von Reto Hunziker

WER DAS LIEST, IST DOOF

Den Medien geht es eh schon beschissen. Zu allem hin müssen sich die Journalisten immer mehr von ihren Lesern gefallen lassen (#Lügenpresse #Trolle). Eine längst fällige Publikumsbeschimpfung.

Sie! Ja genau, Sie, lieber Leser! Sie hinter Ihrer Zeitung, Sie vor Ihrem Bildschirm! Sie haben ja keine Ahnung! Sitzen da und konsumieren, während wir hier schuften und Sie informieren, unterhalten, schockieren, belustigen. Wir reissen uns für Sie den Arsch auf, merken Sie das eigentlich nicht? Und was tun Sie? Sie beschweren sich. Motzen, kritisieren, lamentieren. Wie dünn die Zeitung heute wieder ist! Wie boulevardesk die Onlinemedien! Wie üppig und salopp die Titel! Geben Sie es doch zu! Und die vielen Rechtschreibfehler erst. Stellen die eigentlich jeden ein?! Oder schreiben da nur noch die Praktikanten?!

Propaganda!

Dies ist übertrieben, jenes einseitig dargestellt und was soll eigentlich diese eindeutig linke und rechte Propaganda?! Ganz zu schweigen von dieser Skandalisierung, Personalisierung, Sexualisierung, unsäglich! Was haben Brüste in der Zeitung zu suchen?! Wo sind die wirklich relevanten News?

Was die Medien stattdessen wieder zugespitzt und aufgebauscht haben, wie die wieder aufgescheucht und niedergetrampelt haben und wen die wieder reingewaschen und schlechtgemacht haben. Es ist offensichtlich: Der Journalismus verroht, verludert, ja zerfällt!

Beispiele haben Sie genug: Fall Carlos (Skandal-geile Hetzkampagne), Gerigate (Primeur-geile Hetzkampagne), Germanwings (klickgeile Hetzkampagne). You name it!

Schlecht recherchiert – das ist Ihr Totschlagargument. Selbst bei Texten, die mit Recherche nichts am Hut haben. Sie sind mit der These eines Artikels nicht einverstanden? Der Fall ist klar: schlecht recherchiert. Und das schreibt jemand, der die Qualität eines Artikels an der Anzahl Tippfehler misst. Was erlauben Sie sich eigentlich!? Kritisieren Sie auch Ihre Dentalhygienikerin (schlechte geputzt!) oder die Floristin (schlecht arrangiert!)? Wohl kaum. Weil sie nämlich deren Arbeit nicht beurteilen können. Jedoch reden Sie sich ein, Sie könnten die Arbeit der Journalisten beurteilen.

Sie sind dumm!

Überlegen Sie doch mal! Wenn die Medien tatsächlich verdummen, wie Sie so oft behaupten, dann sind nicht wir schuld, sondern Sie. Ja, Sie selbst! Weil Sie zuerst verdummt sind. Schliesslich bestimmen Sie die Nachfrage und wir liefern das Angebot. Die Huhn-Ei-Frage stellt sich hier nicht: Die Medien sind da, damit sie konsumiert werden, basta. Eine Zeitung kann also nur so gut sein, wie Sie sie sein lassen.

Fragen Sie doch Ihre genauso ahnungslosen Freunde, die Medienwissenschaftler. Die haben nämlich für einmal recht, wenn sie sagen: Medien widerspiegeln die Gesellschaft; Medien schaffen Öffentlichkeit; Medien schreiben, was ist. Klar, vereinfachen wir, klar, beschränken wir uns. Oder anders gesagt: Wir bringen es auf den Punkt. Aber wir machen das nicht, um Ihnen etwas vorzuenthalten, um Sie irrezuleiten, zu blenden, zu beeinflussen, zu manipulieren, zu zensieren, zu denunzieren. Nein, wir stehen in Ihrem Dienst. Ergo haben Sie die Medien, die Sie verdienen.

Und wenn nur Schlimmes passiert ist, dann berichten wir nur über Schlimmes. Sie würden doch wissen wollen, wenn eine – sagen wir – Schafgrippe umgeht; selbst wenn sich herausstellen sollte, dass sie sich doch nicht zur Epidemie entwickelt. Wir antizipieren, was Ihnen gefallen könnte. Sie geben vor, wir ziehen nach. Sie haben die Mustervorstellung von der Welt der Medien. Sie sind das Muster. Das ist ein Wortspiel.

Die Welt ist schlecht!

Warum reden Medien alles schlecht, fragen Sie? Erstens: Weil die Welt schlecht ist. Zweitens: Weil Sie es lesen wollen – auch wenn Sie sich das nicht eingestehen können. Sie glauben, Sie wollen weniger negative, weniger aufgeregte, weniger zugespitzte News? Das wollen Sie nicht! Sie zetern über den Schund, den Medien verbreiten, doch wer ist der Erste, der sich darauf stürzt? Sie, Sie werter Leser, Sie!

