von Lothar Struck

Endzeit im Treibhaus

Literaturkritik heisst heute nur noch Querlesen und Abarbeiten – mit dem Ergebnis eines trivialen Literaturjournalismus, frei von Reflexion und Kritik. Darauf kann das Netz nur beschränkt reagieren, weil es auch Teil des Problems ist. Als wenig hilfreich erweist es sich zudem, wenn sich das vermeintlich Neue als das Alte entpuppt. Anmerkungen und Beobachtungen zur laufenden «Perlentaucher»-Debatte zur Zukunft der Kritik.

Am gleichen Tag als Wolfram Schütte in seinem Essay «Über die Zukunft des Lesens» das Konzept einer neuen Literaturzeitung im Internet entwarf, erschien auf der Blog-Plattform medium.com ein Text in ziemlich grossen Buchstaben mit sehr grosszügigen Absätzen mit dem ernüchternden wie einleuchtenden Titel «Warum können wir nicht mehr lesen?»

Damit der Autor dieses Textes nicht ganz so alleine steht, hatte er sinnigerweise sofort ein «Wir» eingebaut. Also nicht nur er kann nicht mehr lesen, sondern gleich «wir» alle. Begründet wird diese Aussage mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Es geht dabei dann nicht mehr um Denkfaulheit oder Aufmerksamkeitsdefizite des Einzelnen, sondern gleichsam um ein gesamtgesellschaftliches Versagen. Nein, der Einzelne ist unschuldig. So erfolgt eine wohlige Entlastung und man kann sich beruhigt noch einen Latte Macchiato bestellen.

Was hat dieser selbstmitleidige Schmarren mit Schüttes hehrem Ansinnen zu tun? Schütte ist 75 Jahre alt, war 30 Jahre in der Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Rundschau tätig und ist auch heute noch Rezensent für das Titel-Kulturmagazin, Glanz und Elend und CULTurMAG. Ein gefragter und kundiger Literaturkritiker. Aber es scheint als sei die Zeit als Milch und Honig flossen (und bei Raddatz der Champagner) endgültig vorbei. Die Bedeutung des Feuilletons und mit ihm der Literaturkritik schwindet.

Ohne sie direkt zu erwähnen, nimmt Schütte auch Bezug auf eine Anfang des Jahres durch den Verleger Jörg Sundermeier angestossene Debatte über den Verfall der Literaturkritik. Sundermeier griff in einem Interview mit dem Fachmagazin «Buchmarkt» frontal die Qualität der Kritik an, bemängelte die fehlende «Haltung» der Kritiker und kam zu dem vernichtenden Urteil, dass «manche festangestellten Literaturkritiker … viel viel mehr über edle Schuhe oder gutes Essen sagen [können] als über die Qualität literarischer Texte.»

In den 1950er Jahre nannte der Schriftsteller Wolfgang Koeppen den Regierungsbetrieb der Bundesrepublik im kleinen Städtchen Bonn, das zur Hauptstadt ernannt wurde, als «Treibhaus». Gemeint waren damit sowohl die klimatischen Gegebenheiten im deutschen Rheintal als auch die Ghettoisierung der politischen Klasse. Den Begriff des «Treibhauses» könnte man auch auf den sogenannten Literaturbetrieb anwenden. Im Allgemeinen reagiert man dort auf solche Anschuldigungen mit der wirkungsvollsten Waffe, die man zur Verfügung hat: Man ignoriert sie zunächst, besonders wenn sie von ausserhalb des hermetischen Betriebs aufgebracht wird. Selbstreflexion ist eher nicht vorgesehen, sie stört das Tagesgeschäft. Ignoranz war bei Sundermeier, dem Inhaber des kleinen, aber ambitionierten «Verbrecher-Verlags» nicht möglich. Also entstand eine «Debatte», in der jedoch nur die Stimmen aus dem Betrieb selber Gewicht erhielten. Am Ende standen dann die erwarteten Resultate:

  1. Früher war es nicht besser (Hierarchieebenen in den Redaktionen)
  2. Das Internet ist schuld, dieses «Endlosgeplapper» (Sandra Kegel) in Amazon-Kritiken und Blogs.
  3. Es ist nicht alles gut in der zeitgenössischen Literaturkritik (homöopathische Selbstkritik), aber auch nicht so schlecht. Man beharrt auf seine «Selektionsautorität» (Ijoma Mangold).

