von Nik Niethammer

Von der gedruckten zur digitalen Vielfalt

Bis vor noch nicht allzu langer Zeit galten die Sonntagszeitungen als letzte Bastion der gedruckten Presse. Doch nun erodiert auch diese deutlich. Ein Blick zurück von der digitalen Gegenwart in die Gründungszeiten zeigt eine ungekannte Vielfalt an sonntäglichem Zeit(ungs)vertrieb. Unser Kolumnist hat sich im gut dokumentierten Archiv seines Vaters umgesehen.

Es gab eine Zeit, da verbrachte ich den Sonntag vor allem mit Zeitunglesen: ich stürmte frühmorgens den Kiosk meines Vertrauens, packte drei oder vier Sonntagszeitungen unter den Arm und verdrückte mich ins nächste Café. Dann schüttelte ich die Beilagen aus den Blättern, filetierte die einzelnen Bücher und gab mich der Lektüre hin. Gerne bis in den Nachmittag hinein, gerne ungestört.

Diese Zeiten sind vorbei. Heute lasse ich lesen. Mindestens drei News-Portale bieten ausführliche Presseschauen, ich weiss schon vor dem Frühstück, was geht. Ein Blick in die Timeline von Facebook und Twitter genügt – und ich spare mir den Gang an den Kiosk. Beispiele? Das grosse Interview mit Fabian Cancellara über seine letzte Saison im Sonntagsblick – online gelesen. Die scharfe Kritik von Christof Moser am 6-Milionen-Bonus von Tamedia-Tonini in der Schweiz am Sonntag – frühmorgens auf Twitter rauf und runter geteilt. Die Credit Suisse, die 3,2 Milliarden für externe Berater zahlt – eine Geschichte aus der «Sonntagszeitung» vom Ostersonntag – genau so.

Ein Blick in die MACH Basic-Studie 2015-2 zeigt: immer mehr lesen am Sonntag kein bedrucktes Papier mehr. Innerhalb eines Jahres haben alle grossen Sonntagstitel zwischen 4000 (NZZaS) und 28000 Leser (SoBli) verloren. Tendenz: steigend.

Zahlen, die den Verlegern den Angstschweiss auf die Stirn treiben. War die Sonntagspresse doch lange Zeit der Musterschüler im erodierenden Zeitungsmarkt, der umworbene Kanal der Werbewirtschaft. Wie es dazu kam – ein Blick zurück in die Anfänge der Schweizer Sonntagspresse offenbart Erstaunliches.

Wussten Sie, dass 1862 mit dem Appenzeller Sonntagsblatt die erste Sonntagszeitung der Schweiz erschien – aber nicht am 7. Tag der Woche, sondern an einem Samstag! Im selben Jahr belebten mit der «Schweizerischen Sonntags-Zeitung» und der Tribune Dimanche gleich zwei weitere Printtitel den Sonntag. 1889 ging der Huber-Verlag in Frauenfeld mit dem Sonntags-Blatt der Thurgauer Zeitung auf Leserfang. Die Zeitung umfasste acht Seiten Text, Inserate gab es keine.

80 Jahre und ein paar versprengte Versuche später erschien die erste Ausgabe des Sonntagsblick – mit einer Fussball-Schlagzeile: «Basel in der letzten Minute gerettet – 2:2 gegen Sion.» Am 23. März 1969 im Tabloid-Format gestartet, wechselte der SoBli noch im selben Jahr zum Broadsheet, kehrte aber 1976 zum kleinen Format zurück. Das Blatt aus dem Haus Ringier entwickelte sich fulminant und lag nach wenigen Jahren bei weit über 200’000 verkauften Exemplaren (beglaubigte Auflage heute: 179’586). Spezielle Ereignisse liessen den Verkauf jeweils sprunghaft ansteigen. So setzte das Blatt zum Tod von Romy Schneider am 30. Mai 1982 300’000 Exemplare ab. Der Sonntag als neuer Lesertag war definitiv lanciert.

