von Gerhard Lob

Tessiner Staatsanwalt knebelt Journalisten

Vier Journalisten der Sonntagszeitung «il caffè» sollen im Tessin wegen einer Artikelserie zu einem Arztfehler in einer Privatklinik vor Gericht. Der Fall wirft hohe Wellen. Die Staatsanwaltschaft will Anklage wegen Diffamierung und unlauterem Wettbewerb erheben. Das Verfahren könnte zu einem landesweiten Präzedenzfall werden.

Die Tessiner Sonntagszeitung «il caffè della domenica» ist ins Visier der Justiz geraten. Der Tessiner Staatsanwalt Antonio Perugini hat kurz vor Weihnachten vier Journalisten mitgeteilt, dass er Anklage wegen übler Nachrede, eventualiter Verleumdung und Beschimpfung, sowie unlauterem Wettbewerb erheben will. Vorausgegangen war eine Strafuntersuchung nach einer im vergangenen August eingereichten Strafanzeige einer privaten Klinikgruppe. Der Tessiner Ableger der Genolier Swiss Medical Network (GSMN) geht mit der Anzeige gegen Recherchen der Zeitung vor, die Missstände bei der Klinik enthüllten. Bis am 20. Januar können die Parteien Beweisanträge stellen.

Libero D‘Agostino. der stellvertretende Chefredaktor von «Il caffè» ist empört: «Man will uns den Prozess machen und ein Exempel gegen den Recherchejournalismus im Tessin statuieren, obwohl wir nichts als die Wahrheit geschrieben haben». Die Strafuntersuchung läuft namentlich gegen ihn, Chefredaktor Lillo Alaimo und zwei weitere Redaktoren. Am vergangenen Sonntag protestierte die Redaktion mit einem Aufsehen erregenden Titelblatt: Die Frontseite blieb weiss. Nur eine Aufschrift mit dem Wort «Libertà di stampa» (Pressefreiheit) war zu lesen, das von einem Radiergummi entfernt wird. Und in einer Kommentarspalte erfolgte die Erklärung von Chefredaktor und Verlagsdirektor, warum die Redaktion diesen Fall dermassen öffentlich macht: «Es ist ein weisser Protest für die Pressefreiheit.»

Hintergrund für die ganze Affäre ist ein gravierender Arztfehler in der zur GSMN-Gruppe gehörenden Klinik Sant‘Anna von Sorengo bei Lugano, der landesweit für Schlagzeilen sorgte. Im Juli 2014 waren einer 67-jährigen Patientin in einer Operation – einer bilateralen Mastektomie – beide Brüste vollständig entfernt worden, obwohl nur ein kleiner Tumor unter einer Brustwarze hätte beseitigt werden sollen. Der Patientin wurde zuerst erzählt, dieser Eingriff sei nötig geworden, weil der Tumor grösser gewesen sei als erwartet, erst später erfuhr sie die Wahrheit, nachdem sie sich an die Aufsichtskommission gewandt hatte. Die Klinik räumte ein, im OP seien Patientinnen verwechselt worden. Der fehlbare Gynäkologe wurde von seinen Aufgaben entbunden.

Auf der Grundlage von Protokollen und Berichten kam die Sonntagszeitung «il caffè», die dem Locarneser Verleger Rezzonico und Ringier gehört, ab Mai 2016 mit einer Artikelserie auf diesen Fall zurück. Dabei ging es insbesondere auch um die Frage, ob bei diesem gravierenden Fehler nicht nur der behandelnde Arzt eine Verantwortung trug, sondern auch strukturelle Probleme in den Arbeitsabläufen eine Rolle gespielt haben könnten. Es bestehe ein öffentliches Interesse zu wissen, was genau falsch gelaufen sei, begründete die Zeitung ihre Artikelserie.

Die Klinikgruppe verlangte notabene nie eine Gegendarstellung. Das sollte aber kein gutes Zeichen sein, dass das kritisierte Unternehmen die Rechercheergebnisse anerkennt. «Alles hat Grenzen: Wir sind nicht mehr bereit, diese diffamierende Pressekampagne hinzunehmen», erklärte Fulvio Pelli in einer Medienkonferenz im September 2016. Der ehemalige FDP-Präsident amtet bei der Klinik als Verwaltungsratspräsident. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klinik bereits Strafanzeige wegen Diffamierung und unlauterem Wettbewerb erstattet. Dabei ging es der Klinik auch um ihren guten Ruf. Immerhin ist das Privatspital eine erste Adresse für Prominente aus aller Welt. Showstar Michele Hunziker gebar hier Tochter Aurora; Barbara Berlusconi, Tochter des Politikers und Medientycoons Silvio Berlusconi, logierte in der VIP-Suite logiert und brachte drei Kinder zur Welt.

Wie Luca Allidi, Anwalt der Caffè-Journalisten, erklärt, werde nun durch eine vorsorgliche Verfügung versucht, der Sonntagszeitung jegliche Veröffentlichungen zur Klinik S.Anna zu untersagen. Er kritisiert aber vor allem die Strafuntersuchung, welche das Ziel verfolge, die vier Journalisten einzuschüchtern, nicht weil sie etwas Falsches, sondern weil sie zu häufig über den fraglichen Fall geschrieben hätten. «Ich habe nie von einem vergleichbaren Kasus in der Schweiz gehört», sagt Allidi, der zugleich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verweist. Der EGMR hat Druckversuche auf Journalisten durch Strafuntersuchungen wiederholt kritisiert.

Nicht äussern zum jetzigen Zeitpunkt will sich die Klinik. «Wir haben Vertrauen in die Tessiner Rechtsprechung und werden uns im gegebenen rechtlichen Rahmen äussern», teilte Klinik-Anwalt Edy Salmina auf Anfrage mit. Es sei nicht opportun, diese Angelegenheit von der rechtlichen auf eine öffentlichen Ebene zu bringen.

Damit reagierte die Klinik indirekt auch auf einen «Appell zur Verteidigung der Pressefreiheit», der diese Woche von Matteo Pronzini, Grossrat der linken Bewegung für Sozialismus (MpS), und Mitunterzeichnenden lanciert wurde. Das Vorgehen der Justiz in diesem Fall sei besorgniserregend und wohl einmalig, heisst es in dem Appell, der bereits von 300 Personen unterschrieben wurde. Zu den Erstunterzeichnern gehören die Universitätsprofessoren Renato Martinoni und Sergio Rossi.