Dass sich gut bezahlte Redakteure nach wie vor als die einzigen Instanzen sehen, ist nicht verwunderlich. Schade ist nur, dass sie dies nicht argumentativ untermauern, sondern im Behauptungsmodus verharren.

Tatsächlich ist der qualitative Niedergang der Literaturkritik ein schleichender Prozess. Der sprichwörtliche Frosch sitzt im Topf während das Wasser immer heisser wird und er nicht reagiert. Nicht anders ergeht es der Leserin, dem Schauer oder der Hörerin. So bleiben die Veränderungen nahezu unbemerkt. Es waren nicht Amazon & Co. oder irgendwelche Blogger, die so gerne als die üblichen Verdächtigen herhalten müssen, die dies bewirkt haben. Es waren diejenigen, die in den Tempeln des Feuilletons prominente Plätze einnehmen bzw. eingenommen hatten, die zu einer Verwässerung dieses Genres beigetragen haben.

Marcel Reich-Ranicki bekannte einmal, dass sein Vorgänger in der Feuilletonleitung der FAZ, Karl Heinz Bohrer, das Ressort «mit dem Rücken zum Publikum redigiert» habe. Reich-Ranicki änderte dies in der FAZ und ging danach Ende der 1980er Jahre mit dem «Literarischen Quartett» ins Fernsehen. Dort hat er dann «das flächendeckend durchgesetzt, was als letzte Konsequenz wissenschaftlicher Fragestellungen standardisiert wurde: den mehrheitsfähigen Geschmack», wie der Literaturkritiker Helmut Böttiger feststellt.

Lange Zeit war das Feuilleton als integraler Bestandteil einer Zeitung nicht der Quote, also einer messbaren Legitimation, unterworfen. Entweder man kaufte die Zeitung als Ganzes oder gar nicht. Mit den perfekten Aufmerksamkeits-Messmethoden im Internet, die zeigen, wie und wann ein Text angeklickt wurde, offenbarte sich plötzlich das Interesse der Rezipienten. Bei wenig nachgefragten Texten entsteht schnell ein Legitimationsproblem, was sich wiederum auf das Angebot auswirkt. Hinzu kommt die Abhängigkeit von den Werbeeinnahmen, die immer mehr zurückgehen. Im Mai 2013 diagnostizierte NZZ-Literaturredaktor Roman Bucheli: «Redaktionen können, um es zugespitzt auszudrücken, genau jene Zeitung produzieren, die der Werbemarkt zulässt».

Die Tendenz geht auch in der Literaturkritik unverdrossen in Richtung kurzer, eingängier Texte, die dementsprechend journalistisch aufbereitet werden. Dies bedeutet: Krachende Überschrift, Inhaltsangabe, Referenzen wie dem Lebenslauf des Autors und/oder irgendeiner Interviewäusserung. Schliesslich gibt es noch eine «Meinung» die sich oft genug auf ausserliterarische Aspekte gründet. Reflexionen über die Sprache eines literarischen Textes oder dessen Form, also das, was man unter Ästhetik subsumieren kann, unterbleiben zumeist. Chefredakteure haben ausgemacht, dass dies den Leser überfordern würde. In vorauseilender Sorge darum «verschonen» sie das Publikum damit. Der Literaturkritiker, der sich diesem Sog in die Trivialität verweigert, wird weniger nachgefragt werden. Und so werden aus Literaturkritikern Literaturjournalisten, die Infotainment betreiben statt Kritik.

