von Antonio Fumagalli

Das unangenehme Gefühl, wildfremde Menschen zu behelligen

Aus Zufall wurde unser Kolumnist für die Berichterstattung über den Vierfachmord von Rupperswil abberufen und stand unverhofft mitten im Geschehen. Im Journalistenpulk suchte er vor Ort nach verwertbarem Material. Einblick in einen ungewöhnlichen Arbeitstag.

Der Freitag vor zehn Tagen begann, wie Freitage auf der Bundeshausredaktion der Aargauer Zeitung in Bern so beginnen. Wir warfen einen Blick in die Zeitungen der Konkurrenz und diskutierten in der 9-Uhr-Sitzung die Themen für den nächsten Tag. Eine Kollegin nahm sich einem Abstimmungs-Leitartikel an, ein anderer sprach mit dem jammernden Bauernverbandspräsidenten und ein dritter kümmerte sich um die Wirrungen der Bodluv-Sistierung im Verteidigungsdepartement. Ich fing an, ein am Vorabend geführtes Interview zu transkribieren und war damit der Einzige, der nicht tagesaktuell eingebunden war. 

Kurz vor 11 Uhr kam ein Anruf von der Hauptredaktion in Aarau: Es sei eine Einladung für eine Pressekonferenz der Aargauer Staatsanwaltschaft und der Kantonspolizei für den Nachmittag eingegangen, die neue Erkenntnisse zum Vierfachmord von Rupperswil verspreche. Was dies genau heisse, wisse er auch nicht, sagte mir der Blattmacher am Telefon jedenfalls soll ich bitte gelegentlich meine Sachen packen und nach Aarau kommen, da die Redaktion vor Ort knapp besetzt sei.

Natürlich erinnerte ich mich noch an das mysteriöse Verbrechen, das kurz vor Weihnachten die Schweiz erschütterte. Ich hatte mich aber nie eingehend mit dem Fall befasst und keine einzige Zeile darüber geschrieben. Und plötzlich war ich mittendrin: Um 13 Uhr war ich in Aarau, um 15 Uhr an der Pressekonferenz und ab 15.05 Uhr hörte ich aus wenigen Metern Entfernung die Worte des Polizeichefs, die wohl jeden Zuhörer bis in Mark erschütterten: Nicht nur habe der Täter seinen Opfern die Kehle durchgeschnitten, zuvor habe er sich auch noch am 13-jährigen Sohn der Familie vergangen. Es war totenstill im Saal.

Nach der Pressekonferenz besprachen wir das weitere Vorgehen. Es war klar, dass jemand nach Rupperswil gehen musste, wo die Opfer und wie neuerdings bekannt auch der Täter wohnten. Als eingeplanter Springer war das ich, begleitet von einem Fotografen. Denn die Fragen waren weiterhin zahlreich: Wie reagiert die Bevölkerung des 4000-Seelen-Dorfes auf die schrecklichen Neuigkeiten? Und vor allem natürlich: Wer war der Täter? Aufgrund der Polizeiinformationen war nur bekannt, dass er Schweizer, 33 Jahre alt und in Rupperswil wohnhaft war.

Während meiner Zeit als Reporter bei «20 Minuten» war ich bei grösseren Ereignissen immer wieder mal «im Feld». Seither beschäftige ich mich in der Regel aber eher mit Kommissionen als mit Kommissaren, eher mit Angehörigen von Parteien als mit Angehörigen von Opfern. Entsprechend ungewohnt war im ersten Moment die Situation vor Ort in Rupperswil: Wohl auch wegen des garstigen Wetters hatte man zeitweise das Gefühl, an den «neuralgischen» Punkten wie Bahnhof oder Volg-Filiale tummelten sich mehr Journalisten als Anwohner. Einmal wollte mich gar ein Reporter eines lokalen TV-Senders befragen, bevor er dann den Notizblock in meiner Hand erblickte. Auch die Rupperswiler erwiesen sich nicht als sonderlich auskunftsfreudig.

