von Daniel Ryser

Wider den lokalen Filz und Betriebsblindheit

Die Geschichten liegen auf der Strasse. Sie wollen nur aufgehoben werden. Dazu braucht es Journalistinnen und Journalisten mit Gespür, Geduld und Zeit für Gespräche. Nur wenn sie ihrem Gegenüber mit Respekt begegnen, kriegen sie die guten Geschichten. Ein Gastbeitrag von WOZ-Redaktor und Buchautor Daniel Ryser anlässlich des MAZ-Recherchetags.

Manchmal scheint es ja tatsächlich so, als würde es einen stillen Handschlag geben zwischen den Mächtigen und der Presse. Wie konnte es zum Beispiel sein, dass es die Zürcher «Weltwoche» brauchte, die aufdeckte, dass der St. Galler Kantonsratspräsident (FDP) 46 offene Betreibungen am Laufen hatte? Warum brachte die lokale Monopolzeitung «St. Galler Tagblatt» die Story nicht, die in St. Gallen offenbar längst die Runde machte? Spielte der FDP-Filz? Waren die ortskundigen Journalisten einfach zu faul? Steckte man zu sehr im Alltagsstress? Kannte man sich vielleicht sogar und war betriebsblind geworden? Und welche Rolle spielten die alten Hasen auf der «Tagblatt»-Redaktion, die häufig nur zu gerne an der Morgensitzung ihr Gärtchen verteidigen, in dem sie den jungen Journalisten sagen: «Das ist keine Story, denn darüber haben wir schon vor fünf Jahren berichtet.»

Eigentlich ist es eine kleine Schande, dass es den Zürcher Journalisten und «Weltwoche»-Vize Philipp Gut brauchte. Eine Quelle war an ihn herangetreten, die offenbar kein Vertrauen in die lokalen Medien hatte, und, noch schlimmer, laut Gut offenbar bereits einen Lokaljournalisten darauf aufmerksam gemacht hatte. Der brachte die Geschichte nicht.

Lauter Fragen, die man sich stellen muss, und die man auch in Bern stellte, nachdem ich in der WOZ getitelt hatte: «Amtlich bewilligter Polizeiterror». Auf zwei Seiten breitete ich umstrittene Methoden einer Sondereinheit der Kantonspolizei Bern aus, die besetzte Häuser stürmte – nota bene legal zwischengenutzte – und dort Dinge veranstaltete, die ein von mir zu Rate gezogener Berner Staatsrechtsprofessor als derart haarsträubend einstufte, dass sie, sollten sie nachgewiesen werden können, kriminell sind. Die Folge der Berichterstattung war, dass der Kanton Bern erst zum zweiten Mal in seiner Geschichte einen ausserkantonalen Staatsanwalt beauftragte, die Ereignisse zu untersuchen.

Warum brauchte es dazu die WOZ?
Als ich 2010 in Zürich lange über Fussballhooligans recherchierte, waren sie ganz verblüfft, dass man mit einem Journalisten reden kann (und dies, obwohl die Vorzeichen schlecht gestanden hatten – ich hatte in der WOZ publik gemacht, dass der Sicherheitschef des Zürcher Lezigrund-Stadions für Hooligans seltsame Erotikshows veranstaltet hatte). Sie hatten noch nie mit einem Journalisten gesprochen, die Journalisten wiederum schienen aus der Ferne alles über Hooligans zu wissen, obwohl auch sie noch nie mit einem Hooligan geredet hatten. Als Quelle dienten Einschätzungen von Polizei und Szeneexperten, aber nicht die Akteure selbst. So schafft man eine Distanz, die irgendwann unüberbrückbar wird. Wir Journalisten werden dann zu Experten aus der Ferne, zu Experten in Anführungszeichen.