Zur qualitativen kommt die quantitative Krise. Thierry Chervel, Erfinder und Chefredaktor des «Perlentauchers», erregte Anfang des Jahres für Aufsehen, als er auch noch die Anzahl der in den Feuilletons besprochenen Bücher als stark rückläufig darstellte. Der «Perlentaucher» ist eine Kultur- und Feuilletonpresseschau im Internet, der für die Kulturszene längst als nahezu unverzichtbar gilt. Er erscheint täglich ausser sonntags und fasst die Kultur-Berichterstattung in den Medien auf mehreren Ebenen zusammen. Gegen 9.00 Uhr erscheinen «Kulturrundschau» («Efeu») und eine «Debattenrundschau» («9-Punkt»). Den Kern der Analysen bilden die gängigen Tages- und Wochenzeitungen: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Tageszeitung, Frankfurter Rundschau, Welt, Tagesspiegel, die Zeit, der österreichische Standard, die NZZ. Seltener angesprochen werden auch Beiträge, die exklusiv nur in der Printausgabe verfügbar sind. Für Chervel gilt, dass ein Text, der nicht online steht, nicht existiert. Gegen Mittag wird der «Medienticker» zugeschaltet, der das Spektrum erweitert und neben medienkritischen Texten auch Rubriken wie «Literaturkritik im Netz» anbietet, auf der Beiträge jenseits der genannten Medien beispielsweise auf Rezensionsforen verlinkt werden. Daneben gibt es noch andere Übersichten, beispielsweise eine internationale Magazinschau oder Hinweise auf neue Kinoaufführungen. In der «Bücherschau» werden Rezensionen zu literarischen Neuerscheinungen gesammelt, die jedoch ausschliesslich wieder aus den Mainstreammedien bestückt werden.

Chervel stellte fest, der Perlentaucher habe 2001 4330 Kritiken auswerten können, 2014 jedoch nur noch 2200. Michael Pilz hatte daraufhin auf Literaturkritik.de auf eine differenzierte Sicht auf diese Zahlen verwiesen. So pochte er einerseits auf den Unterschied zwischen Buchkritik und Literaturkritik und kam dann, nach Rekrutierung des Innsbrucker Zeitungsarchivs zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck in Bezug auf die Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung und Welt auf andere, weniger dramatischere Zahlen, was die Belletristik-Kritik angeht. Demnach stieg der Anteil der Belletristik-Besprechungen bei der SZ zwischen 2001 und 2013 sogar leicht, während sie bei der Welt um rund 5%, bei der NZZ jedoch um fast 25% zurückgingen.

Dabei gibt es nicht nur weniger Raum (in den Zeitungen), sondern auch immer weniger Zeit. Es seien 400 Bücher gewesen, die man lesen musste, so Hubert Winkels einmal als Juryvorsitzender zum Leipziger Buchpreis. Berücksichtigt man, dass der Preis ein halbes Jahr deutschsprachige Neuerscheinungen spiegeln soll bedeutet dies, dass jeder Juror eigentlich diese 400 Bücher in 6 Monaten hätte lesen müssen. Das wären mehr als zwei Bücher pro Tag, wobei «Buch» ja sowohl ein Werk von 90 als auch 900 Seiten sein kann.

Sundermeier hatte in seiner Kritik der Kritik darauf hingewiesen, dass «ein Rezensent, der ein Buch von – sagen wir – 600 Seiten besprechen soll, das ihm auch intellektuell einiges abverlangt…für das Lesen und seinen Text, selbst dann, wenn er schnell ist, weitaus mehr als eine Woche» brauchen würde. «In dieser Zeit», so Sundermeier, «kann er aber zwei eher triviale Bücher lesen und besprechen oder sogar noch eine Homestory über einen Autor schreiben, inklusive Recherche, er kann also im selben Zeitraum dreimal mehr verdienen als er verdienen würde, bespräche er nur das eine dicke Buch.»

Anfang des Jahres bekannte Hubert Winkels auf einem Kritikersymposium freimütig, im nächsten halben Jahr keine Zeit mehr zu haben. Er haste «von Moderationen zu Vorträgen, von den Jurysitzungen für den Preis der Leipziger Buchmesse zum nächsten Literaturfestival: im nächsten halben Jahr keine freie Minute. Zum Lesen und Denken und Schreiben kommt man dabei, wie er offen bekannte, eher nur zwischendurch.» Quasi «nebenbei» ist Winkels auch noch Redakteur und Moderator des «Büchermarktes» im Radiosender Deutschlandfunk. Man darf vielleicht schon einmal fragen, wie man dieses Pensum halbwegs seriös bewältigen kann? Liegt hier vielleicht die Crux in der Literaturkritik, die nur noch zum «Abarbeiten» der Programme der als bedeutend empfundenen Verlage kommt und sich am Ende mit Querlesen und Leseproben ein Urteil über ein Buch bilden muss? Sind es diese Literarjournalisten, die nicht mehr lesen können? Stellt man diese Frage im Betrieb erntet man häufig einen mitleidsvollen Blick.

