von Nick Lüthi

Sie wacht über den Service public in Europa

Seit drei Jahren leitet Ingrid Deltenre (53) die Generaldirektion der Europäische Rundfunkunion EBU in Genf. Die ehemalige Deutschschweizer Fernsehdirektorin ist damit eine der obersten Lobbyistinnen für die Sache des Service public in Radio und Fernsehen. Deltenre hält das Modell gebührenfinanzierter Medien für unverzichtbar, weil der freie Markt nicht als Voraussetzung für Medienvielfalt und -freiheit tauge.

MEDIENWOCHE: Die Mission der EBU lautet, den Service public unverzichtbar zu machen. Worin sehen Sie die Existenzberechtigung von öffentlichem Radio und Fernsehen?
Ingrid Deltenre: Der öffentliche Rundfunk ist ein Platz, wo Informationen, Meinungen, Ideen und Werte präsentiert und diskutiert werden, die ein Land zusammenhalten. Diese Klammerfunktion ist in einer Zeit mit so vielen Kanälen extrem wichtig, damit die Leute einen Ort haben, wo man über das Gleiche informiert wird und gemeinsam an Ereignissen teilhaben kann. Wer eine lebendige Medienlandschaft haben will, kommt deshalb nicht um das öffentlich-rechtliche Modell herum.

Das ist eine sehr europäische Sichtweise. In den USA spielt der Service public im Medienbereich eine untergeordnete Rolle.
Ich glaube, der durchschnittliche Europäer, und insbesondere die Schweizer, dürften insgesamt besser informiert sein als die Amerikaner. Wir wissen besser, was in der Welt geschieht. Wer die amerikanische Medien kennt, würde gerne wechseln wollen. Kommt dazu: Die USA sind ein 240-Millionen-Markt. Deutschland als grösster europäischer Medienmarkt zählt 80 Millionen Einwohner. Der Markt als Voraussetzung, um ein vielfältiges und reichhaltiges Medienangebot zu finanzieren, ist in vielen kleineren Ländern, wie etwa der Schweiz, gar nicht vorhanden.

Dennoch wird die Legitimation der öffentlich-rechtlichen Medien auch hierzulande immer wieder infrage gestellt.
In Europa zweifelt kein Land daran, dass es einen Service public braucht. Wenn es heute Diskussionen gibt, dann geht es in erster Linie um die Finanzierung und um die Definition des Auftrags.

Wie stark greift die EBU in die Rundfunkpolitik der einzelnen Länder ein?
Da sind wir sehr aktiv. Wir haben mit der EU-Kommission ein Memorandum of Understanding unterzeichnet. Das gemeinsame Ziel ist es, die öffentlich-rechtlichen Medien so zu unterstützen, dass sie Leistungen erbringen können, die sie unverzichtbar machen. Von der EU wird vorausgesetzt, dass ein Mitgliedsstaat über einen unabhängigen und ausreichend finanzierten Service public verfügt. Für Beitrittskandidaten ist das ein Hebel. Deshalb sind wir sehr aktiv auf dem Balkan, und beraten dort die Regierungen und die Sender, um mit ihnen zusammen die Voraussetzungen zu schaffen für eine EU-Mitgliedschaft.

Sehr aktiv war die EBU auch in Griechenland nach der Schliessung des staatlichen Fernsehens. Was haben Sie da genau gemacht?
Wir hatten innert 24 Stunden die Unterschriften von mehr als 60 Generaldirektoren, die gegen die Schliessung protestierten, und überreichten sie dem griechischen Finanzminister. Gleichzeitig veranlassten wir die EU-Kommission und das europäische Parlament zu Reaktionen und sorgten zudem, dass das Fernsehprogramm über unser Satellitennetz verbreitet wird. Wir sind jetzt involviert im Aufbau des neuen Senders. Das neue Mediengesetz ist mittlerweile verabschiedet. Die Trägergesellschaft des neuen Senders ist gegründet und das Management und der VR sind gewählt. Wenn das Gesetz so umgesetzt wird – impeccable! Allerdings ist es damit noch nicht getan. Wir warten auf zusätzliche Garantien im Zusammenhang mit dem Leistungsauftrag und der Finanzierung.

Die EBU hat auch Mitglieder in Nordafrika. Wie stark waren Sie dort in den Aufbau von unabhängigen Medien involviert nach den politischen Umwälzungen?
Der ehemalige Chefredaktor des Schweizer Fernsehens, Ueli Haldimann, war in Tunesien aktiv um einen neuen Sender aufzubauen und die ersten freien Wahlen zu begleiten. Ich hab ganz bewusst ihn gefragt, weil die Schweiz eine lange Tradition hat mit unabhängigen Medien und als Vorbild gelten kann, wie man eine Wahlberichterstattung organisiert. Mit dem meist unerfahrenen Personal in Tunesien absolvierte Haldimann eine journalistische Schnellbleiche. Dabei ging es auch um ganz praktisch Fragen, wie man zum Beispiel ein Mikrofon richtig hält oder wie man Interviews führt.

