von Adrian Lobe

Eine Lektion nicht nur für die Grey Lady

Vor wenigen Tagen wurde der «Innovation Report» der New York Times publik. Beobachter feiern das Papier bereits als «eines der Schlüsseldokumente unseres Medienzeitalters». Was können Verlage in Deutschland und der Schweiz daraus lernen?

Die New York Times durchläuft derzeit heftige Turbulenzen. Erst hat der Verleger die Chefredakteurin Jill Abramson entlassen, dann fand ein internes Dokument zur digitalen Zukunftsfähigkeit der Grey Lady den Weg an die Öffentlichkeit. Ein achtköpfiges Team um Arthur Gregg Sulzberger, dem Sohn des Eigentümers Arthur Sulzberger Jr., sollte die Herausforderungen und Chancen des Medienwandels analysieren. Über 200 Interviews mit Mitarbeitern und Konkurrenten wurden geführt. Herausgekommen ist ein 96 Seiten langer «Innovation Report», der ein kritisches Bild zur Zukunftsfähigkeit des Weltblatts zeichnet.

«Die Realitäten eines überfüllten Internets und einer zersplitterten Mobilwelt machen es notwendig, dass wir immer stärkere Anstrengungen unternehmen müssen, unseren Journalismus zu den Lesern zu bringen», heisst es darin. Doch wie bringt man in einer immer unübersichtlicheren Digitalwelt qualitativ hochwertigen Journalismus an die Leser?

Der Bericht präsentiert drei Lösungsansätze: Entdecken, bewerben und vernetzen.

Entdecken Die altehrwürdige New York Times sitzt auf einem Schatz: Im Archiv der Zeitung lagern über 14 Millionen Artikel seit 1851. Dieser Schatz wartet darauf, gehoben zu werden. Wie das gehen könnte, hat die Redaktion schon mal gezeigt. In der Oscar-Nacht twitterte die Times einen 161 Jahre alten Bericht über Soloman Northup, dessen Erinnerungen die Grundlage für den Film «12 Years a Slave» schufen. Der Artikel verbreitete sich in Windeseile über soziale Netzwerke. Warum also nicht vermehrt alte Beiträge ausschlachten? «Sie haben einen grossen Vorteil», wird Henry Blodget, Gründer der Newswebsite Business Insider, in dem Bericht zitiert. «Sie haben eine riesige Menge an hochwertigen Content, für den Sie eine dauerhafte Lizenz haben.» Auch Buchrezensionen, die nicht an die Aktualität gebunden sind, liessen sich wiederaufleben. Die NYT will gemäss dem Innovationsbericht zudem Inhalte besser auf die Bedürfnisse des Publikums zuschneiden. Zum Beispiel könnte man dem Nutzer der Smartphone-App mitteilen, wenn er gerade an einem Restaurant vorbeiläuft, das die Times kürzlich getestet hat. Dies setzt Ortungsdienste und die Auswertung von Metadaten voraus. «In einer Zeit, in der beinahe 60 Prozent unserer Leser uns über Mobilfunkgeräte erreichen, fehlt es uns an einer Möglichkeit, Content zu liefern, der für den Standpunkt relevant ist, weil wir Storys nicht mit geografischen Koordinaten versehen», heisst es im Innovationsreport.

Bewerben Die Redaktion der New York Times sah sich lange als erlauchter Kreis von Edelfedern, die inhaltlich und stilistisch anspruchsvolle Stücke verfassten. Es galt der Grundsatz, dass Journalisten schreiben und nicht für sich werben. Doch das Selbstbild hat sich gewandelt. Der Report erkennt an, dass die Konkurrenz in der Vermarktung ihrer Artikel um Längen voraus ist. «Unternehmen wie die Huffington Post oder BuzzFeed haben in nur wenigen Jahren unseren Traffic in den Schatten gestellt», konstatiert der Bericht. Gut schreiben allein reicht heute nicht mehr – Redaktoren müssen PR in eigener Sache betreiben. Selbst die stiftungsfinanzierte Investigativ-Plattform Pro Publica, die gemeinhin als Bastion des «Old-School»-Journalismus gilt, verschliesst sich diesem Marketing-Gedanken nicht. Die Pro-Publica-Reporter müssen zu jeder Story fünf Tweets absetzen. Die New York Times hat diesen Trend verschlafen – und räumt dies in ihrem Bericht freimütig ein. Jeden Tag produziert die Times 300 neue URLs, doch mangels kohärenter Online-Strategie versandet wertvoller Content, wenn diese nicht adäquat beworben werden. Die Twitter-Accounts der Redaktion (@nytimes, @nytworld etc.) werden vom Newsroom gemanagt, der Facebook-Account vom Verlag. Die alten Print-Veteranen fremdeln mit den neuen Technologien. So soll der neue Chefredakteur Dean Baquet noch nie einen Tweet abgesetzt haben. Doch ob sie will oder nicht – die alte Dame muss auf den Laufsteg. Und das heisst: Die Renommierstücke müssen in Social Media zur Schau gestellt werden. Die New York Times will dabei auf seine Influencer setzen, Markenbotschafter, die über grossen Einfluss in sozialen Netzwerken verfügen. Kolumnist Nicholas Kristof hat auf Twitter fast 1,5 Millionen Follower. Das sind alles potenzielle Leser.

