von Nick Lüthi

Ein Ritual verliert an Kraft

Zum sechsten Mal ist Ende Oktober das Jahrbuch «Qualität der Medien» erschienen. Die Branche nimmt die Befunde der Forscher – wenn überhaupt – nur noch nüchtern rapportierend zur Kenntnis. Das Aufregerpotenzial ist verpufft. Als Anknüpfungspunkt für eine Qualitätsdebatte hat das Jahrbuch an Kraft verloren. Der Verlust von Kurt Imhof ist spürbar.

Am heftigsten jaulten jeweils jene auf, die sich besonders missverstanden fühlten. Erfolgreiche Online-Strategen und gestandene Boulevard-Profis konterten mal wortreich analytisch, mal zugespitzt und im Frontalmodus die Befunde des Jahrbuchs «Qualität der Medien». Woraufhin die Forscher nicht minder pointiert replizierten und so eine Art Debatte entstehen konnte, wenn auch weniger über die Qualität im Journalismus an sich, als über die von den Praktikern angezweifelten Methoden und Messgrössen. Ein Forschungstransfer von der Uni in die Redaktion gelang so zumindest in Teilen.

Triebkraft für die Diskussionen war Kurt Imhof. Der Soziologe und Initiator des Jahrbuchs meldete sich zu Wort, wo immer sich Kritik und Zweifel an der Arbeit seines Forschungsinstituts erhob. Anfänglich bot er damit eine willkommen Zielscheibe für all jene, die im Jahrbuch eine praxisferne Veranstaltung mit untauglichem Instrumentarium sahen und sich grundsätzlich gegen wissenschaftliche Aussagen über ihr journalistisches Handeln sträubten. Mit seiner aktiven Medienpräsenz, sei es in Gastbeiträgen, unzähligen Radio- und Fernsehauftritten, aber auch Blog-Kommentaren sowie oft gewitzten Twitter-Wortwechseln, gab Imhof dem Jahrbuch ein Gesicht. So wandelte er sich auch in der Wahrnehmung seiner Kritiker vom Punchingball zum Sparringpartner. Selbst eingefleischte Gegner einer wissenschaftlichen Messbarkeit der Medienqualität schätzten schliesslich seine Offenheit und Beharrlichkeit in der Debatte.

Vor einem halben Jahr ist Kurt Imhof gestorben. Das Jahrbuch erscheint weiterhin. In diesem Jahr zum sechsten Mal. Und Imhof fehlt. Besonders jetzt, wo ein gewisser Gewöhnungseffekt an die stets gleich lautenden Qualitätsbefunde einsetzt. Wohl im Wissen darum haben die Forscher und Wissenschaftlerinnen den Fokus in diesem Jahr nicht auf das in früheren Jahren zentrale Qualitätsranking gelegt, sondern auf das Mediennutzungsverhalten junger Erwachsener. Darüber wurde denn auch brav berichtet. Eigenständige Ansätze, dieses topaktuelle Thema zu vertiefen, suchte man allerdings vergeblich. Die Berichterstattung erfolgte «wie von den Forschern mit ihrer Pressemitteilung intendiert», beobachtete etwa Stephan Russ-Mohl, Medienwissenschaftler an der Uni Lugano.

Im Vergleich mit den Vorjahren gab es noch nie so wenige Reaktionen. In Deutschschweizer Publikumsmedien finden sich rund ein Dutzend Eigenleistungen zum Thema, in der Westschweiz gar nur ein einziger Artikel (gemäss Nennung in der Schweizer Mediendatenbank SMD). Dass der Forschungstransfer nur mehr schlecht gelingt, liegt nicht allein daran, dass Jahrbuch-«Botschafter» Kurt Imhof fehlt:

  • In diesem Jahr fiel die Veröffentlichung in eine Zeit, wo gleich mehrere Redaktionen stark mit sich selbst beschäftigt waren. Das Leitungspersonal, das in den letzten Jahren immer wieder Zeit fand, gegen die Wissenschaftler anzuschreiben, musste sich diesmal mit neuen Führungsstrukturen und Sparmassnahmen herumschlagen. Dass sich der Tages-Anzeiger nicht mit einer Agenturmeldung begnügte, mag vermutlich der Tatsache geschuldet sein, dass dessen Inlandchef als geladener Diskutant an der Präsentation des Jahrbuchs teilnahm.
  • Die Herausgeberschaft vom Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft fög der Uni Zürich besteht aus den Medien weitgehend unbekannten Figuren. Einzig Mark Eisenegger, der Leiter des Projekts, konnte sich in den letzten Jahren mit regelmässigen Medienauftritten eine gewisse Bekanntheit erarbeiten, zählt aber nicht zum Kreis der Allerweltsexperten.
  • Von den prominenten Donatoren (u.a. Post, Credit Suisse, Allreal), welche die Herausgabe des Jahrbuchs mit stattlichen Summen erst ermöglichen, wäre kein Engagement bekannt, mit dem sie ihre Unterstützung für das Forschungsprojekt öffentlich begründen.