Wie nachhaltig wirkt dieser Einsatz?
Am Ende ist es wichtig, dass wir Leute haben, die Arabisch sprechen und nicht nur Französisch. Deshalb fingen wir an, mit Institutionen wie BBC Media Action und der Deutschen Welle zusammenzuarbeiten. Die EBU bietet auch Ausbildungen an, nicht primär im journalistischen Bereich. Wir helfen Akademien aufbauen, aktuell gerade in Algerien. Dort geht es um Change-Management und Leadership, die gerade mit dem Medienwandel wichtig sind.

Die EBU tritt nicht nur als Beraterin auf, sondern ist auch selbst im TV-Geschäft aktiv. Inwiefern?
Ein gutes Beispiel, um die Palette unserer Aktivität zu zeigen, sind die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Moskau. Zunächst hatten wir im Namen unserer Mitglieder die Sportrechte erworben. In Moskau hat dann unsere Produktionsgesellschaft die ganze Fernseh- und Radioproduktion realisiert und wir waren auch für die Übertragung verantwortlich mit unserem Satelliten- und Kabelnetz. Bei anderen Veranstaltungen übernimmt die EBU aber nur einen Teil dieser Leistungen.

Wieso hat kein russischer Veranstalter die Leichtathletik-WM produziert?
Die internationalen Sportverbände möchten den TV-Zuschauern einen bestimmten Qualitätsstandard bieten können. Wenn jedes Mal ein anderer Sender produziert, ist keine Konstanz garantiert. Die EBU kommt vor allem bei mittelgrossen Veranstaltungen wie Leichtathletik, Schwimmen oder Reiten zum Zug.

Welches Gewicht kann die EBU bei den Verhandlungen um Sportrechte in die Waagschale werfen?
Das Gewicht sind die Mitglieder und die Qualität der Sender. Die EBU als Organisation führt nur die Verhandlungen, das Geld kommt aber von den Mitgliedern.

Das prominenteste Aushängeschild der EBU ist der Eurovision Songcontest. Der wird immer wieder von Skandalen und Skandälchen begleitet. Hierzulande wird er fast nur noch darüber wahrgenommen. Nimmt die Popularität des Gesangswettbewerbs ab?
Überhaupt nicht. Es gibt zwar immer wieder Schwankungen in der Popularität, aber im Moment befindet er sich in einem grossen Hoch. Wir zählten dieses Jahr mehr als 170 Millionen Zuschauer. Keine andere Unterhaltungssendung in Europa erzielt diese Werte. Aber die Popularität in den einzelnen Ländern hängt stark davon ab, wie die Selektionsphase ausgestaltet wird. Dann kommt es natürlich darauf an, ob ein Land dabei ist oder nicht.

Der Songcontest ist einer der wenigen Momente, wo Sie im Rampenlicht der Schweizer Medienöffentlichkeit stehen. In diesem Jahr mussten Sie gegen Ihren ehemaligen Arbeitgeber auftreten, als eine Band der Heilsarmee in Uniform für die Schweiz antreten wollte. Keine angenehme Aufgabe.
Ich habe einfach auf die Spielregeln hingewiesen. Ich mag eigentlich nicht gegen SRF auftreten, weil ich diesem Unternehmen so enorm viel verdanke. Den Verantwortlichen war eigentlich sonnenklar, was Sache ist. SRF ging wohl davon aus, dass die Heilsarmee sowieso keine Chance haben würde. Wenn unser Uniformverbot bereits im Vorfeld thematisiert worden wäre, hätten sie der Heilsarmee zu einer Popularität verholfen und so die Chancen auf eine Wahl gesteigert.

Abgesehen von dieser Episode ist es sehr ruhig geworden um Sie in den Schweizer Medien. Als SF-Direktorin war das ja anders. Geniessen Sie die Ruhe um ihre Person?
Bei SF hat der Medienrummel einfach dazugehört und jetzt gehört er eben nicht dazu. In dem Sinn ist das für mich kein Thema. Ich kann mich auf meine Arbeit konzentrieren und muss nicht noch eine Medienstrategie fahren. Das ist schon eine Erleichterung.

Welche Rolle spielt die Schweiz bei Ihrer Arbeit?
Die Schweiz ist für mich ein wichtiges Land, schliesslich hat die EBU ihren Hauptsitz in Genf. Aber für meine tägliche Arbeit spielt die Schweiz keine grosse Rolle.

Wieso nicht?
Weil die Schweiz im Medienbereich im Vergleich zu anderen Ländern eigentlich keine grossen Sorgen hat. Aber ich würde mir schon wünschen, dass die Schweiz aktiver würde, weil die SRG auch etwas zu sagen hätte.

Das Gespräch fand am 29. August in Zürich statt.