von Dominique Strebel

Es gäbe genügend Gründe, den Maulkorb-Artikel zu streichen

Veröffentlichen Journalisten in der Schweiz geheime amtliche Dokumente, sollen sie weiterhin bestraft werden können. Es sei denn, für die Geheimhaltung besteht kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse. Das will die Rechtskommission des Nationalrats. Der Vorschlag ist ein Rückschritt: Noch 2012 wollte die gleiche Rechtskommission den strittigen Artikel des Strafgesetzbuchs ersatzlos streichen.

Wenn Journalisten heute Informationen aus geheimen Akten, Untersuchungen oder Dokumenten öffentlich machen, erfüllen sie gemäss geltendem Gesetz immer den Straftatbestand der «Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen» (Art. 293 StGB). Ein Freispruch ist nur möglich, wenn sich Medienschaffende mit der «Wahrung berechtigter Interessen» rechtfertigen können. Die Latte für diesen Rechtfertigungsgrund hängt das Bundesgericht aber sehr hoch.

Diese medienfeindliche Regelung wird vom Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seit Jahren gerügt: Strassburg verlangt, dass Richter immer die Geheimhaltungsinteressen des Staates und die Medienfreiheit gegeneinander abwägen.

Um das Strafgesetz dieser Rechtsprechung anzupassen, schlägt die Rechtskommission des Nationalrats nun vor, Artikel 293 StGB mit einem neuen Absatz 3 zu ergänzen: «Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Veröffentlichung kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegengestanden hat». Im Klartext: Strafbar sollen Medienschaffende nur noch sein, wenn das Interesse der Beamten, Politiker oder Justizbehörden an der Geheimhaltung der Dokumente grösser ist, als das Interesse der Öffentlichkeit an der Information.

Zuerst das Positive an diesem Vorschlag: Tritt er in Kraft, müssen Richter immer auch die Interessen der Öffentlichkeit an Information und die Medienfreiheit berücksichtigen. Und damit macht die Rechtskommission vor allem dem Bundesgericht Beine: Noch im Januar 2013 verurteilten die höchsten Richter einen Journalisten der NZZ am Sonntag nur schon deshalb, weil er geheime Kommissionsprotokolle des Nationalrats öffentlich gemacht hatte (Urteil 6B_186/2012).

Den höchsten Schweizer Richtern genügte für die Verurteilung, dass der Journalist aus Schriftstücken zitiert hatte, die vom Parlamentsgesetz für geheim erklärt werden. Zwar wog das Bundesgericht am Schluss des Urteils die Geheimhaltungsinteressen doch noch gegen das Interesse der Öffentlichkeit an Information ab, doch war dies für den Entscheid nicht mehr relevant. Dabei kamen die Bundesrichter übrigens zum gleichen Schluss: Der Journalist habe sich strafbar gemacht, als er Äusserungen der damaligen Justizministerin Eveline Widmer Schlumpf über den damaligen Bundesanwalt Erwin Beyeler wörtlich aus dem Kommissionsprotokoll zitiert hat. Der Streit zwischen den beiden sei hinlänglich bekannt gewesen, meinten die Bundesrichter. Die wörtlichen Zitate hätten deshalb für die Öffentlichkeit nur geringen Informationswert gehabt.

Diese Erwägungen des Bundesgerichts zeigen deutlich: Der neue Gesetzesvorschlag wird die Situation der Journalisten kaum verbessern, denn das Bundesgericht ist in Sachen Art. 293 StGB nicht gerade medienfreundlich. Es gewichtet die Geheimhaltungsinteressen des Staates meist höher als die Interessen der Öffentlichkeit an Information. Dies bestätigt ein Strassburger Entscheid vom Juli 2014. Darin wirft der EGMR dem Bundesgericht vor, die Medienfreiheit verletzt zu haben. Die Bundesrichter hatten eine Strafe für einen Journalisten der Zeitschrift «Illustré» gutgeheissen, weil er gestützt auf Verhörprotokolle über das Strafverfahren gegen einen Autofahrer berichtet hatte, der in Lausanne von einer Brücke gestürzt war. Gemäss Strassburg verletzt dieses Bundesgerichtsurteil die Medienfreiheit. Der Artikel des Journalisten sei von öffentlichem Interesse gewesen, habe weder die Gerichtsverhandlung beeinflusst noch die Unschuldsvermutung verletzt, urteilten die Richter des EGMR.

