von Ronnie Grob

Der Erste, Beste, Eitelste

Roger Schawinski legt mit bald 69 Jahren eine mutige, gefühlvolle Autobiografie vor. Mit seiner aussergewöhnlichen Karriere hat er die Schweizer Medienbranche in fast allen Bereichen vorwärts gebracht. Schawinskis Kritiker und Neider müssen sich fragen, was sie ihm abseits von Oberflächlichkeiten entgegenzusetzen haben.

«Alles, was wir erdachten, war neu, spannend und manches sogar sensationell.»
Roger Schawinski, «Wer bin ich?», Seite 179.

Der kleine Radiopionier von damals hat heute in der Deutschschweiz die volle Medienmacht: Vorabdrucke, Interviews, Rezensionen seiner Autobiografie «Wer bin ich?», wo man hinschaut. Wer alle und jeden kennt, muss nicht betteln um besondere Aufmerksamkeit. Will er etwas zur Medienbranche loswerden, steht sein Hausmedium Persoenlich.com jederzeit bereit. Will er sonst was einbringen, so besitzt er immerhin zwei Radios und führt mehrere Talksendungen. Und sonst schreibt er eben mal wieder ein Buch. Um es zu präzisieren: Er hat die volle Medienmacht, was die Entfaltung seiner eigenen Person angeht. Im Teich der Schweizer Medien bleibt er ein kleiner, unberechenbarer, angriffiger Fisch, von den grösseren Tieren gefürchtet, aber auch gönnerhaft ignoriert.

Baden im Ganges

Das Buch hätte «ein strenges Lektorat benötigt», moniert der Tages-Anzeiger, und ja, einige Passagen hätten eleganter formuliert werden können. Doch so ist es dem Gesprochenen näher, und das passt perfekt zur Autobiografie von Roger Schawinski. «Die Leidenschaft bei ihm ist immer gross oder ganz gross», stellt ein davon völlig ermüdeter Jean-Martin Büttner fest. Und natürlich hat er recht: Schawinskis Leben ist einfach glamourös! Seine allererste Liebesnacht verbringt er im Hilton in Istanbul. Seinen ersten richtigen Artikel schreibt er über Hippies («Die blaue Blume von San Francisco» in der Weltwoche). Seine Matura erledigt er in wenigen Monaten, mit dem besten Notendurchschnitt aller Geprüften: 5,45. Seine Doktorarbeit über die Auswirkungen des Tourismus auf Entwicklungsländer verfasst er mit 27, als «einer der ersten Ökonomen, der sich ernsthaft mit dieser Problematik zu befassen schien». Für Jimmy Cliff besorgt er Gras im Autonomen Jugendzentrum AJZ. Und wenn er am Ufer eines weltbekannten Flusses steht, macht er nicht wie andere ein Foto und geht wieder. Sondern er steigt hinein: «Ich wagte sogar das rituelle Untertauchen im völlig verschmutzten Ganges, obwohl dies aus hygienischer Sicht natürlich grober Unfug war.»


Harald Schmidt liest Roger Schawinski (Video auf YouTube)

Mit den Erlebnissen des quirligen Reporters Roger könnte man mindestens so viele Bücher füllen wie mit jenen des Reporters Tintin. Der ewig junge und ewig neugierige Roger ist zwar nicht im Kongo und nicht in Tibet, aber in Amerika und fast überall sonst. Bricht in Grenada eine Revolution aus, ist Roger vor Ort – so wie er auch den Summer of Love in San Francisco miterlebt. Die Story, wie Schawinski mit einem Piratensender von Italien aus das Radiomonopol der SRG stürzt, hätte Hergé nicht besser erfinden können. Die Zeit bei Radio24 hat Schawinski, um es vorsichtig auszudrücken, positiv in Erinnerung:

Alles, was wir erdachten, war neu, spannend und manches sogar sensationell.

