von Nik Niethammer

Aufmerksamer Innenminister, selbstbewusster Aussenminister

Die zeitgleiche Entlassung des Spitzenpersonals bei New York Times, Le Monde und Wirtschaftswoche wirft wieder einmal die Frage auf: Was macht heute einen guten Chefredaktor aus? Unser Kolumnist mit Erfahrung auf verschiedenen Chefsesseln zeichnet ein anspruchsvolles Idealprofil.

Es gibt Sätze, die gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Der CEO eines grossen Verlagshauses riet mir bei meiner Entlassung, ich solle das nicht persönlich nehmen. Ein Chefredaktor sitze nun mal auf dem Schleudersitz. Es könne jeden treffen. Jederzeit. Mit seinem Ratschlag kam ich eher schlecht zurecht – was bitteschön soll man denn dann persönlich nehmen, wenn nicht die Entfernung aus einem Job, für den man brennt. In einem Punkt hatte der Verlagsmanager allerdings recht: der Chef einer Zeitung sitzt auf der Raketenspitze. Sicher, es gibt Schmerzensgeld, Privilegien, Ansehen. Aber es bleibt ein ziemlich heisser Ritt.

Kürzlich wurden gleich drei Chefs von grossen Titeln aus ihren Sesseln geschleudert. Was haben die Fälle gemeinsam? Was lernen wir daraus? Und was macht einen guten Chefredaktor aus?

Jill Abramson war die erste Frau an der Spitze der renommierten «New York Times». Sie galt als Hoffnungsträgerin, besetzte die wichtigen Ressorts mit neuen Leuten, etablierte einen Newsroom für Print und Digital, stärkte beim Traditionsblatt den investigativen Journalismus. Durchaus mit Erfolg, die Auflage stieg, die Finanzen stabilisierten sich. «Aus meiner Sicht ist es besser, über Lob und Anerkennung zu führen, als über Angst und Befehle», erklärte sie vor zwei Jahren dem Medienmagazin «Persönlich» ihren Führungsstil, «ich glaube, ich bin eine kollegiale Chefin.» Viele Redaktoren hatten eine andere Wahrnehmung, Abramson galt als halsstarrig und herablassend, sie wirkte unnahbar, gefühllos. So überraschte ihr Rauswurf durch Verleger Arthur Sulzberger Jr. nur wenige – und schockierte trotzdem. Eine Stunde nach der Entlassung war ihr Name aus dem Impressum gelöscht.

Ähnlich turbulent verlief der Weggang von Chefredaktorin Natalie Nougayrède beim französischen Traditionsblatt «Le Monde». Nachdem sich zuvor sieben Mitglieder der Chefredaktion geweigert hatten, weiter unter ihr zu arbeiten und kollektiv zurücktraten, warf die 46-Jährige entnervt das Handtuch, nicht ohne ihre Gegner als «Putschisten» zu beschimpfen. Zum Verhängnis wurde Nougayrède mangelnde Führungserfahrung und ein katastrophaler Kommunikationsstil. So erzählte sie bei jedem öffentlichen Auftritt, dass sie die linksliberale «Le Monde» zum «weltweit führenden frankophonen Medium» machen wolle, blieb ihren Mitarbeitern aber die Antwort schuldig, wie sie das zu erreichen gedenke.

Die Abberufung von Roland Tichy als Chefredaktor der deutschen «Wirtschaftswoche» vor knapp einem Monat endete mit Tränen auf den Redaktionsfluren. Und erstaunte die Branche deshalb, weil das Blatt trotz stark rückläufiger Verkäufe schwarze Zahlen schreibt. Tichy, der durch die St. Galler Professorin Miriam Meckel ersetzt wird, sei am Machtkampf mit Handelsblatt-Geschäftsführer Gabor Steingart gescheitert, sind sich Beobachter einig.

In vielen Redaktionsstuben herrscht Flugwetter. Die Branche ist nervös, die Absätze sinken, die Suche nach neuen Erlösquellen ist wie Stochern im Nebel. Da wirkt der Rauswurf des Übungsleiters wie ein Befreiungsschlag. Denn die Anforderungen und Erwartungen an einen Chefredaktor sind heute ungleich anders. Als ich in den 80er Jahren in den Journalismus einstieg, erlebte ich meinen ersten Chef als eine Art Vaterfigur. Er war Respektsperson, fürsorglicher Lehrmeister und Vorbild zugleich. Nie werde ich vergessen, wie ich mit ausgedrucktem Manuskript vor seinem Büro wartete, hereingebeten wurde und mit klopfendem Herzen sein strenges Urteil entgegennahm: «Guter Ansatz. Aber das kannst Du besser.»