Vernetzung Die New York Times wird von den mächtigsten Menschen der Welt gelesen. Sie ist eine Marke. Und das ist gleichsam ihr Kapital. Dies gilt es nun im Internet zu nutzen. Konkurrenten füllen ihre Inhalte mit gesponserten Artikeln (Native advertising z.B. bei Forbes) oder Nutzerbeiträgen (z.B. medium.com). Bei der Times ist das Thema «User-generated content» ein zweischneidiges Schwert. Für die Times zu schreiben gilt als Ehre, und das Blatt von Weltansehen soll nicht zu einer Postille verkommen, in der jeder Dahergelaufene seine Meinung kundtun kann. Diesen elitären Habitus will das Haus behalten und auch kultivieren. «Wir erhalten täglich Dutzende Op-Ed-Einreichungen von renommierten Denkern und Führungspersönlichkeiten, von denen wir nur einen Teil veröffentlichen können. Ein Teil davon ist Qualitätskontrolle. Aber in vielen Fällen folgen wir den Zwängen von Print», heisst es. Nun will die Times ihren Meinungsteil online stärker ausbauen. An namhaften Autoren, die einen Gastbeitrag für 150 Dollar publizieren, wird es sicher nicht mangeln.

Die Veröffentlichung eines Artikels ist nicht das Ende wie im Print, sondern erst der Anfang der Story und dessen Fortentwicklung. Das ist die zentrale These des Reports. Und darin liegt auch sein innovativer Charakter. «Es ist essentiell damit anzufangen, unsere print-zentrierten Traditionen in Frage zu stellen, eine umfangreiche Bewertung unserer digitalen Bedürfnisse durchzuführen und den Newsroom der Zukunft vorzustellen», heisst es in dem Bericht. Der Innovation Report wurde vom renommierten Nieman Journalism Lab als «eines der Schlüsseldokumente des Medienzeitalters» gefeiert. Die Frage ist: Taugen die Lösungsansätze auch für Zeitungsverlage im deutschsprachigen Raum oder ist es ein spezifisches NYT-Rezept?

Raus aus dem Archiv, rein ins Netz
Qualitätszeitungen wie FAZ, SZ oder NZZ könnten vermehrt Artikel aus ihren reichhaltigen Archiven zu gegebenen Anlässen online stellen. Das wird zwar schon getan, aber alles in allem doch eher zögerlich. So gibt es bei der NZZ zwar die Rubrik «Aus dem Archiv», die ist aber zuunterst auf der Startseite versteckt und der dazugehörige Twitter-Account zählt gerade mal 1000 Follower. Auch NZZ Folio fördert regelmässig «Perlen aus dem Archiv» zutage, zum Beispiel ein Essay der südafrikanischen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer über Wahl und Würde aus dem Jahr 1994 anlässlich ihres 90. Geburtstages. Zeit Online republizierte jüngst ein Archivstück über Indiens neuen Premier Narendra Modi – und kündigte dies auf Facebook an. Die Resonanz war allerdings gering. Die Personalisierung von News mittels GPS oder anderen Ortungsdiensten ist spannend, aber aus datenschutzrechtlichen Gründen problematisch. In den USA ist man da wohl etwas weniger sensibel. Doch wenn Kaufhäuser via Beacon-Technologie passgenaue Werbung beim Passieren eines Regals lancieren, warum sollte dann eine Zeitungsapp nicht auf eine Ausstellungskritik in einem Museum aufmerksam machen, wenn sich der Besucher in das dortige W-LAN einloggt?