Aber da kommt nun Wolfram Schütte und präsentiert im «Perlentaucher» ein neues Konzept, um die Literaturkritik zu retten (das ist nicht seine Formulierung, aber der Tenor). Das die Sache mehr ist als nur ein Gedankenspiel zeigt sich am Schütte brennt die Sache unter den Nägeln, wie sich am Arbeitstitel seines Projektes zeigt: «Fahrenheit 451». Dabei handelt es sich um einen dystopischen Roman von Ray Bradbury. Er spielt in einer Gesellschaft, in der Bücher verboten sind und vernichtet werden (bei der Temperatur von 451 Grad Fahrenheit brennen die Bücher angeblich am besten). Ein paar Idealisten lernen nun heimlich Romane und Erzählungen der Weltliteratur auswendig. Der Roman entstammt aus den 1950er Jahren, einer Zeit, in der Literatur einen grossen gesellschaftlichen Stellenwert besass und durchaus auch als subversives Medium angesehen wurde.

Schütte möchte nun die Literatur und damit auch die Literaturkritik wieder in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken. Er beklagt die Atomisierung der Kritik im Netz, das sich nicht Auffindenlassen im allgemeinen Wirrwarr der fast unzähligen Blogs und Foren, die sich mehr oder weniger privatim mit Literatur beschäftigen. Diesem Gefühl mit Ratschlägen für einen Feedreader oder gar einem Workshop für Lesetechniken im Internet zu kommen, greift fehl. Es ist ein grundlegendes Unbehagen bei Schütte spürbar. Wo es seinerzeit nur rund ein halbes Dutzend satisfaktionsfähiger Medien gab, hat sich diese Zahl heute vervielfacht. Nicht auszudenken, eine interessante Rezension auf Glanz und Elend, Fixpoetry, Literaturkritik.de oder einem Literaturblog zu verpassen. Dieses Unbehagen am zersplitterten Diskurs ausgerechnet im Dienstleistungsmedium Perlentaucher zu führen, ist zwar überraschend, aber legitim.

Schüttes Idee geht dahin, dass die wichtigen Verlage ihre bisherigen Online-Aktivitäten (die er, Schütte, etwas leichtfertig und unzutreffend «Blogs» nennt) bündeln und eine parallel zu findende, unabhängige Redaktion von drei bis fünf Personen ein Magazin für eine literarisch interessierte Öffentlichkeit produziert, in dem es von Rezensionen über Portraits, Gesprächen und Lesungen alles gibt, was das Literaturherz so begehrt. Diese Redaktion soll «journalistisch» agieren. Was Schütte nicht präzisiert, aber nicht ganz unwichtig ist: Soll es eine Bücherzeitung oder eine Literaturzeitung werden? Der Unterschied: eine Bücherzeitung wäre eher journalistisch-bunt, eine Art Yellow-Press des Literaturbetriebs, während eine Literaturzeitung ein intellektuell anspruchsvolleres Ziel verfolgen würde.

Zur Finanzierung schlägt Schütte neben der Werbung eine Art Stiftungsmodell vor, in dem alle «Mitspieler» des Betriebs vertreten sollen: Verleger, Lektoren, Verlagskaufleute, Kritiker, Börsenversand und Buchhandel und am Ende auch interessierte Leser. Man muss nicht unbedingt ein Prophet sein um zu befürchten, dass die Unabhängigkeit dieser Redaktion irgendwann an Grenzen stossen wird. Ähnliches übrigens beim Mäzenatentum, wie es andere Kommentatoren ins Spiel bringen. Und auch die Finanzierung durch Crowdfunding birgt Probleme. Hier droht die Erwartung, man «kaufe» sich für seinen Beitrag die «richtige» Gesinnung der Texte ein. Der angelsächsische Sportsgeist im Umgang mit abseitigen Urteilen ist im deutschsprachigen Raum eher weniger verbreitet.