Dank eines Hinweises der Zentralredaktion hatten wir dann plötzlich eine Adresse, wo der Täter offenbar gewohnt habe. Tatsächlich war die Türe des entsprechenden Hauses von der Polizei versiegelt und vor allem strichen schon andere Journalisten darum herum. Damit begann der wirklich gewöhnungsbedürftige Teil der Arbeit: Wir klingelten bei Nachbarn, um etwas über Thomas N. mittlerweile wussten wir seinen Namen zu erfahren. Wir sprachen mit Fussgängern, die zufällig vorbeispazierten. Interessant war dabei, dass sich unter den Journalisten eigentliche Schicksalsgemeinschaften bildeten: Obwohl wir für Konkurrenzmedien arbeiteten, sassen wir ja alle im gleichen Boot. So zog ich zeitweise mit einer «20-Minuten»-Reporterin, zeitweise mit dem Polizeireporter des Tages-Anzeigers um die Häuser. Andere Journalisten wiederum gingen bewusst auf Distanz.

Gewöhnungsbedürftig war das für mich vor allem darum, weil es mir nur beschränkt Spass macht, mir unbekannte Leute zu behelligen. Die meisten Angesprochenen wollten zuerst einmal gar nichts sagen und es braucht einiges Fingerspitzengefühl, um wildfremde Menschen nicht zu überrumpeln und dennoch etwas von ihnen zu erfahren. Man könnte ja meinen, dass die Nachbarn über einen der brutalsten Mörder, den die Schweiz je kannte, ausgiebig herziehen wollen – doch weit gefehlt. Der Schock, dass der Mann gleich neben ihnen lebte und mit seinen Huskies täglich an ihrem Haus vorbeispazierte, war in jenem Moment grösser als die Erleichterung über die Verhaftung.

Ob es mir gelungen ist, das nötige Fingerspitzengefühl an den Tag zu legen, weiss ich nicht. Mehr als einmal wurde mir die Türe vor der Nase zugeschlagen. Andere wiederum nahmen sich Zeit, konnten abgesehen von ein paar Äusserlichkeiten aber dennoch kaum etwas über den geständigen Mörder sagen. Zu zurückgezogen lebte er, zu wenig wusste man über sein Privatleben. Bei solchen Vor-Ort-Recherchen muss man sich immer auch vergegenwärtigen, was diese bei Angehörigen von Opfern und Täter auslösen könnten wobei es nicht nur um die Frage geht, ob man das Foto von N. verpixeln sollte. Darf man etwa das Haus des Täters, in dem auch seine Mutter wohnte, zeigen?  

Gleichzeitig hat die Öffentlichkeit ein enormes – die Klickzahlen belegen es – und durchaus legitimes Interesse an Informationen über ein derart skrupelloses Verbrechen und auch über den Täter selbst. Dieses zu befriedigen, ist ein Teil des Auftrages der Medien sonst schreiben sie an ihren Konsumenten vorbei. Das heisst freilich nicht, dass alles, was man als Journalist weiss, auch veröffentlicht gehört. Die Gratwanderung zwischen einer Berichterstattung, aus der die breite Öffentlichkeit Erkenntnisse gewinnt und die ihr bei der Verarbeitung eines Verbrechens hilft, und einer, die der reinen Befriedigung einer wohl urmenschlichen Sensationslust dient, ist schmal. 

Mir bleibt der 13. Mai 2016 als Arbeitstag der anderen Art in Erinnerung nicht nur, weil er erst um 21.30 Uhr zu Ende war. Ich glaube, dass es gerade Journalisten, die ihre Tage mehrheitlich hinter Computerbildschirmen und Dokumenten verbringen, durchaus mal guttut, etwas «Gras zu fressen» und sich die Schuhe dreckig zu machen. Und doch bin ich froh, dies nicht jeden Tag tun zu müssen.