von Silke Fürst und Mike Meißner

Regelwerk mit Lücken an den entscheidenden Stellen

Medienschaffende und Verleger verpflichten sich im Pressekodex auf gemeinsame berufsethische Grundsätze. Allerdings liefert das Regelwerk keine brauchbaren Antworten auf die Frage, wie sich Journalistinnen und Journalisten verhalten sollen, wenn Chefredaktion oder Verlag wohlwollendes Verhalten gegenüber Werbekunden verlangen. Auf Spurensuche in den Grundlagendokumenten zur Berufsethik.

BaZ-Chefredaktor und Verleger Markus Somm forderte Werbekunden kürzlich unverblümt dazu auf, sich missliebige Berichterstattung nicht gefallen zu lassen. Werbeboykotte hätten ihre Berechtigung, denn inserierende Unternehmen müssen sich nicht «auf der Nase rumtanzen» lassen. Das heisst für ihn auch: «Wenn die Migros bei mir ein Inserat macht, dann muss sie sich nicht blöde heruntermachen lassen. Das ist einfach so.»

Verlegerpräsident Hanspeter Lebrument stärkte Somm den Rücken und sagte gegenüber der NZZ am Sonntag, dass die saubere Trennung zwischen redaktionellem Teil und Werbung heute nicht mehr funktioniere. Kompromisse seien notwendig geworden. Auch seine «Südostschweiz»-Titel seien darauf bedacht, Grosskunden nicht durch kritische Berichterstattung zu verärgern.

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die diese Aussagen problematisieren. Journalismusforscher Vinzenz Wyss spricht von einer «Bankrotterklärung», WOZ-Redaktor Kaspar Surber von einem «vorauseilenden Gehorsam des Verlegerpräsidenten». Denn es geht nicht nur darum, wie Redaktionen und Verlage mit Boykottdrohungen umgehen. Vielmehr geht es grundsätzlich um die innere Pressefreiheit und die alltäglichen redaktionellen Entscheidungen. Kann und soll die redaktionelle Auswahl und Darstellung von Themen so getroffen werden, dass Werbekunden möglichst wenig Grund zu Verärgerung haben? Können sich Journalistinnen und Journalisten auf das Ethos einer unabhängigen Presse berufen oder riskieren sie ihre Stellung, wenn sie kritische Berichte über Werbekunden bringen wollen?

Auf diese Fragen und die derzeitige Debatte müsste eigentlich der Pressekodex des Schweizer Presserats klare Antworten geben. Denn der Presserat will mit seinem Regelwerk zur Selbstregulierung und Unabhängigkeit der Presse beitragen und zugleich eine «proaktive Wirkung» entfalten, die den Erwartungen des Publikums an die ethischen Standards der Medien gerecht wird. Doch so sehr sich Medienschaffende durch die Aussagen Somms und Lebruments in ihrer Unabhängigkeit bedroht sehen – vor dem Hintergrund des Schweizer Pressekodex sind sie kaum problematisch. Zwar werden in der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» und in den dazugehörigen Richtlinien die Unabhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten und der Umgang mit Werbung behandelt. Grundlegende Probleme werden aber nicht direkt thematisiert.

Ziffer 2: Sie verteidigen die Freiheit der Information, die sich daraus ergebenden Rechte, die Freiheit des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufes.

Was bedeutet das konkret? Die Richtlinien hierzu betonen die Informationsfreiheit, den Meinungspluralismus und die notwendige Trennung von Fakten und Kommentar. Sie betonen auch, dass Journalisten und Journalistinnen keine öffentliche Funktion ausüben dürfen, um Rollenkonflikte zu vermeiden. Journalistische Kritik und Unabhängigkeit werden hier in erster Linie zu einer Frage der persönlichen Interessen von Redaktoren und der journalistischen Darstellungsformen und Handwerksregeln. Die Richtlinien geben keine Hinweise darauf, wem die Kritik gelten darf und sollte.

Ziffer 9: Sie nehmen weder Vorteile noch Versprechungen an, die geeignet sind, ihre berufliche Unabhängigkeit und die Äusserung ihrer persönlichen Meinung einzuschränken.