Damit fällt ein erstes Fazit zum Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrats durchzogen aus: Die Gesetzesänderung ist zwar ein notwendiger Schritt, aber kein hinreichender, weil das Bundesgericht mit der Medienfreiheit Mühe hat. Rechtssicherheit für Medienschaffende – wie es die Kommission behauptet – ist mit dem neuen Absatz 3 noch lange nicht erreicht.

Die einzige Lösung ist die Abschaffung des umstrittenen Artikels 293 des Strafgesetzbuches – genau wie es der Bundesrat, die Rechtskommissionen von National- und Ständerat bereits 1996 vorgeschlagen und die beiden Räte 1997 beinahe beschlossen haben. Wäre da nicht der Fall Jagmetti dazwischengekommen. Am Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die nachrichtenlosen Vermögen und das Nazigold erschienen in der «Sonntagszeitung» zwei Artikel von Martin Stoll, in denen Botschafter Carlo Jagmetti gestützt auf ein von ihm verfasstes Strategiepapier vorgeworfen wurde, die Juden zu beleidigen.

Diese Texte führten zu einem Sinneswandel im Parlament, das die Streichung von Artikel 293 StGB in der Folge knapp ablehnte. Darauf wartete die Politik auf die Justiz. Das Bundesgericht verurteilte den Journalisten wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen, eine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erklärte diesen Entscheid 2006 für konventionswidrig, da er die Medienfreiheit verletze. Die Schweiz zog den Entscheid an die grosse Kammer des EGMR weiter, welche dann 2007 zu einem andern Schluss kam und das Urteil des Bundesgerichts schützte. Entscheidend für dieses zweite Strassburger Urteil war unter anderem die unnötig reisserische Aufmachung der Artikel – nicht aber deren eigentlicher Inhalt.

Trotzdem hatte der Gerichtsentscheid politische Wirkungen: Der Bundesrat änderte seine Meinung und erklärte 2008, die Streichung von Artikel 293 StGB sei keine angemessene Lösung. Die Rechtskommission des Nationalrats hingegen blieb zuerst bei ihrer Haltung und schlug noch 2012 die Streichung vor. Erst im November 2014 schwenkte auch sie um und will Art. 293 jetzt nicht mehr abschaffen, sondern nur noch präzisieren. Der Grund: Es gebe eben doch Geheimnisse des Staates, die wichtig sind und für die selbst der Europäische Gerichtshof Strafen zulasse, wenn sie zu Unrecht öffentlich gemacht werden.

Diese Entstehungsgeschichte des aktuellen Vorschlags zeigt, dass er von sachfremden Motiven beeinflusst ist – von Emotionen in einer heissen politischen Auseinandersetzung – und vom Orakeln über einen Entscheid Strassburgs. Not tut aber eigenständiges Denken.

Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, Art. 293 StGB zu streichen:

  • Nicht die Urheber des Geheimnisverrats werden bestraft – also meist die Parlamentarier selbst, sondern die Journalisten als Überbringer der Botschaft. Medienschaffende müssen leiden, weil Parlamentarier oder Beamte ihren Laden nicht im Griff haben. Man schlägt den Sack und meint den Esel.
  • Art. 293 StGB wird von Parlament und Verwaltung sehr selektiv eingeklagt: Viele Indiskretionen bleiben ungeahndet – nur einzelne missliebige Journalisten werden ins Visier genommen. Diese Willkür ist eines Rechtsstaats nicht würdig.
  • In einem Staat, der stolz ist auf seine direktdemokratischen Elemente darf es keine «Geheimnisse» der Verwaltung oder des Parlaments geben, die strafrechtlich abgesichert werden müssen. Wieso sollen Parlamentarier oder Bundesräte vor Peinlichkeiten geschützt werden, die sie sich in den Kommissionen leisten? Wieso soll schlimmstenfalls sogar ihr Unvermögen der Öffentlichkeit verheimlicht werden? Deshalb braucht es für Parlament und Verwaltung keinen strafrechtlich geschützten Geheimbereich.

Anders liegen die Dinge allenfalls bei der Strafjustiz. Das Untersuchungsgeheimnis dient dazu, die Arbeit der Strafverfolger überhaupt erst möglich zu machen. Wenn Zeugen in den Medien von Aussagen anderer lesen, bevor sie einvernommen wurden, hat die Staatsanwaltschaft ein Problem. Zudem geht es in diesem Bereich oft um persönlichkeitsrechtlich sensible Informationen. Deshalb hat Deutschland 1980 einen mit Art. 293 StGB vergleichbare Bestimmung abgeschafft und durch spezifische Straftatbestände ersetzt, die das Untersuchungsgeheimnis schützen. Eine ähnlich differenzierte und sachlich abgestützte Lösung stünde der Schweiz gut an.