von Fredi Lerch

Wirklichkeiten unter dem Strich

Die Anthologie «Literatur und Zeitung» ergründet die narrativen Möglichkeiten im Grenzgebiet zwischen journalistischer Berichterstattung und literarischer Fiktion am Beispiel von 16 Deutschschweizer Autorinnen und Autoren. Den Feuilletonjournalismus, von dem darin die Rede ist, gibt es zwar nicht mehr. Aber vieles, was ihn wertvoll machte, lebt weiter.

Seit dem 1. Januar betreibt Tschechien ein Abwehrzentrum gegen Fake News, das Falschmeldungen als «Fälschung und Erfindung» kennzeichnen soll. Liest man die eben erschienene Anthologie «Literatur und Zeitung», lächelt man über diese hysterische Reaktion von politisch Verantwortlichen, die offenbar ihre Definitionsmacht darüber, was Wirklichkeit zu sein hat, gefährdet sehen. Denn bloss wegen Verleumdungen von Einzelpersonen wird man kein «Abwehrzentrum» finanzieren – dagegen gibt es das Strafrecht.

An dem Phänomen der Fake News ist neu, dass sie die narrativen Möglichkeiten im Grenzgebiet zwischen journalistischer Berichterstattung und literarischer Fiktion nutzen, um politisch breitenwirksam zu desinformieren. Dass diese narrativen Möglichkeiten genutzt werden, ist hingegen nicht neu. In den letzten zweihundert Jahren hat sich der Feuilletonjournalismus immer auch in diesem Grenzgebiet getummelt, kreativ narrativ, manchmal als l’Art pour l’art, manchmal mit gesellschaftspolitischen Hintergedanken – und ab und zu immer schon in verleumderischer Absicht: mit anonymen Schmähungen in Zeitungen oder mittels Blossstellungen in Schlüsselromanen.

Journalismus «unter dem Strich»
Tatsache ist: Es gab schon immer ein herrschaftliches Misstrauen gegen die Kulturschaffenden, die aufgrund ihres Bisschens Bekanntheit öffentlich reden können, ohne entsprechend instruiert und abhängig gemacht worden zu sein – Kulturschaffende sind einfach oft zu wenig «embedded». In der Printpublizistik wurde dieses Problem bereits Ende des 18. Jahrhunderts erkannt. Seither gab es in den Zeitungen zwei Abteilungen, die durch einen horizontalen Querstrich über die Zeitungsseite getrennt waren: Über dem Strich schrieben jene, die fähig und gewillt waren, mit Sprache die Wirklichkeit so abzubilden, dass sie auch ihre Geldgeber als «objektiv» dargestellt akzeptierten. Und unter dem Strich, im sogenannten «Feuilleton», durften auch andere schreiben.

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im 19. und 20. Jahrhundert in schweizerischen Zeitungsfeuilletons mitarbeiteten: Das ist das Thema der Anthologie, die auf den Redebeiträgen der Tagung «Literatur in der Zeitung» von Januar 2014 in Bern basiert. Wenn das Buch eines zeigt, dann das: Auch in der Deutschschweiz wurden Feuilletonschreiberinnen und -schreiber insgesamt als unsichere Kantonisten betrachtet, wenn es nach den Regeln der journalistischen Kunst um die korrekte Abbildung von Welt ging.

Wechselwirkungen zwischen Journalismus und Literatur
Das Buch eröffnet mit einem Beitrag zu Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf, dessen oft polemische Zeitungsartikel den Zweck hatten, insbesondere in sozial- und erziehungspolitischen Fragen Volksaufklärung zu betreiben. Dass er dabei auch im Grenzgebiet zwischen Bericht und Fiktion operierte, wird an einem fingierten Leserbrief gezeigt, den Bitzius gegen einen eigenen Artikel veröffentlichen liess in der Absicht, seine politischen Gegner durch die Plumpheit der Replik doppelt dumm aussehen zu lassen. Die Literaturwissenschaft mag interessieren, inwiefern der Journalismus des Albert Bitzius eine Voraussetzung war für die Kunst des fiktiven Erzählens von Jeremias Gotthelf. Unbestritten ist, dass es vielfältige Bezüge gibt.