Den Herausgebern ist das Defizit ihrer Transferleistung durchaus bewusst und das fög unternimmt auch einiges dagegen. So wurde an der Medienkonferenz zur Vorstellung das aktuellen Jahrbuchs die Präsentation der Ergebnisse bewusst knapp gehalten und die Veranstaltung mit einer Podiumsdiskussion aufgelockert, wo Redaktoren, Forscher und professionelle Beobachter die Befindlichkeit der Branche im Spiegel der wissenschaftlichen Diagnose ausloteten. Ausserdem präsentierte Mark Eisenegger die Ergebnisse des Jahrbuchs jüngst am Journalistentag in Winterthur.

Natürlich setzen solche Bemühungen auch die Bereitschaft der Medienschaffenden voraus, sich auf eine Qualitätsdiskussion einzulassen. Aber die war noch nie besonders ausgeprägt. Schnell ist jeweils das Totschlagargument zur Hand: Ihr habt keine Ahnung, uns geht es ausgezeichnet und überhaupt waren die Medien noch nie so gut und vielfältig wie heute. Man solle doch nur einmal eine Zeitung von vor 20 Jahren in die Hand nehmen und mit dem heutigen Angebot vergleichen.

In diesem Zusammenhang wäre es höchst aufschlussreich, wenn das fög seine Qualitätsuntersuchung für einmal in die Vergangenheit verlegen und einen historischen Pressejahrgang unter die Lupe nehmen würde mit dem Ziel, einen aussagekräftigen Vergleich zwischen der Medienqualität von gestern und heute zu erhalten.

Doch auch für Gegenwart und nahe Zukunft fehlen teilweise verlässliche Daten. Insbesondere bei der Messung der Social-Media-Nutzung gibt es Defizite. So hat das fög für das aktuelle Jahrbuch via themenpuls.ch ermittelt, welche Inhalte über Facebook und andere Plattformen häufig geteilt werden und daraus auf das Mediennutzungsverhalten in Social Media insgesamt geschlossen – was denn auch prompt von Sachverständigen als unzulässiger (Kurz)schluss kritisiert wurde.

Wenn die Autor- und Herausgeberschaft des Jahrbuchs «Qualität der Medien» in Zukunft wieder die Debatte über Medienleistung und -qualität befeuern will, taugt ihr bisheriges Instrumentarium dazu nur noch beschränkt. Ein zweiter Kurt Imhof ist nicht in Sicht. Die Aussicht, irgendwann allein dazustehen und zu sagen, wir haben es schon immer gewusst, reicht nicht als Antrieb für Forschung mit einem hohen Transferanspruch.

Leserbeiträge

bugsierer 11. November 2015, 09:32

den vorschlag, mal einen historischen pressejahrgang zu analysieren finde ich sehr gut. fög, bitte machen.

dass sich die branche nur widerwillig und minimal damit auseinandersetzt, finde ich von jahr zu jahr gschpässiger. eigentlich ein affront den lesern gegenüber. etwas geckenhaft, eingebildet und unprofessionell kommt das ja schon rüber.

der verlust von imhof ist kolossal. er war eine ausnahmefigur, ein gigant, kaum zu ersetzen.

Mark Eisenegger 11. November 2015, 12:12

Bereits vor drei Jahren diagnostizierte die Medienwoche an dieser Stelle im Beitrag „Die Ignoranten und der Hofnarr“, dass das Jahrbuch Qualität der Medien ignoriert oder nicht ernst genommen werde. Im Beitrag von 2012 war für die Medienwoche Kurt Imhof bzw. seine angeblich polarisierende Wirkung das Problem. Nun ist es gerade das Fehlen Kurt Imhofs, das einem Erfolg im Wege stehen soll. Wie schaut es denn nun tatsächlich mit der Medienaufmerksamkeit für das aktuelle Jahrbuch aus? Fakt ist, dass das diesjährige Jahrbuch im Vergleich zum Vorjahr bisher signifikant mehr Resonanz ausgelöst hat (smd-Suche allein greift zu kurz). Auch der Anteil von redaktionellen Beiträgen über das Jahrbuch ist im vergleichbaren Zeitraum bisher grösser als im Vorjahr. Korrekt ist also, dass es sich beim Jahrbuch um ein sozialwissenschaftliches Projekt mit weit überdurchschnittlicher Beachtung handelt. Selbstverständlich gibt es aber bezüglich Resonanz und Diskurs über ein Forschungsprojekt wie dem unsrigen immer Luft nach oben. Wichtig und richtig ist die Aussage, dass ein Langzeitvergleich der Medienqualität von heute und gestern lohnend wäre. Exakt eine solche Studie ist in Arbeit.