriert von der Sozialanthropologie, wieder einmal die narrative Methode: Am repräsentativen Einzelfall lässt sich viel erkennen und vermitteln, weil wir Menschen nun mal in individuellen Geschichten denken, nicht in systemischen Gebilden. Gerade im Fall «Carlos» gab es zahlreiche Beiträge, die an diesem Fall Grundsätzliches abhandelten – wie sogar der Medienclub anerkannte. (Einige der fundiertesten und differenziertesten, also konträren Artikel stammten von meinem Kollegen Alex Baur, der den sozialisierenden Wert des Kickbox-Trainings als erster Journalist erkannte. Im Medienclub, zumindest solange ich zuschaute, fiel – wohl aus Rücksicht auf das zarte Gemüt von Weltwoche-Hasser Roger de Weck – der Name unseres Blattes nie.)

Und dann noch zur grossen Frage: In welcher Welt leben Medienforscher eigentlich? Dabei geht es für mich vor allem darum, dass Kurt Imhof und Mark Eisenegger nach meiner Erfahrung, ergo Meinung die Dialektik von Fragmentierung und Konzentration in den Medien völlig falsch sehen, nämlich die Vergangenheit verklären und die Gegenwart verachten, weshalb sie den neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit – ein super Forschungsthema! – nicht erkennen.

Was folgt, habe ich hier schon mal geschrieben, aber Kurt Imhof erzählt ja auch jedes Jahr dasselbe. Als ich in den Achtzigerjahren ins Berufsleben einstieg, gab es im Thurgau für 200’000 Einwohner noch acht lokale Tageszeitungen – als Sozi konnte ich bei keiner davon arbeiten. Jetzt gibt es noch eine Thurgauer Zeitung, die aus St. Gallen kommt, und das ist ein Fortschritt. Nur das krasseste Beispiel, weshalb: 1987 schafften wir eine historische Sensation für den Thurgau, die erste Abwahl eines FDP-Ständerats und die erste Wahl eines SP-Ständerats seit 1848. Der Verleger der Monopolblätter für Kreuzlingen, Weinfelden und katholisch Frauenfeld war aber ein Freund des Abgewählten. Das hiess: Für die Leser des Volksfreunds, des Tagblatts und der Volkszeitung gab es SP-Ständerat Thomas Onken jahrelang nicht. Heute kommt auch die SP-Nationalrätin mehr zu Wort, als sie etwas zu sagen hat. Und die Thurgauer Zeitung – die nicht bei mir nachfragte, als ich 1999 über Nacht als SP-Kantonalpräsident zurücktrat – schreibt wochenlang gut recherchierte Artikel über das Mobbing gegen den Gemeindeammann von Güttingen oder über die «Versuche mit nicht zugelassenen Medikamenten» in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. (Man wünscht sich nur noch die Einsicht, dass es vor der Zulassung von Medikamenten Versuche braucht.)

Das Blatt, das jetzt vorwiegend in St. Gallen entsteht, hat vor allem ein grosses Problem: Es ist zu gut. Meine 85-jährige Mutter kann sich zwar bis zu zwei Stunden damit verweilen, aber alle ihre Bekannten schnöden darüber. Denn sie finden im gehaltvollen, also dicken Blatt nicht mehr, was für sie ein Jahrhundert lang der Grund war, eine Lokalzeitung zu lesen: die Todesanzeigen, die amtlichen Mitteilungen, die Werbung für die Metzgete, allenfalls noch die Aufsätze über die Abendunterhaltung des Männerchors oder die Ausfahrt des Damenturnvereins (zumindest für die Beteiligten). Die Frage stellt sich also, für Publizistik-Professoren halt kaum mehr beantwortbar: Wer las eigentlich, als die Thurgauer Lokalzeitungen noch publizistisch wertvoll waren, die gescheiten Leitartikel von Jürg Tobler oder Oskar Reck?

Jetzt kann ich in Weinfelden statt einer Lokalzeitung, die meine Leserbriefe oft nicht abdruckte, nur noch die Thurgauer Zeitung lesen. Ich bin also gemäss Kurt Imhof gefangen im Monopol, wie zu Zeiten des Bierkartells, als es nur Weinfelder Bier gab. Mit Verlaub: Was für ein Unsinn! Die Lokalpresse ist zwar gebietsmonopolisiert – zum Glück. Aber die Medienlandschaft, auch lokal, ist fragmentierter denn je. Über den Männerchor und den Damenturnverein schreiben Gratisanzeiger mehr, als ich je wissen wollte (gewisse Publizistikprofessoren wollen sie subventionieren, obwohl sie von den Inseraten gut leben); die amtlichen Mitteilungen finde ich online, die TZ-Recherchen greifen manchmal sogar überregionale Blätter auf, und um den zwei Millionen teuren Kunstrasenplatz streite ich mit dem Gemeinderat auf Facebook – so erreiche ich mehr Leute als an der Gemeindeversammlung. Nur den Todesanzeiger, den wir 1985 bei einer Businessplan-Übung in der Journalistenschule erfanden, gibt es noch nicht.