In den folgenden Jahren schossen neue Sonntagsblätter wie Pilze aus dem Boden – das Sonntags-Journal (Jean Frey Verlag), das Sonntagsblatt des St. Galler Tagblatts, die Basler Zeitung am Sonntagabend oder die Sonntagszeitung der Berner Zeitung überlebten aber nur wenige Jahre.

1986 taten sich sechs Deutschschweizer Verlage zusammen und lancierten das Neues Sonntags-Blatt, von Viktor Giacobbo als die «Zeitung mit dem Sack am Ständer» verhöhnt. Die Zeitung konnte an 1600 Verkaufständern aus einem Plastiksack gefischt werden; dass jede dritte Zeitung gestohlen wird, hatten die Verleger im Budget eingerechnet. Das Blatt blieb mit rund 100’000 Exemplaren weit hinter den Erwartungen; der Schnellschuss, als Antwort auf die angekündigte SonntagsZeitung aus dem Haus Tamedia lanciert, verschwand Ende 1987 wieder vom Markt. Die Konkurrenz kommentierte bitterbös: «Sie tanzte nur einen Sommer“.

Zwischen 1987 und 2013 wurden in der Deutschschweiz nicht weniger als zehn neue Sonntagsblätter lanciert – fünf haben überlebt: Die SonntagsZeitung, die erste abonnierte SonntagsZeitung der Schweiz; die NZZ am Sonntag, die Zentralschweiz am Sonntag, der Sonntag (nach der Fusion 2013 mit der Südostschweiz am Sonntag entstand die Schweiz am Sonntag) und die Ostschweiz am Sonntag.

Das wohl überflüssigste Produkt wurde 2004 auf den Markt geworfen: Cracks for Kids, die «weltweite erste Sonntagszeitung für Kinder». Ziel der Macher war es, eine Sonntagszeitung speziell nur für Kinder herauszugeben, «damit Vater und Mutter am Sonntag in Ruhe IHRE Zeitung lesen können.» Das Konzept war wenig durchdacht und der Titel ziemlich bescheuert – nach zwölf Ausgaben fuhr Cracks vor Kids furios gegen die Wand.

Falls Sie sich jetzt fragen, woher ich das alles weiss: Nun, ich sitze sozusagen an der Quelle. Mein Vater ist gelernter Schriftsetzer und hat vor 60 Jahren seine grosse Sammlerleidenschaft entdeckt: Zeitungen. Heute besitzt er über 1100 Exemplare von mehr als 500 Titeln; Erst- und Letztausgaben, viele Sonder- und 200 Jubiläumsausgaben. Alle sind sie fein säuberlich erfasst und in säurefreien Kartonschachteln abgelegt. In den Anfängen kaufte er Titel in Antiquitätenläden und bei Archivaren, erkundigte sich bei Hausrenovationen nach alten Zeitungen, die früher als Isolationsmaterial verwendet wurden. Später schrieb er Verlage direkt an und bat um ein erstes oder letztes Exemplar. Oder wildfremde Menschen schickten ihm Schuhschachteln voll bedruckten Papiers, das sie beim Räumen von Kellern und Estrichen entdeckt hatten.

Die Geschichte der Schweizer Sonntagspresse hat es meinem Vater besonders angetan. Aber eine Prognose, wie es auf dem Sonntagsmarkt weiter geht, wagt auch er nicht. Während also sein Sohn immer weniger bedrucktes Zeitungspapier liest, hofft der Vater, dass sich Verleger in den letzten sonntagszeitungsfreien Flecken der Schweiz – Schaffhausen und Wallis – endlich ein Herz fassen…

Mein Vater wäre der erste, der die neuen Titel in seine Sammlung aufnehmen und für die Nachwelt bewahren würde.

Hinweis: 2010 übergab Raimund Niethammer seine Sammlung der Kantonsbibliothek Vadiana in St. Gallen. Sie wurde in den Bibliothekskatalog aufgenommen, ist elektronisch abrufbar und kann vor Ort eingesehen werden.