Nun ist es ja nicht so, dass die deutschsprachige Print-Landschaft keine ausgezeichneten Literatur- bzw. Kulturzeitschriften kennt. Wobei deren Webpräsenzen zumeist absichtlich eher rudimentär ausgestattet sind. Es gilt immer noch das klassische Leseerlebnis. Also das, was «wir» (angeblich? oder doch tatsächlich?) immer weniger beherrschen. Wie soll also eine «Zeitung» im Netz die Kulturtechnik des Lesens neu beleben?

Machen wir…, nein: ich mache mir nichts vor (und lasse mich gerne eines Besseren belehren): Die komplexe Literaturkritik, wie sie übrigens immer schon die Ausnahme war (und immer noch die Ausnahme ist), wurde dem Leser, der Leserin in den letzten Jahren, sukzessive ausgetrieben. Derzeit beträgt die Aufmerksamkeitsspanne, die man dem Zuschauer «zumutet», im Fernsehen anderthalb Minuten, im Radio ist es glücklicherweise noch mehr. Mehr als drei DIN-A-4 Seiten sollte – so ein ungeschriebenes Gesetz – eine Literaturkritik nicht mehr sein. Die meisten sind längst kürzer. So wird sukzessive die Leserschaft entmündigt und erst das erzeugt, was man vorgibt zu verhindern: die Verflachung.

Auch gesellschaftlich hat die Literatur längst ihre Bedeutung eingebüsst. In den Schulen gilt sie als sperrig; es ist schlichtweg aus der Mode gekommen, Bücher jenseits des Fantasy-Genres zu lesen. Wer manchmal in Hilfeforen schaut, entdeckt entgeisterte Schüler, die ein Buch lesen sollen aber angeblich oder wirklich keinen Zugang finden. Der Projektleiter von «Handkeonline», auf der werkgenetische Daten zu Peter Handkes Schaffen für das Internet aufbereitet wurden, berichtete neulich von detaillierten Anfragen nach vorformulierten Texten sowohl von Schülern als auch Studenten über Teilaspekte eines Werkes des Dichters. Manchmal wurden auch Fristen genannt, bis zu denen man die Antworten erwartete; bei einigen pressierte es. Da passt es, dass der «Ghostwriter» auch im akademischen Bereich immer mehr Interessenten findet, obwohl so etwas nicht gestattet ist. Aber der Betrieb ist hier erstaunlich flexibel, wie sich auch am Umgang mit Plagiaten zeigt, die zwar skandalisiert werden, aber binnen kurzer Zeit vergessen sind.

Im bereits erwähnten Artikel von Roman Bucheli aus dem Jahr 2013, der im Feuilleton nur sehr ungenügend rezipiert wurde (es gab nur eine ablehnende Stimme), wird eine Möglichkeit einer sich im Internet neu findenden Literaturkritik entwickelt. Er sieht im «ungeduldige[n] Leser» der digitalen Welt eine Chance und er kommt zu dem verblüffenden Schluss, dass die «Intoleranz gegenüber schwacher sprachlicher und inhaltlicher Profilierung» steige. Kritik im Netz muss «anders oder besser sein», sonst wird der Leser, so die These, einfach wegklicken. Bucheli stellt klar: «Das bedeutet für die Literaturkritik nicht, dass die Antwort nur Boulevardisierung heissen kann» und verkündet fast euphorisch: «Das Gegenteil trifft zu».

Aber hierfür sei es notwendig, mit einem «nachvollziehbaren und komplexen Kriterienkatalog Bücher zu bewerten» und nicht einfach nur «gedruckte Inhalte ins Netz zu stellen». Bucheli plädiert für eine «ins Essayistische ausgeweitete Literaturkritik, die immer zugleich das Besondere eines Werks wie das Allgemeine der Ästhetik und des kritischen Bewusstseins im Auge behält». So könnten sich im Netz Plattformen «kritisch-analytische[r] Kompetenz» entwickeln und die analoge Literaturkritik sozusagen fortschreiben. Denn das Netz hat keine Zeilenvorgaben, es ist sozusagen «offen».