Die wichtigste Erkenntnis später als Chefredaktor war diese: es reicht nicht, von Ausgabe zu Ausgabe gute Arbeit abzuliefern. Gefragt sind Management-Qualitäten. Gutes Sitzfleisch. Und eine Extra-Portion Gelassenheit. Fordert die Redaktion weniger Sitzungen, beklagt sie umgehend die fehlende Kommunikation, wenn ich Sitzungen streiche. Präsentiere ich vor dem publizistischen Ausschuss, kann es passieren, dass ich von einem Mitglied dermassen ausgepfiffen werde, dass mir der Verleger hinterher mit tröstenden Worten wieder auf die Beine helfen muss. Antworte ich nicht sofort auf eine Leserzuschrift, werde ich im Netz als Ignorant verschrieen. Und ein Shitstorm zieht auf. Das alles und vieles mehr muss ich als Chef aushalten können.

Was macht heute einen guten Chefredaktor aus? Im besten Fall ist er aufmerksamer Innenminister und selbstbewusster Aussenminister, eine Marke, präsent auf allen Kanälen. Mutig, risikofreudig, visionär, kein Fortschritts-Pessimist. Die Frage «Könnt ich dafür Ärger kriegen?», existiert für ihn nicht. Er kommuniziert klar, entscheidet schnell und direkt. Ein guter Chefredaktor überprüft laufend die Identität seines Produktes, schärft das Profil, entwickelt es weiter. Er ist meinungsstark, auch mal ruppig, aber nie verletzend. Und nah bei den Menschen. Ein guter Chef ist uneitel, jammert nicht, denkt strategisch, kann Menschen begeistern, sich durchsetzen. Seine To-do-Liste ist länger als seine Not-to-do-Liste. Er ist der erste Journalist im Haus, verbiegt sich niemals, stellt sich immer vor seine Redaktion, hat ein realistisches Selbstbild. Idealerweise verfügt er über Humor, denn das hilft (fast) immer. Und er tut das, was er tut, mit Leidenschaft. Er pflegt sein Beziehungsnetz, auch zum Verleger, er nimmt Hilfe an, fragt nach Führungstraining und Coaching. Und er kennt den Leitsatz: Umarme Deinen Feind – wenn es nicht anders geht.

Ein herausragender Journalist ist nicht automatisch ein guter Chef. Das mussten Abramson, Nougayrède und Tichy schmerzvoll erfahren. Eine Entlassung aus welchen Gründen auch immer ist ein dramatischer Lebenseinschnitt. Jeder geht damit anders um. Ich habe mich damals aufs Rad gesetzt und bin meine Hausstrecke in neuer Rekordzeit gefahren. Jill Abramson ging in den Boxkeller und bearbeitete einen Sandsack. Das Foto stellte ihre Tochter auf Instagram. Später wurde sie von Studenten nach dem auf ihrem Rücken tätowierten «T» aus dem Schriftzug der «Times» gefragt. Dieses werde sie sich auf keinen Fall wegmachen lassen, sagte Abramson trotzig.

Leserbeiträge

Tom 03. Juni 2014, 10:04

Sehr treffend geschrieben. Die Zeilen lassen sich gut auch auf andere Chef-Rollen übertragen. Als Chef ist Mann/Frau oft der einsamste Mensch. Wer geliebt werden will ist bereits auf dem Holzweg. Anerkennung findet man oft ausserhalb des Unternehmens, am Beispiel Chefredaktor bei den aufmerksamen Lesern. Ob das dann dem Verleger auch genehm ist steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Der Verleger kann je nach Beispiel auch die Geschäftsleitung, der Marketingchef oder die Leiterin Vertrieb sein. Den idealen Chef gibt’s wohl nicht – aber Persönlichkeiten welch diese Rolle innehaben.

Stephan Wiessler 15. Juni 2014, 10:12

Ja, heute in unserer schnelllebigen und bedrückenden Zeit muss jeder schauen wo er bleibt.
Konkurrenzkampf pur.