Der Schlüssel zur Recherche lag darin, sich Zeit zu nehmen. Das ist einerseits wirklich keine Hexerei, andererseits: Zeit muss man sich in diesem temporeichen Geschäft in der Tat ganz aktiv nehmen, sich also auch dem nervenden Redaktor verweigern, der ja eine leere Zeitung füllen muss und die Story schon morgen im Blatt haben will, sowie auch dem eigenen schlechten, (protestantischen?) Gewissen, das nagt, wenn man mal ein paar Ausgaben aussetzt. Dabei arbeitet man im Hintergrund ja fleissig! Die Recherche über die Zürcher Fussballhooligans dauerte letztlich ein Jahr, bevor ich sie als Buch publizierte («Feld-Wald-Wiese. Hooligans in Zürich»).

Als ich mit den Berner Hausbesetzern redete (die Häuser waren, ein wichtiges Detail, längst legal zwischengenutzt, die Bewohner angemeldet), waren sie verblüfft, dass es möglich ist, sich mit einem Journalisten hinsetzen und einfach mal die eigene Sicht der Dinge schildern zu können. So, als gäbe es in Bern keine lokalen Zeitungen. Der Lokaljournalismus hat in diesem Fall gepennt, und es ist mir unverständlich wieso. Denn die Geschichte wurde den JournalistInnen in die Redaktion geworfen: Man hat sich aber darauf beschränkt, Communiqués abzudrucken, welche die Hausbesetzer den Medien zustellten. Man zitierte die schweren Vorwürfe, dem stellte man die Antworten der Polizei gegenüber, die natürlich alles in Abrede stellt.

Die logische Konsequenz: Man drehte sich im Kreis und kam nicht weiter. Aber wenn ich in kurzer Zeit zwei Communiqués in den Händen halte, wo man mir mitteilt, dass eine schwer bewaffnete Sondereinheit eine legale Zwischennutzung gestürmt und kurz und klein geschlagen habe, und dabei zudem mehreren Hausbewohnern die Augen verbunden habe, dann schreit das doch nach einer Geschichte. Schon nur aus pragmatischen Gründen: So spannend ist das Journalistenleben nun auch wieder nicht. Stattdessen taten die Lokaljournalisten nichts, und ich kam, erst Monate später, ins Spiel, durch eine Bernerin, die mich auf die Geschichte aufmerksam machte und auch mit dem Hinweis, die lokalen Medien würden sich der Sache nicht annehmen.

Man muss sich im Lokalen natürlich gegen alle möglichen Verstrickungen abgrenzen: Gegenüber lokalen Verbandelungen (mehrere ehemalige Journalisten haben den heute üblichen aber eigentlich bizarren fliegenden Wechsel vom Journalismus in die PR-Branche vollzogen und arbeiten inzwischen bei der Berner Kantonspolizei im Mediendienst); abgrenzen muss man sich womöglich auch gegen den Umstand, dass der Chef mit dem anderen Chef freitags Golf spielt; oder im Rotary-Club diniert. Wo sich Chefredakteur und Verleger halt so rumtreiben. Kann ein Problem sein. Man muss sich auch abgrenzen gegen Vorurteile, wonach die Polizei, mit der man ja immer wieder mal zu tun hat, immer recht hat und Hausbesetzer hingegen, mit denen man eher weniger zu tun hat, grundsätzlich zweifelhaft seien, weil eine Hausbesetzung ja schon grundsätzlich ein Straftatbestand darstellt. Derartige Voreingenommenheit dürfen wir uns als Journalisten nicht leisten – uns braucht zu interessieren, ob unsere Quellen glaubwürdig sind.

Und wenn mir zwölf knapp zwanzig jährige Frauen unabhängig voneinander immer wieder die gleiche Geschichte erzählen, und, für meine Akten, auch mit ihren Namen dazu stehen, dann muss etwas dran sein – vor allem, wenn wie in diesem Fall, die Polizei die Härte der Einsätze mit der Gefährlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner rechtfertigt. Aussage stand gegen Aussage, aber die Aussagen der Hausbesetzer erschienen derart schlüssig, dass die Justiz zum Schluss kam, dass die Möglichkeit besteht, dass die Polizei mit ihren Gegendarstellungen hier nicht informiert, sondern desinformiert hat. Im Fall von Bern gab es in der Folge einen Knall, die Geschichte stiess auf erhebliche Resonanz – weil in Bern offenbar sehr viele Leute schlechte Erfahrungen mit einer – so der Vorwurf – häufig unverhältnismässig agierenden Polizei gemacht hatten, und somit regelrecht auf diese Geschichte gewartet hatten. Aber, und das ist die Kritik in diesem Fall, die Geschichte hatte ja auch auf der Strasse gelegen. Man hätte nur loslegen müssen.