Auf dem Cover strahlt Schawinski sein durchschlagendes Gewinnerlächeln; es ist nicht verzagt, nicht überheblich, nicht verängstigend, sondern vielmehr stark und sicher. Das englische «firm» trifft es wohl am besten (fest, kräftig, stabil, beständig, haltbar, hart, knackig, kompakt, standfest, schlägt der Übersetzer vor). Überhaupt verkörpert Schawinski alle Eigenschaften des US-amerikanischen Lebensstils (siehe dazu auch die lesenswerte Rezension von Simone Meier auf watson.ch) Oder kennt jemand einen, der den pursuit of happiness gewissenhafter verfolgt? Schawinski glaubt an sich und seine Leistungen, will es immer bis ganz nach oben schaffen, verteidigt im Zweifel die Freiheit und hilft ganz selbstverständlich jenen, die nicht so «lucky» sind wie er. So hat er das landwirtschaftliche Gymnasium Liceo Agricola Radio 24 in Valdivia (Chile) gegründet und finanziert, wo «bisher weit über 2000 Schüler aus den unteren sozialen Schichten ausgebildet» wurden.

Sieben Täfelchen Schokolade

Rein finanziell hat sein Leben nicht besonders «lucky» begonnen, viele Erlebnisse seiner Jugend klingen nicht anders wie die von armen Einwandererfamilien überall. Auch heute noch trifft man sich in diesen Familien am Samstag, freut sich masslos über einen neuen Teppich, den man sich beim Rauchen abgespart hat und kauft am Kiosk eine Schokolade, um sie gerecht innerhalb der Familie aufzuteilen, «sodass jeder seine sieben Täfelchen erhielt» (Seite 21). Wie die Schawinskis damals hat auch eine syrische, irakische oder afghanische Familie in der Schweiz heute eine im Wohnzimmer schlafende Grossmutter und einen 22-jährigen Sohn, der in einer Krisensituation aktiv mithelfen möchte: Vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967 will Schawinski spontan nach Israel fahren und kommt immerhin bis nach Paris. «Ich musste sofort aktiv werden, wenn ich meine Selbstachtung bewahren wollte.»

Was einem gelingen kann, der seinen Fähigkeiten und seinem Glück fast grenzenlos traut, hat Schawinski eindrücklich bewiesen. Als Oppositioneller aus bescheidenen Verhältnissen hat er die Medien dieses Landes in den letzten 40 Jahren so stark bewegt wie Christoph Blocher die Politik. Für Blocher findet er auch warme Worte, privat sei der nämlich «differenziert, gut informiert, witzig und angenehm». Warum er die Politik seiner SVP ablehnt, steht im Buch.

Toleranz fehlt vielfach bei jenen Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass sie aufgrund von unerwarteten Ereignissen auch einmal in die Position des Schwächeren geraten können.

Wer den beiden wettbewerbsorientierten Männern etwas entgegensetzen will, musste sich schon immer gewaltig anstrengen, und muss es heute noch. Schön zu lesen sind darum die Seitenhiebe auf Weggefährten, so auf jene, die heroisch gegen den Kommerz redeten, nur um etwas später selbst reich zu werden mit kommerziellen Aktivitäten. Und auf die Bürokraten und die Konservativen, deren Lebensleistung daraus besteht, Projekte und Entwicklungen verhindert und verzögert zu haben. Den «Gegenspielern» ist ein ganzes Kapitel gewidmet, und weil das nicht ausreicht, um die vielen Menschen aufzulisten, mit denen Schawinski im Streit war, gibt es mit «Weitere Gegenspieler» gleich noch ein zweites. Subjektiv rekapituliert werden Gegner von Niklaus Meienberg bis Armin Walpen – besonders unterhaltsam sind die fast vier Seiten über Frank A. Meyer. Bei einigen ist Schawinski gar nicht mehr so richtig klar, warum genau er sie bis aufs Blut bekämpft hat oder warum sie mit ihm gebrochen haben (bei Markus Gilli aus Sicht Schawinskis: «als Folge eines nichtigen Zwischenfalls»). Was bei anderen teilweise tiefe Wunden zu hinterlassen haben scheint – Schawinski hat’s vergessen, verdrängt oder entschieden, nach vorne zu blicken.