In den Richtlinien wird zu «ständige[r] Wachsamkeit» mit Blick auf «die Annahme von individuellen Einladungen und Geschenken» aufgerufen und vor persönlichen «Interessenbindungen» und «Interessenskonflikt[en]» gewarnt. Aussen vor bleibt, dass Journalisten in redaktionelle Abläufe und Entscheidungen eingebunden sind und sich die Frage der Unabhängigkeit hier mit Blick auf wirtschaftliche Interessen des Medienunternehmens stellt.

Ziffer 10: Sie vermeiden in ihrer beruflichen Tätigkeit als Journalistinnen und Journalisten jede Form von kommerzieller Werbung und akzeptieren keinerlei Bedingungen von Seiten der Inserentinnen und Inserenten.

Die erklärenden Richtlinien zu Ziffer 10 verdeutlichen, dass Werbung gekennzeichnet werden muss und keine «unkritische oder hochlobende» Produktberichterstattung sowie Kopplungsgeschäfte erlaubt sind. Inserate dürfen also nicht angenommen werden, wenn sie an die Erstellung bestimmter redaktioneller Beiträge geknüpft werden («begleitende» Berichterstattung als «Gegenleistung»). Zudem sollen Journalistinnen und Journalisten Boykottdrohungen nicht nachgeben, sondern diese öffentlich machen. Dies sind zweifelsohne wichtige Aspekte. Allerdings stehen wiederum Darstellungsformen sowie direkte Absprachen mit Werbekunden im Fokus. Unberücksichtigt bleibt das alltägliche Problem, dass Werbekunden durch die Nachrichten- und Ereignislage zum Gegenstand der Berichterstattung werden.

Jene Ziffern, die die Unabhängigkeit und den Werbekundeneinfluss explizit behandeln, stellen also keine ethischen Regeln dazu auf, dass die Berichterstattung über Werbekunden genauso zu erfolgen hat wie über jedes andere Unternehmen auch. Die Problematik, dass Redaktionen über etwas nicht berichten, worüber sie angesichts ihrer journalistischen Relevanzkriterien berichten sollten, wird nicht ausreichend gewürdigt. Mit anderen Worten: Wer einen kritischen Bericht über einen Grosskunden fallen lässt oder bestimmte Ereignisse aus Rücksicht gegenüber Werbekunden nicht veröffentlicht, verstösst nicht erkennbar gegen den Schweizer Pressekodex.

Wie steht es nun um die Journalistin, die einen Bericht bringen will, der in den Augen der Chefredaktion oder der Verlagsleitung einen Werbekunden verprellen könnte?

Ziffer 11: Sie nehmen journalistische Weisungen nur von den hierfür als verantwortlich bezeichneten Mitgliedern ihrer Redaktion entgegen, und akzeptieren sie nur dann, wenn diese zur Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten nicht im Gegensatz stehen.

Die Journalistin kann sich nur schwerlich auf die Erklärung der Pflichten berufen, denn diese gibt dazu keine konkrete Regel vor. Sie könnte allenfalls darauf verweisen, dass sie gemäss der erklärten Rechte im Pressekodex nichts tun muss, «was den Berufsgrundsätzen oder ihrem Gewissen widerspricht» (Punkt b). Hat die Journalistin damit das Recht, Weisungen der Redaktionsleitung nicht zu folgen? Bemerkenswerterweise ist Ziffer 11 die einzige Ziffer bezüglich der Pflichten, zu der es keine Richtlinie gibt. Die Protokollerklärung greift Ziffer 11 jedoch eigens auf und verbietet eine Einmischung des Verlegers. Der redaktionsinterne Konflikt, der in Ziffer 11 behandelt wird, wird so allerdings gar nicht kommentiert. Der Ratgeber des Schweizer Presserats stellt eine weitere Regel dazu auf, von wem Redaktoren publizistische Weisungen entgegennehmen: «Allenfalls nimmt er [der Verleger / Intendant] als Firmenverantwortlicher über den Chefredaktor Einfluss.»

Was aber sagt die Präambel? Dort wird betont, dass die Verantwortlichkeit der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit «Vorrang vor jeder anderen, insbesondere vor ihrer Verantwortlichkeit gegenüber ihren Arbeitgebern» hat. Allerdings hat die Erweiterung der Trägerschaft der Stiftung Schweizer Presserat auf Verleger und SRG im Jahr 2008 unter der Bedingung stattgefunden, dass die Erklärung nur im Rahmen von sogenannten «Protokollerklärungen» anerkannt wird. In diesen heisst es, dass der «ideelle» Vorrang der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit «nichts an der arbeitsrechtlichen Kompetenzordnung» ändert. Durch dieses «Ja, aber» verliert die angedeutete Idee, dass die Öffentlichkeit über das relevante gesellschaftliche Geschehen unterrichtet werden muss, deutlich an Substanz. Diese Idee wird auch in Ziffer 1 aufgenommen:

Ziffer 1: Sie halten sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren.