Und dann die Schuldfrage: Medien sind schuld, dass Mädchen immer dünner werden (denn sie verbreiten das gängige Schönheitsideal). Medien sind schuld, dass die Welt immer gewalttätiger wird (denn sie berichtet über Gewalttaten). Medien sind schuld, dass die Grasshoppers schlecht spielen (denn sie waren zu kritisch mit ihnen). Die bösen, bösen Berichterstatter!

Hey, don’t shoot the messenger! Oder anders gesagt: Don’t hate the player, hate the game! Wir sind doch nur die Überlieferer der schlechten Nachricht. Uns wäre es auch lieber, wir könnten über mollige Models, Frieden auf Erden und erfolgreiche Grasshoppers berichten. Aber es ist nun mal nicht passiert. Und wir können nichts dafür, wohin die Gesellschaft driftet.

Wer soll das lesen?

So paradox es klingt: Eine Zeitung, die Sie so oft fordern, – immer ausgewogen, niemals pointiert oder provokativ, nur tiefgründig – würde leider kein Schwein lesen. Viel zu harmonisch, viel zu verwaschen. Und die wenigen positiven Meldungen auf der Welt füllen leider noch kein Blatt.

Und überhaupt, wer soll die Tiefe und die Relevanz, die Sie verlangen, bezahlen? Sie etwa? Die gut recherchierte, fabelhaft geschriebene und schön illustrierte Reportage aus Kirgisien über die Entwicklung des Filzteppich-Handwerks seit der Auflösung der Sowjetunion, die Sie sich gewünscht haben, hat nämlich einen rechten Batzen gekostet.

Ständig heisst es, Medien seien sich ihrer Verantwortung nicht bewusst. Gegenfrage: Sind sich Leser ihrer Verantwortung bewusst? Immerhin steht es allein in ihrer Macht, wie sie uns konsumieren wollen: mit wachem Geist oder mit pedantischer Ignoranz. Büffeln Sie doch mal ein wenig Medienkompetenz! Nehmen Sie nicht immer alles so ernst! Und glauben Sie auch weiterhin nur das, was Sie glauben wollen. Und nicht alles, was Sie lesen!

Nochmals in aller Deutlichkeit: Das ist ein Scherz. Das ist kein Scherz. Sie brauchen sich nicht betroffen zu fühlen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihr Verständnis.

Leserbeiträge

R. Furrer 22. April 2015, 10:13

Der Journalist hat das zu schreiben, was die Leute denken könnten, denken möchten und nicht das, was sie denken müssen.
Peter Bichsel

Traurig aber wahr! Guter Artikel.

Lukas Müller 23. April 2015, 07:06

Ich bin selber Journalist, kann dem Text aber nicht viel abgewinnen. Besonders der Veegleich mit der Dentalhygiene-Expertin hinkt und zeigt das veraltete Bild des Autors: Der Experte Journalist berichtet was ist, der Konsument liest, basta. Erstens erzählt jeder in seinem Leben Geschichten und liest – und zweitens ist die Kommunikation zwischen Macher und Leser längst wechselseitig geworden und eine riesen Chance. Fazit: Ein Text von frustrierten, ausgebrannten Journalisten für ihre Berufskollegen

Klaus D. Mueller 23. April 2015, 10:18

Nein. Nicht ich. Und auch nicht eine Minderheit der denkenden Menschen. Es ist die große Schicht der dummen Menschen, die von vielen Zeitungen dumm gehalten werden. Die einen liefern, die anderen fressens, resp., die einen wollen Mist, die anderemn liefern. (Henne/Ei-Problem).
Da sich Journalisten in der Regel zu den nicht-dummen Menschen zählen (nehmen wir mal an, das stimmt), ist es deren Aufgabe, dieses Henne/Ei-Problem zu durchbrechen, Menschen aufzuklären, die Wahrheiit zu schreiben, zu erklären… was natürlich schwerer ist, mit Arbeit (und selbst viel dazulernen) verbunden ist. Der alte Trott (wie liefern ja nur den Mist, den die Deppen lesen wollen) ist natürlich einfacher. Auch die Schuld auf die Deppen schieben ist viel einfacher, siehe hier oben.

Giant Butler 23. April 2015, 10:34

„don’t shoot the messenger!“?
ich sag: „cut the wire, be a bird! shoot the messenger before he can say a word!”

Onkel Hotte 23. April 2015, 13:48

Gebt den Leuten was sie wollen, denn es ist ein Markt dafür vorhanden, ohne das Angebot kritisch zu beäugen ?
Prima, dann lasst uns doch auch Waffen und Drogen legal kaufen.

Richard J. Baumgart 23. April 2015, 14:39

Hi,

Nein, ich will nicht, daß Du, Journalist, mir ein Wohlfühlprogramm bietest. Nein, ich will nicht, daß Du mir nach dem Mund redest oder Dich an der Festigung meiner Filter-Bubble beteiligst! Das brauche ich nicht, und dafür kriegst Du keinen schäbigen Heller von mir.

Ich erwarte vom Journalisten, daß er/sie/es mich neutral, umfassend und professionell über Tatsachen informiert. Tatsachen aller Art – möglichst solche, die noch nicht über dpa gelaufen sind, weil ich die eh schon kenne. Und wenn schon dpa-Themen, dann bitte Hintergründe, und weiterführende Links.