«Giacobbo/Müller» 2008 mit einem fiktiven Gespräch zwischen Frank A. Meyer und Roger Schawinski (Video auf srf.ch)

Zu Schawinskis grossen bekannten Stärken zählen Mut, Intelligenz, Tempo, Charme und Intuition. Eher unbeachtet dagegen bleibt seine ausgeprägte Sensibilität, die sich im Positiven durch Einfühlungsvermögen und grosse Gefühle äussert (im Buch fliessen sehr viele Tränen, meistens bei Schawinski selbst), und im Negativen durch Mimosenhaftigkeit und Empfindlichkeit. Man möchte ihm zurufen: Roger, jetzt nimm doch nicht immer alles so persönlich! Doch hätte er seinen Weg gemacht, wenn er den Ereignissen gegenüber gleichgültig geblieben wäre? Nein. Es ist mutig von Schawinski, seine Gefühle in einer Autobiografie offenzulegen, eine weitere Pioniertat in dieser Branche der distanzierten Eitelkeit. In der man auf öffentlich gemachte Kritik vornehmlich mit grosser persönlicher Betroffenheit reagiert. Und dann öffentlich behauptet, sie gar nicht wahrgenommen zu haben.

Number One

In Sachen konfrontative 1:1-Interviews kann dem gerne unbequem und unangenehm auftretenden Schawinski keiner das Wasser reichen, auch im deutschsprachigen Ausland kommen einem höchstens die Frühversionen von Friedrich Küppersbusch oder Michel Friedman in den Sinn. Er hat den Mut, den jeder Journalist in sich tragen oder wenigstens anstreben sollte: nämlich unerbittlich ehrlich zu sein, zuerst gegen sich selbst, und dann gegen alle anderen. Allzu ehrliche Menschen sind generell eher unbeliebt, weshalb jene, die verehrt werden möchten, sich gerne damit begnügen, einen rechtschaffenen Eindruck zu hinterlassen und es verstehen, im richtigen Moment zu schweigen – welches Modell das narzisstischere ist, sei dem Betrachter überlassen.

Die grosse, allseits bekannte Schwäche von Roger Schawinski ist die Eitelkeit. Sie hindert ihn manchmal daran, souverän zu sein (was ihn sympathisch macht). Und sie hindert ihn manchmal daran, zuzuhören (was die Qualität beeinträchtigt). Viktor Giacobbo schreibt im Kapitel «Die Sicht von Aussen»:

Das ist er: Brillante Number One auf allen Ebenen, aber beim Zuhören höchstens auf Platz vierezwänzg.

Schawinski geht pickelhart immer auf das Persönlichste, seine Standard-Eröffnungsfrage «Wer sind Sie?» ist das Programm seiner Fragetechnik. Das Erstaunliche dabei ist das auseinanderdriftende Selbst- und Fremdbild: Während er keine Hemmungen hat, alles herauszukitzeln, was ein anderer verbergen möchte und andere munter bewertet, einstuft und kritisiert, so ist er geradezu empört, wenn das jemand bei ihm tut oder versucht. Es fällt ihm offensichtlich ausgesprochen schwer, Fremdbilder von sich zu akzeptieren. Sein Selbstbild dagegen ist bis auf wenige temporäre persönliche Krisen intakt und geschlossen. Der staunenden Öffentlichkeit wird es gerne und bei jeder Gelegenheit vorgeführt, die Publikation einer Autobiografie konnte deshalb kaum jemanden überraschen. Keith Richards hat doch auch eine geschrieben.

Fulltime-Job Schawinski

Roger Köppel erklärte kürzlich in einer Homestory der «Schweizer Illustrierten» lachend, er sei «schon mehr als froh», dass es seine Frau «überhaupt mit ihm, dem Egozentriker, aushalte». Und was macht die Frau von Roger Schawinski, gemäss Roger Schawinski? «Sie verfolgt seit Jahren das ganze Leben von Roger Schawinski zu Hause, sie verfolgt die TV-Sendungen, die Radio-Sendungen, die Kolumnen. Das ist für sie beinahe ein Fulltime-Job, erklärt sie mir immer.» Dass die beiden mit dem grossen Sendungsbewusstsein wöchentlich bei «Roger vs. Roger» gegeneinander antreten, ist nicht verwunderlich. Mit verbissenem Eifer kämpfen sie mit dem ebenbürtigen Gegner um Sendezeit, um Argumente, um Meinungsführerschaft – und ein bisschen ist es natürlich auch Sparring-Training, für die wirklich wichtigen öffentlichen Diskussionen.