Diese recht abstrakte Formulierung wird durch eine Richtlinie kommentiert. Diese setzt die Norm einer umfassenden Informationsrecherche und -überprüfung. Kein Wort findet sich jedoch dazu, dass ein Redaktor jene «Wahrheit», die er sorgfältig ermittelt hat, auch veröffentlichen darf und soll.

Erklärung, Protokollerklärungen, Richtlinien und Ratgeber bieten Journalistinnen und Journalisten also kein konsistentes und praxisnahes Regelwerk, das dem dringlichen Problem des Werbekundeneinflusses wirklich etwas entgegensetzen würde.

Unsere Mitte 2014 durchgeführte Studie zur journalistischen Berichterstattungsfreiheit hat gezeigt, dass in Schweizer Medien auf die Interessen von Werbekunden durchaus Rücksicht genommen wird. Nur 30 Prozent aller rund 1100 teilnehmenden Journalisten stimmten der Aussage zu, dass ihre Redaktion Nachrichten bringt, «die für das Image unserer Werbekunden schädlich sein könnten» (Skalenwerte 3 bis 5 auf einer Skala 0 bis 5). Einige Redaktionen bringen negative Nachrichten über einen grossen Werbekunden selbst dann nicht, wenn sie bereits von anderen Medien veröffentlicht wurden.

Neu sind diese Probleme jedoch nicht. NZZ-Redaktor und Stiftungsratsmitglied Rainer Stadler hat in seinem Blog auf eine lesenswerte Stellungnahme des Presserats aus dem Jahr 1994 verwiesen. Demnach leiten Journalistinnen und Journalisten aus der Präambel sowie aus den Ziffern 2 und 9 das Recht ab, sich auch über die Wirtschaft frei, unabhängig und kritisch zu äussern und stets Öffentlichkeit herzustellen, wenn ein Thema von gesellschaftlicher Relevanz ist. Denn «das Publikum erwartet von den Medien, dass sie das wirtschaftliche Geschehen laufend bewerten». Die zum Teil deutlichen Worte dieser Stellungnahme sind jedoch nicht in die nahezu jährlich aktualisierten Richtlinien aufgenommen worden. Die 2008 ergänzten Protokollerklärungen haben zudem zu einer Relativierung geführt.

Aus Sicht von Journalistinnen und Journalisten ist der Schweizer Pressekodex bisher nur von begrenzter Nützlichkeit für deren Arbeitsalltag. Möglichkeiten zur Verbesserung liegen nicht nur in einer konkreten Adressierung des Werbekundeneinflusses, sondern auch in der Benennung verschiedener Verantwortlichkeiten. Denn bisher stehen fast ausschliesslich die Redaktoren in der Pflicht. Sie sind laut Protokollerklärung die «Adressaten der berufsethischen Normen». Als Folie für Revisionen können nicht nur bisherige Stellungnahmen des Schweizer Presserats, sondern auch die Pressekodizes anderer Länder, insbesondere skandinavischer, genutzt werden.

Die derzeitige Debatte um die Aussagen von Somm und Lebrument bekäme dann auch aus berufsethischer Perspektive mehr Gewicht. Der Verlegerverband trägt den Presserat mit und steht entsprechend auch für den Pressekodex ein. Wenn zwei Präsidiumsmitglieder des Verlegerverbands den starken Werbeeinfluss auf die Berichterstattung zur Normalität erklären, ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass mehr getan werden muss.

Die Autorin und der Autor hielten zu diesem Thema am 8. April 2016 einen Vortrag auf der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft (SGKM) an der Universität Freiburg/Fribourg. Titel des Vortrags: «Schweizer Pressekodex – quo vadis? Ökonomisierung des Journalismus und medienethische Konsequenzen.» (gemeinsam mit Philomen Schönhagen, Brigitte Hofstetter und Manuel Puppis)