von Ronnie Grob

Showmaster mit 84

Silvio Santos, einst einfacher Strassenverkäufer in Rio de Janeiro, führt mit 84 Jahren noch jeden Sonntag eine sich über Stunden hinziehende TV-Show. Er besitzt nicht nur die zweitgrösste TV-Gruppe Brasiliens, sondern auch ein Firmenimperium mit 5 Milliarden Franken Jahresumsatz.

Wenn Schweizer Redaktionen ausserhalb von Wahlen und Weltmeisterschaften Ereignisse in Brasilien abhandeln, dann geht es nicht selten um Schweizer in Brasilien oder um Schweizer Beiträge zum Karneval. Brasilien ohne Schweizbezug interessiert herzlich wenig, deshalb wird sich auch kaum jemand für diesen Artikel über eine der schillernsten TV-Figuren der Welt interessieren. Den im Internet aufgewachsenen Brasilianern ist er womöglich so unbekannt wie den Schweizern. Aber sonst kennt in Brasilien fast jeder Silvio Santos, der sein silbernes Mikrofon an einem silbernen Halsband trägt, um ununterbrochen und freihändig reden zu können. In den von ihm seit über 50 Jahren präsentierten Shows geht es immer und immer wieder um Glück, Spiel, Gesang, Geld. Die kleinen Leute lieben ihn, weil er es als einer der ihren zu grossem Reichtum gebracht hat. Auch wenn er nicht besonders gnädig mit ihnen umgeht, Witze auf ihre Kosten macht, und für eine gute Pointe auch nicht davor zurückschreckt, einfache Leute und Kinder blosszustellen. Um einen Eindruck davon zu erhalten, muss man vielleicht einfach ein paar Minuten zuschauen, hier eine Ausgabe seines auch heute noch fast vier Stunden dauernden «Programa Silvio Santos» (früher dauerten die Shows noch länger):

Mit dem Studiopublikum spielt Santos endlos die gleichen simplen Spiele, so beispielsweise das Erraten der Höhe der nächsten Spielkarte, Memory oder auch Rechnen und Buchstabieren. Und er wirft Geldscheine zwischen die Zuschauer, was man ziemlich daneben finden kann; doch der Degout scheint eher die gebildeteren und weniger an seinen Shows teilnehmenden Zuschauer zu befallen. Santos‘ Publikum besteht vorwiegend aus Frauen, es sind aber auch Transsexuelle und Transvestiten dabei und manchmal sogar Männer. Die Titelmelodie («Agora é hora de alegria / Vamos sorrir e cantar») ist unverkennbar, hier die Eröffnungssequenz 1985:

Santos ist der Sohn von Einwanderern, sephardischer Juden aus Griechenland. Mit 14 Jahren verkaufte er in den Strassen von Rio de Janeiro Plastikhüllen und Stifte. Nach dem Militärdienst wurde er zunächst als Radiostimme entdeckt und stiess 1962 in São Paulo zum Fernsehen, wo er eine Hangman-Spielversion moderierte. 1964 präsentierte er erstmals eine zweistündige Show am Sonntag, die später zum «Programa Silvio Santos» wurde. In den 1970ern erhielt er dann die Lizenz zur Ausstrahlung von TV-Programmen. Sein Sistema Brasileiro de Televisão (SBT) sendet seit 1981, es kommen darin alle erfolgreichen Formate des Privatfernsehens vor: Soap Operas, Sitcoms, Glücksrad, versteckte Kamera, Quizfragen, es wird viel gesungen und geraten, und sogar News werden ausgestrahlt. Seine Grupo Silvio Santos umfasst Dutzende Beteiligungen (Fernsehen, Immobilien, Kosmetik, Hotels, Lotterie, etc.) und setzt 5 Milliarden Franken jedes Jahr um – etwa soviel wie die Mitglieder des Verbands Schweizer Medien und die SRG zusammen.

In den Fokus der Schweizer Medien gelangte er bisher erst zweimal: 1989, als seine zwei Wochen vor Wahltermin eingereichte Kandidatur als Staats- und Regierungschef vom Obersten Wahltribunal für ungültig erklärt wurde, bescheinigte die NZZ seinen Shows ein «erschreckend niedriges Niveau». Und 2010, als bei der Banco Panamericano 1,4 Milliarden Franken verschwunden waren und sich seine Firmengruppe in der Folge davon trennte, schrieb die NZZ über Santos: «Seinen Reichtum hat er geschaffen, indem er in seinen Shows für Produkte wirbt – früher Fernseher, heute Appartements –, für die seine ärmeren Zuschauer dann erst die Kredite abbezahlen, bevor sie sie erhalten.» Tatsächlich verkaufte Silvio Santos zusammen mit einem Freund eine zunächst mit Weihnachtsgeschenken bestückte Glückskiste («Baú da Felicidade»), die monatlich abbezahlt werden konnte. Später wurden unter dem Namen Coupons verkauft und mit Gewinnen verknüpft. Wer bei den Preisen leer ausging, konnte sein Investment in Produkte umtauschen – hier ein Werbeclip von 1993.

In Brasilien, einem Land mit Wahlpflicht, hätte Silvio Santos, der sich einer erstaunlich breiten Beliebtheit erfreut, wohl problemlos zum Präsidenten werden können, wenn er das gewollt hätte. Eine einem Staatsbegräbnis nahekommende Abdankung wird es mit Sicherheit geben. Schade nur, dass ihn die Schweizer Medienkonsumenten kaum je kennenlernten. Silvio Berlusconi, da bin ich mir fast sicher, kannte ihn.