Mit neuen Kanälen das Publikum binden
Was die Promotion angeht, sind viele europäische Qualitätstitel grundsätzlich gut aufgestellt. Grosse Teile der Redaktionen twittern und bewerben ihre neuen Stücke intensiv. Das Problem vieler deutschsprachiger Zeitungen bei der Bewerbung ihrer Inhalte ein anderes. Der Grossteil der Inhalte werden weiterhin zuerst für gedruckte Ausgabe geschrieben und erst danach für die Online-Ausgabe aufbereitet. In Verlagshäusern spricht man zwar immer wieder mantraartig von «Digital First» und auch «Mobile First» ist kein Fremdwort mehr. Aber konsequent zu Ende gedacht wird diese Strategie in den wenigsten Fällen. Axel Springer, das grösste deutsche Medienhaus, hat erst vor wenigen Tagen mit «Kompakt» eine App lanciert, die Nachrichten speziell für das Lektüreverhalten mit dem Smartphone aufbereitet und nicht einfach ein bestehendes Angebot bildschirmgerecht darreicht. Neue Verbreitungskanäle binden das Publikum und stärken langfristig auch die Marke. Die Nachricht muss zum Leser kommen, und nicht umgekehrt. Bei der Vermarktung könnten Verlage stärker auf Influencer bauen. Unternehmen nutzen diese Form des Digital-Marketings schon lange. Das Schaufenster für Zeitungen ist nicht mehr der Kiosk, sondern soziale Netzwerke. Das macht der Innovation Report deutlich.

Zaghafte Öffnung in Richtung Publikum
Der zentrale Gedanke ist es, Redaktion und Leserschaft stärker zu vernetzen. Die Leser interessiert nicht nur der Artikel als Fertigprodukt, sondern auch die Umstände der Recherche – sie wollen einen Blick hinter die Kulissen des Redaktionsalltags werfen. Die NYT präsentierte bereits eine Art Making-of ihrer Storys. Und vielleicht können die Leser auch selbst Inhalte beisteuern. Das Thema User-generated Content scheint bei den Zeitungsverlagen noch nicht so recht angekommen zu sein. Es gibt nur ein paar zaghafte Versuche in diese Richtung. Zeit Online etwa veröffentlicht «Leserartikel» (max. 3000 Zeichen). In Grossbritannien ist man einen Schritt weiter. Dort gibt es das Portal «Witness» des Guardian, wo Nutzer Bilder und Eindrücke teilen können. Zum Beispiel in der Rubrik «Haben Sie einen ungewöhnlichen Job?». Das wäre sicher auch ein interessantes Modell für den deutschsprachigen Markt.

Die NYT stellt jedoch insofern ein Sonderfall dar, als Print inzwischen nur noch einen kleinen Teil der Leserschaft ausmacht – rund 5 Millionen (bei 7,5 Millionen Facebook-Fans). Die meisten Leser konsumieren News auf dem Desktop (30 Millionen) oder mobilen Geräten (20 Millionen). Zum Vergleich: Die NZZ (gedruckt) hat laut WEMF täglich 295 000 Leser, nzz.ch lediglich 116 000. Die NYT hat also ein ganz anderes Potenzial, im Online-Geschäft Geld zu verdienen. Insofern lässt sich der Bericht auch nicht eins zu eins auf die hiesige Presselandschaft projizieren. Trotzdem taugt er – cum grano salis – als Anleitung für den Transformationsprozess von Print zu Digital. Der Innovation Report liefert einen Denkanstoss, journalistische Inhalte neu zu präsentieren und über soziale Netzwerke zu orchestrieren. Der Bericht bricht ein Tabu, indem er sagt, dass Journalisten im digitalen Zeitalter auch Werbung in eigener Sache machen müssen. Und er denkt den Produktionsprozess fundamental um. Es ist keiner dieser üblichen Mutmacherbeiträge, die sich einreden, journalistische Qualität zahle sich von selbst aus. Der Report ist schonungslos in der Selbstanalyse und klarsichtig in der Formulierung einer Digitalstrategie. Die Ironie ist, dass ausgerechnet Konkurrent Buzzfeed das interne Papier publizierte. Die neuen Medien sind den alten offenbar einen Schritt voraus.