Ist das nicht das eigentliche Wesen des Journalismus? Sorry, bin keiner, deshalb vielleicht diese naive Vorstellung.
„Das würde kein Schwein lesen“ – ist das nicht die endgültige Bankrott-Erklärung des Journalismus?

Hat der Journalismus am Ende ein Problem mit sich selbst, weil er sich zu guten Teilen selbst abgeschafft hat?

Ich gebe immer noch Geld aus für Journalismus, aber immer weniger. Ihr Journalisten scheint hauptsächlich damit beschäftigt zu sein, an dem Ast zu sägen, auf dem Ihr sitzt. Wenn Ihr nicht gerade dpa-Meldungen umformuliert, und uns das dann zum Fraß vorwirft.

Ich würde gerne für „Qualitätsjournalismus“ zahlen, so wie vor 20 Jahren. Aber da ist nix mehr, sorry.

Viel Spaß!

PS: Das Web-InterFace für Kommentare hier sux. Mal ausprobiert?

Rheinfränkischer 23. April 2015, 17:22

Völlig richtig. Absolut falsch.

„Die Medien“ finden im Pauschalraum ihre Entsprechung in „Du Leser“

Je klarer die Frontstellung, desto stärker der Trend zur homogenen, nicht mehr differenzierten Wahrnehmung des Gegenüber. (In/Outgroupphänomen)

Deshalb: Absolut richtig, für viele Medienkunden gilt das so.
Und ebenso: Völlig falsch, viele andere passen nicht in dieses Bild.

Und dann noch diese ganzen Misch- und Übergangsformen, herrjeh.
Ich finde übrigens, man kann auch kritische Stimmen z.B. in Foren, oft
ganz gut differenzieren.

Deshalb erlebe ich dieses (trotzdem lesenswerte) Statement eher als Dokument einer zunehmend verhärtenden Frontstellung. Dass das in der Schweiz auch so ist, wusste ich nicht.

Gruß aus dem nördlichen Anschlussgebiet

Rheinfränkischer 23. April 2015, 17:25

Was bin ich doof:

Ich wollte doch unbedingt noch bekunden, wie doof ich bin. Habe ich diesen Text doch gelesen, und bereue es noch nicht mal.

Das Publikum

Protagoras 24. April 2015, 12:13

Bravo! Wenn man das ewige Gemaule und Gezeter über die Presse in Beziehung setzt zu dem Gezeter und Gemaule in den „sozialen“ Netzwerken, will sagen, wenn das ein und dieselben Leute sind, die weder den Regeln der Rechtschreibung gewachsen sind, noch zwei klare Gedanken folgerichtig aneinanderreihen können, dann wird man so hohle Phrasen wie die über die „Lügenpresse“ kaum ernst nehmen können. „Die Presse“ gibt es eben so wenig wie „die Küche“ – wer Fast Food nicht essen will, geht ins Restaurant. Wer aber unbedingt Junk verzehren möchte, sollte sich nicht über Glutamat in seiner Nahrung beschweren. Mainstream und Qualitätsjournalismus sind keine Synonyme, auch wenn das der Berufsquerulant glaubt. Tatsächlich muss man ein klein wenig Bildung mitbringen, will man Nivea von Niveau unterscheiden können.

Jan Graber 27. April 2015, 12:16

Unterhaltsam geschrieben, trifft ins Herz, blendet aber aus, dass sich die Medien regelmässig ins eigene Knie schiessen.
ZB. Germanwings-Berichterstattung in der Tagesschau am Tag des Absturzes. Etwa die Hälfte der Sendung nur über das Unglück, ca. fünf verschiedene Gefässe, die das Ereignis, das wir notabene wohlig zuhause auf dem Sofa betrachten, aus jedem möglichen Blickwinkel beleuchten. Auf dem Silbertablett wurde uns das Unglück süffisant präsentiert und wie frische Austern saugten wir es – halb genussvoll, halb erschauernd – in uns auf.
Wo bleibt, trotz Tragik, da der Bezug zur Relevanz? Das stank so sehr nach Quoten-, Klick-, Zuhörer und -schauer sowie Leserjagd, dass man die Verfaultheit der Absicht förmlich herausroch. Dasselbe gilt für Carlos, Geri-Gate, You-name-it…

Die Medien berauben sich auf diese Weise ihrer Glaubwürdigkeit – besonders, wenn sich selbst die seriöseren Exponenten des Metiers aufs Niveau des Infotainments herunterlassen.

Das Argument, dass die Leser das so wollen, ist oft doch reine Selbstrechtfertigung für das nicht offen ausgesprochene Verlangen von manchen Journalisten, mit Ihrer Geschichte von Bedeutung zu sein, weil man an einer vermeintlich bedeutungsvollen Story ganz nah dran ist. Und weil Sex, Crimes and Misery zu besonders vielen Klicks führen, entsteht die Illusion, dann tatsächlich was Bedeutsames zu Papier und in die digitale Wolke gebracht zu haben.