So könnte das Internet als Möglichkeit zur Vertiefung von Inhalten dienen – eine Idee, die dem gängigen Bild des «oberflächlichen Netzes» diametral entgegensteht. Vielleicht wäre auch die Öffnung hin zur Literaturwissenschaft eine weitere Möglichkeit. Hierdurch könnte man wieder zu innerliterarischer Beschäftigung mit Texten finden. Aber die Literaturwissenschaftler müssten hierfür aus ihren zum Teil sehr hermetischen Elfenbeintürmen hinaustreten, ihre Texte eingängiger formulieren, ohne in Verflachungen zu verfallen. Und wie wäre es, wenn man gleichzeitig für den interessierten Laien eine Art Videokolleg mit Basiswissen über Literatur und Literaturkritik anbieten würde? Dass einem die Literatur in der Schule vergällt wurde, muss kein Urteil für die Ewigkeit sein.

Schütte wünscht sich eine Bündelung der literaturkritischen Aktivitäten im Netz an einer zentralen Stelle (der Redaktion), die den literarischen Diskursraum zusammenhält und dadurch sukzessive eine gewisse Meinungsführerschaft gewinnt. In einer Antwort auf Schütte in der «Perlentaucher»-Debatte schlägt der Chefredaktor der Literaturzeitschrift Merkur, Ekkehard Knörer, ein Modell wie die Los Angeles Review of Books vor, während Florian Kessler der Klage über die Vereinzelung der Blogs und Literaturseiten widerspricht und stattdessen die Vielfalt preist (die Schütte eigentlich gar nicht angegriffen hatte).

Schüttes Vorschläge sind aller Ehren wert. Wo andere nur klagen, bringt er Ideen. Aber der Unterschied zum gängigen Feuilleton verblasst immer mehr, je weiter er die Vorschläge ausbreitet. Eigentlich – um es polemisch zu sagen – soll alles so sein wie man es im «Betrieb» bisher auch kennt, inklusive der beteiligten Personen. Nur das Medium ist jetzt das Internet. Auch die meisten der Antworttexte und Kommentare gehen irgendwie stillschweigend von dem «Feuilleton-Wir» aus. Man stellt schon seine Teilnahme in Aussicht. Auf die Idee, dass sie, die im Treibhaus längst sitzen, diesmal vielleicht eher nicht gemeint sein könnten, kommen sie nicht.

Leserbeiträge

Peter Eberhard 13. Juli 2015, 18:03

Entweder eine Person interessiert sich für gute Literatur, und dann liest sie die regelmässigen Rezensionen in der NZZ & Co. (ob Print oder Online) bzw. die Literaturbeilagen (z.B. die hervorragende der NZZ am Sonntag), oder diese Person hat nichts mit guter Literatur am Hut, und dann sind auch alle anderen Lockmittel für die Katz. So einfach ist das.

urs 16. Juli 2015, 23:07

Es wundert mich, diesen hervorragenden Beitrag beim Perlentaucher nicht wenigstens verlinkt vorzufinden. Soviel zur angeblichen Debatte.

Lothar Struck 17. Juli 2015, 13:54

Der Beitrag wurde im Perlentaucher-Medienticker verlinkt. Inzwischen habe ich auch Wolfram Schütte per Mail über meinen Text informiert. Warum der Beitrag nicht auf der „Debattenseite“ verlinkt ist, die ja angeblich „alle Artikel“ auflistet, kann ich nicht sagen; hier müsste ich spekulieren. Dieses kleine Beispiel zeigt übrigens schön, dass der „Perlentaucher“ mitnichten eine neutrale Presseschau ist, für die man ihn allenthalben hält, sondern durchaus selektiv agiert.

urs 17. Juli 2015, 20:23

Danke für den Hinweis auf den PT-Medienticker!, auf der Debattenseite fehlt er immer noch, trotz der gerade erst heute dort vorgenommenen Aktualisierung, ebenso ist auch der Beitrag von Renate Giacomuzzi http://www.uibk.ac.at/literaturkritik/zeitschrift/1329530.html nicht erwähnt, auch https://bersarin.wordpress.com/2015/07/17/literatur-und-literaturkritik-und-darueber-hinaus-ghostwriters-in-the-sky/ ist abgängig, für mich liegt daher der Verdacht nahe, dass vor allem Beiträge aus den alten Medien bzw. im Betrieb bekannte Namen -Ausnahmen bestätigen die Regel- gefeatured werden sollen. Schade!