Anderseits geniesse ich dank dem Web eine grössere Vielfalt als beim Bier, wo häufig auch Heineken drin ist, wo nicht Heineken draufsteht – auf einem Niveau des öffentlichen Diskurses, das so hoch ist wie noch nie. Nehmen wir als Beispiel das relevanteste Thema überhaupt, die Wirtschaftspolitik: In der thurgauischen Provinz bekomme ich dank den Blogs von Paul Krugman, Greg Mankiw oder Tyler Cowen die aktuellen Debatten auf höchster Ebene mit, und für das breite Publikum schreiben Kollegen wie Philipp Löpfe dort ausgiebig ab. Auf dem Blog Batz äussern sich einige der interessantesten Schweizer Ökonomie-ProfessorInnen mutig und klar, jederzeit in den Medien zitierbar. Auf dem geschmähten Newsnet (am unteren Rand der mittleren Qualität) denken zwei der gescheitesten Kollegen, «Finanz-und-Wirtschaft»-Chefredaktor Mark Dittli und Privatdozent Tobias Straumann, in ihrem Blog Never Mind The Markets nach, für ein Publikum, wie es die F&W oder der NZZ-Wirtschaftsteil nie hatten. Und mit dem wichtigsten Forum des Finanzplatzes, Inside Paradeplatz, zeigen Lukas Hässig und Claude Baumann, dass sich auch mit verlagsunabhängigem hochstehendem Journalismus Geld verdienen lässt (wie übrigens auch – auf einem anderen Spezialgebiet, das halt nur die Insider bewegt – die Kollegen von der Medienwoche).

Oder ein anderes, trauriges Beispiel: Über die Klimaforschung berichten in den traditionellen Qualitätsmedien ein halbes Dutzend Journalisten, was ihnen ihre Buddies in der Wissenschaft vorsagen. Wer sich über die aktuellen Debatten informieren will, muss die internationalen Blogs lesen, in der Schweiz einsam verbreitet von Manfred Messmer mit seinem Blog Arlesheim Reloaded. Die immer lautere und härtere Kritik der letzten Jahre hat dazu geführt, dass die Bibel der Klimaforschung, der IPCC-Bericht, jetzt in Frage gestellt wird.

Es ist halt – dank der Medienentwicklung – eine schlechte Zeit für Bibeln aller Art.

Leserbeiträge

Ursula Ganz-Blättler 30. September 2013, 09:44

Ich wollte nur eine Anmerkung beifügen, zur Berichtigung. Es gibt keine „individuellen Geschichten“. Geschichten sind immer systemisch … und zwar sind sie vernetztes Wissen. Individuen mögen „Profile“ haben. Aber eine Geschichte bekommen sie nur als soziale Wesen, in der Interaktion mit anderen.

Von daher ist für mich die Diskussion um die Zukunft der Öffentlichkeit nicht wirklich sinnvoll ohne den Einbezug von systemtheoretischen Überlegungen. Vergessen wir nicht, dass das Individuum eine (Neu-)Erfindung der Moderne ist. Wenn wir davon ausgehen, dass der aktuelle Medienwandel Vernetzungen schafft, die nicht nur auf individueller, kognitiver und, ja, rationaler Ebene zu erklären sind, bin ich dafür, Öffentlichkeit ganz neu zu fassen. Inklusive neue Datentransparenzen, die ja auch von „innen“ kommen können und gewollt sind. Weil gemeinsame Geschichte nur über geteiltes Wissen möglich ist. Und weil, wie gesagt, Geschichten eigentliche Wissenssysteme sind. Die einschliessen. Und ausschliessen.

Wir leben in (kleineren und grösseren) Erzählgemeinschaften. Nicht in „individuellen Geschichten“. Gerade Erzählgemeinschaften sind aber mit einem Öffentlichkeitsbegriff in der Tradition von Habermas schlecht zu fassen. Und schlecht auf ihre „Qualität“ hin zu überprüfen.

Als Beispiel: Wie sind oder wären Klatschblätter zu werten? Ihre Qualität besteht darin, Gossip-Netzwerke dauerhaft zu alimentieren. Und was wäre ein soziales Miteinander OHNE Gossip-Netzwerke 🙂

Aber eigentlich wollte ich nur anmerken, dass Geschichen NICHT individuell sind. Sie sind immer „larger than life“ und viel mehr als die Wahrnehmung dessen, was war.

Charlotte Heer Grau 01. Oktober 2013, 19:40

Ich hätte von einem Bundeshaus Journalisten mindesten etwas mehr sozial-politisches und medienkritisches Hintergrundwissen erwartet, nicht diesen populistischen, unbedarftem und trotzigen Hieb gegen Imhof/ Eisenegger und Co. – Und es macht wohl wenig Sinn, Ihnen die Replik von Eisenegger nahe zu legen. Aber vielleicht sprechen Sie Englisch und setzen sich mit der Kritik von Seymour Hersh. Darüber was Journalismus einmal war und wo er heute steht. Das ist nicht nur in den Staaten so, wir haben das gleiche Problem in der Schweiz.

http://www.theguardian.com/media/media-blog/2013/sep/27/seymour-hersh-obama-nsa-american-media

Alois Amrein 31. Oktober 2014, 20:51

Um die journalistische Qualität der WELTWOCHE zu beurteilen, brauche ich weder einen Medienrat noch einen Universitätsprofessor noch ein Jahrbuch. Das mache ich selber: oft unsachlich und tendenziös, manchmal interessant, nicht immer SVP-linientreu, oft schon. Miserables Internetportal, da nur für Abonnenten zugänglich. Ich war etwa 35 Jahre treuer Leser der WELTWOCHE, doch Köppel hat es fertig gebracht, dass ich das Blatt nur noch ab und zu lese, wenn es grad herumliegt. Dafür Geld auszugeben, kommt mir nicht im entferntesten in den Sinn.