Warum hat man nicht?
Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, eine Wochenzeitung hätte eben andere Möglichkeiten als eine Tageszeitung. Letztere müsse vor allem schnell agieren, schnell reagieren. Das stimmt, aber eben nur zur Hälfte. Ich habe selbst fünf Jahre lang für eine Tageszeitung gearbeitet, das zu Beginn gescholtene «St. Galler Tagblatt», und ich lieferte während Jahren täglich eine Story ab. Ich kenne die Mechanismen. Man läuft in der Tat Gefahr, vor lauter Abfüllen – Gemeinderatsberichterstattung, und da noch ein neues Restaurant, und dort noch ein Konzert und einer stellt am Freitag noch seine neuen Aquarelle aus – keine Zeit mehr zu finden für die Geschichten, die über das hektische Tagesgeschäft hinausgehen, für aufwändige Recherchen, oder Gedanken, die über Tage reifen müssen. Aber diese Zeit, dafür kann ich nur wiederholt plädieren, muss man sich nehmen, und man kann sie sich auch nehmen. Das sind wir unserem Job schuldig.

Schön hochgestochen geredet, stimmt. Nur wie sich die Zeit auch wirklich nehmen? Hier einige Tipps für den stressigen Redaktionsalltag nach fünf Jahren Tageszeitung, fünf Jahren Wochenzeitung und dreieinhalb Jahren beim «Magazin»:

  • Nicht sofort an der Redaktionssitzung ankündigen, dass man eine Story am laufen habe: Sich damit einer Deadline verweigern, das nimmt erheblich Druck.
  • Sich nicht von Vorurteilen leiten lassen, und schon gar nicht von denen der alten Gärtchenverteidiger, die alles schon wissen, bevor es erzählt ist.
  • Zuerst einmal Ordnung: Was weiss ich? Was will ich wissen?
  • Dann in aller Ruhe die Leute angehen, sie auch mal zu rein informellen Gesprächen treffen
  • Mantra: Die Geschichte kommt erst, wenn sie fertig ist, ich lass mich nicht stressen, denn dann mache ich nur Fehler (das hilft wirklich ungemein!)
  • Erzähl deiner besten Freundin, was du für eine Geschichte am laufen hast (und am besten nimmst du deinen Monolog gleich auf Band auf – denn mit ein bisschen Glück reduziert sich der riesige Stapel an gesammeltem Material in der mündlichen Erzählung auf die spannendenden und wesentlichen Aspekte – und das ist dann womöglich schon der rote Faden deiner Story)
  • Zu einer grossen Recherche gehört auch die Produktionszeit, also sorgfältiges Gegenlesen – auch dazu muss man sich Zeit einplanen
  • Hausbesetzer sagen genauso die Wahrheit wie Polizisten (Was ich sagen will: Wenn dir jemand glaubwürdig erscheint, dann nimm ihn genauso ernst wie einen Polizeisprecher, der quasi seines Amtes die Wahrheit sagt – aber sagt er wirklich immer die Wahrheit?)
  • Fürchte nicht, dass du abgestraft wirst! Dies wiederum ist in der Tat der Vorteil einer überregionalen Wochenzeitung: Mir kann man in Bern nichts nachtragen, dem lokalen «Bund»-Redaktor schon. Nichts mühsamer, wenn morgens ein empörter Bürger im Büro steht, dem man Rechenschaft ablegen muss (andererseits: Konfrontation kann auch hilfreich sein!); definitiv mühsam ist es, wenn der Chef nervt, weil ihm sein Golfpartner vorgeschimpft hat, was für eine unseriöse Scheisse dieser Jungjournalist zusammenerfunden habe (obwohl er vielleicht sogar richtig lag). Nichts mühsamer, wenn Anzeigenkunden abspringen. Nichts mühsamer, wenn die ehemalige Bürokollegin plötzlich bei der Polizei arbeitet. Und trotzdem: Als Journalist muss man das aushalten können, auch wenn es in der Tat viel einfacher klingt, als es ist.
  • Rauchen hilft.
  • Trinken hilft übrigens nur bedingt (ist eigentlich dann am besten, wenn die Story abgeschlossen ist). Mal einen Monat lang keinen Alkohol trinken und demnach auch nicht dauernd in Bars rumlungern und klugscheissern, wie wir Journalisten das wahnsinnig gerne tun, kann in der Tat Wunder bewirken: Sich voll und ganz auf eine grosse Story konzentrieren; nur noch an die Story denken, so dass sich im Kopf alles zusammensetzt, und man am Schluss wie aus der Pistole geschossen alle Fragen, die sich stellen, beantworten kann.
  • Zuletzt: Wie das Vertrauen gewinnen von Leuten, die den Medien abgeneigt sind? Es gab mal auf einem Online-Portal eine Zusammenstellung von Gruppen, die an jenem berüchtigten «Reclaim the Streets» im Dezember 2013 teilgenommen haben sollen. Entstanden durch Rätselraten von Aussenstehenden. Das kann erstens nicht wirklich präzis sein und zweitens verbauen solche Storys dir den Zugang. Stichwort: «Lügenpresse!» Und vielleicht kann man diesen Vorwurf den Leuten manchmal ja nicht einmal verübeln. Wer dauernd aus der Ferne fertig gemacht wird, will nichts von Journalisten wissen. Dabei sollten wir Journalisten zwingend auch an den Rändern präzis sein, und nicht nur dort, wo die Macht sich ballt. Drum: Verzichte besser, wenn es irgendwie geht, im Zweifel auf die schnelle News-Story, bei der du selbst nicht sicher bist, ob sie so wasserdicht ist – halte dich für einmal zurück, denn du machst mit dem Schnellschuss mehr kaputt als du gewinnst (und zumindest hier weiss ich, wovon ich rede, es ist mir selbst zur Genüge passiert).
  • Versuche – aber immer mit offenen Karten – in eine Szene einzutauchen, und zwar anfangs ohne gezückten Stift in der Hand. Vertrauen braucht Geduld. Wir sollten uns dringend wieder davon verabschieden, jede Story gleich raushauen zu wollen. Im Moment arbeite ich, dies als praktisches Beispiel, intensiv an einer Recherche, die aber erst im Oktober erscheinen wird. Gewisse Dinge, gerade, wenn man sich an Rändern bewegt, lassen sich nicht erzwingen. Und klar, auch mit dem Bedenken, dass plötzlich ein anderer die Story bringen könnte – was aber bei komplizierten Geschichten sowieso eher nicht der Fall ist – muss man als Reporter leben können.

Der Text ist das Handout zum Werkstattgespräch mit Daniel Ryser am 4. Schweizer Recherchetag am MAZ in Luzern zu seinen Kapo-Bern-Recherchen.

Leserbeiträge

Hanspeter Spörri 29. Januar 2016, 09:37

Ich kann Dir nur zustimmen, lieber Daniel Ryser! Und noch den alten Satz beisteuern, wonach man sich nicht mit einer Sache gemein machen soll, auch nicht mit einer guten. Kann übersetzt werden mit: bitte nicht einschleimen, weder bei der Polizei, noch bei den Besetzern. Aber mit allen reden. Das ist einfach – und auch schwierig.
Und vielleicht noch diese unnötige Ergänzung: Mit Rauchen aufzuhören hilft auch. Gerade wenn man älter wird.