Schawinski wird einen unsouveränen Umgang mit Fremdbildern mit Sicherheit bestreiten und behaupten, dass es ihm um nichts mehr als die Fakten geht. Klar. Die Welt aus der Sicht von Schawinski sieht nun mal ganz anders aus. Wer kritisch über ihn schreibt, kann nach Angaben vieler Journalisten die Uhr stellen, denn etwa um 7:30 Uhr morgens (Zeitungsartikel) oder nach Eintreffen des Google Alerts ruft ein aufgebrachter Roger Schawinski an, der sofortige Richtigstellungen liefert und fordert. Mich hat er noch nie angerufen, was daran liegen könnte, dass ich noch nie besonders kritisch über ihn geschrieben habe. Aber muss ich das denn? Es kritisieren ihn doch schon so viele andere. Meistens solche, die selbst die Welt kaum je mit etwas Eigenem oder Neuem bereichert haben. Eine Schweizer Medienlandschaft ohne den Einfluss von Schawinski möchte man sich gar nicht vorstellen; sie wäre steif, rückständig, obrigkeitshörig, grau, verstaubt, vielleicht ein bisschen so wie in Österreich.


«Giacobbo/Müller» vor dem Start von «Schawinski» 2011 (Video auf srf.ch)

Ein Wirtschaftsverband wie Economiesuisse sollte, statt mit Millionen von Franken Abstimmungen zu beeinflussen, das Geld besser investieren in die Frage, wie Unternehmer wie Schawinski entstehen können. Immerhin hat Schawinski locker bewiesen, dass einiges, vom dem der Staat behauptet hat, ausschliesslich dafür zuständig sein zu können, auch von der Privatwirtschaft erledigt werden kann. Erstaunlich viele der aktuellen Aushängeschilder des Schweizer Fernsehens wurden von ihm entdeckt und gefördert, hinzu kommen aktive Chefredaktoren wie Markus Gilli, Matthias Ackeret oder Peter Röthlisberger (hier eine Auflistung).

Wo sind die Schawinskis von heute? Wer ist ihr Mentor? Wer gibt ihnen Geld, Macht, Führungspositionen? Auf Seite 242 steht:

Jedes meiner Projekte zog eine ganz bestimmte Gruppe von Leuten an, die das Abenteuer suchten. Es waren junge Menschen, die bei einem vielversprechenden neuen Medium unbedingt von Anfang an dabei sein wollten.

Watson könnte so ein Projekt sein. Nicht wenige talentierte Journalisten haben dafür ihren vermeintlich sicheren Job aufgegeben, denn der Raum für Neues innerhalb der etablierten Medienmarken ist eng. Der stetige Abbau klassisch journalistischer Stellen hat zu erstarrten Führungspositionen geführt, zu einer Riege von Mittelalten und Alten, die nicht bereit sind, Macht abzugeben. Oder kennt jemand einen, der mit 26 SRF-Reportagen aus Argentinien und Chile machen darf, mit 28 ein TV-Magazin gründen darf («Kassensturz») und mit 31 eine von Gottlieb Duttweiler gegründete Zeitung neu lancieren darf («Tat»)? Eben. Schawinski durfte.

Was wird der nächste «Turning Point»?

Lesenswert sind vor allem Anfang und Schluss des Buchs, hinein gehört aber natürlich auch die genaue Auflistung der vielen in diesem Leben durchgeführten Projekte. Im letzten Kapitel («Und nun?») wird es nochmals richtig persönlich. «Ich glaube an die grosse Liebe» und «Ich denke oft an die Menschen, die ich vermisse» schreibt er da, und stellt fest, dass sich sein Leben bisher alle sieben Jahre geändert habe. Und er fragt, neugierig wie ein junger Hund, welcher «turning point» ihm nun mit 70 als nächstes bevorstehe.

Wie wär’s mit dem Abenteuer Internet, Roger Schawinski? Viel mehr als mit Radio1 ist dort auch nicht zu verlieren.

– Roger Schawinski: Wer bin ich? Kein & Aber, 415 Seiten, Fr. 39.90
MEDIENWOCHE-Interview mit Roger Schawinski von 2012