Und nicht nur bei ihm: Der weitgehend unpolitisch schreibende junge Max Frisch war bis nach 1945 ein fleissiger Mitarbeiter des NZZ-Feuilletons und «Spuren von Frischs journalistischer Recherchetätigkeit der frühen Jahre sind sowohl in inhaltlicher als auch textstrukturierender Art in späteren literarischen Werken zu finden». Wie bei Bitzius und vielen anderen gibt es bei Frisch dieses unübersehbare Wechselspiel, auch wenn es in seinem Fall bereits 1948 zum Bruch mit der NZZ kam, weil sich der Autor zunehmend politisch und gesellschaftskritisch zu äussern begann. Für solches war «unter dem Strich» kein Platz – und bei seinen zunehmend linken Positionen «über dem Strich» auch nicht. Die Anthologie bringt mit C. A. Loosli übrigens nur einen Schriftsteller, der sich – zum Beispiel mit Leitartikeln – zumindest eine Zeit lang auch über dem Strich hat halten können.

Literatinnen und Schriftsteller ohne volksaufklärerische Ambition verstanden die Zeitungsarbeit nicht selten als Fron und journalistische Texte als minderwertig. Für Zeitungen schrieb man des Geldes wegen. Dichtung dagegen konnte nur Dichtung sein, wenn sie von der autonomen Künstlerschaft (in Randstunden) zweckfrei erdacht worden war. Entsprechend heisst es über Meinrad Inglin: «Texte mit informativer, pragmatischer oder auch kritischer Ausrichtung erweisen sich für den reiferen Inglin im Vergleich zu eigentlich literarischen Texten […] als defizitär.»

Literatur «unter dem Strich»
Allerdings gab es in den Feuilletons nicht nur «defizitär» Journalistisches, sondern auch rein Literarisches: Neben dem zeitweise verbreiteten Abdruck von Gedichten ist hier vor allem der Fortsetzungsroman zu nennen – die Anthologie thematisiert ihn an den zuerst im «Schweizerischen Beobachter» erschienenen Kriminalromanen Friedrich Dürrenmatts («Der Richter und sein Henker» [1950/51] und «Der Verdacht» [1951/52]). Nachgewiesen wird, dass die Serialität des Zeitungsabdrucks gegenüber dem Buchdruck in Bezug auf Leserbindung andere Anforderungen stellt und so Einfluss nimmt auf die Form des literarischen Textes.

Auf der Achse zwischen reiner Fiktion und Volksaufklärung schliesst an den Roman der subjektive Feuilletonismus an, wie ihn etwa Robert Walser mit seinen «Prosastückli» oder Annemarie Schwarzenbach in ihren Reisereportagen gepflegt haben. Daneben gehört die instrumentalisierte Subjektivität einer Emmy Hennings hierher, die im Tessin für touristische «Fremdenblätter» Spaziergänge zu Reportagen verarbeitet hat: Diese Texte haben zwar eine klare Werbefunktion, beharren aber auf subjektivem Storytelling, auf Narrativen, «die sich wie ein fliegender Teppich über die realen Landstriche erheben und diese sanft umschmeicheln». Ebenfalls hierher gehört die Collagierung von literarischen Texten mit Fotomaterial zu Foto-Reportagen, wie sie Arnold Kübler zwischen 1925 und 1941 als Redaktor der «Zürcher Illustrierten» gepflegt hat.

Das Grenzgebiet als Spielwiese: Dieter Bachmann
Vor allem aber wird im Grenzgebiet zwischen Journalismus und Literatur – vom essayistisch erzählerischen Text bis zur sozialkritischen Reportage – mit dem Anspruch geschrieben, Wirklichkeit präziser, differenzierter und mehrdeutiger abbilden zu können, als es die Faktenreihung des journalistischen Berichts vermag. Welche journalistischen und literarischen Werkzeuge dabei wie einzusetzen sind, bleibt kontrovers.

In seiner Dissertation schrieb der Publizist Dieter Bachmann 1969: «Erzählerische Werke höchsten Anspruchs kommen zustande unter dem denkbar grössten Vorbehalt gegen die Legitimität des Erzählens. Aus dieser Spannung entstehen Werke, deren hervorstechendes Merkmal ihr Essayismus ist.» Mit dieser Skepsis gegen das naive Erzählen korrespondiert seine Skepsis gegen die rein faktisch-journalistische Berichterstattung: Seinen Roman «Unter Tieren» (2010) gliedert er mit Zeitungsmeldungen, um am Schluss des Buches lakonisch anzumerken: «Die Zeitungsmeldungen stammen aus verschiedenen Publikationen. Sie sind oft nicht wörtlich wiedergegeben, und nicht immer sind sie echt.» Die in die Fiktion eingestreuten journalistischen Materialien sind also – möglicherweise – frei erfunden, sozusagen desinformierende «Fake News» auf dem Spielfeld des Romans.

Daraus kann man lernen: Zeitungsprosa «über dem Strich» ist nie so «objektiv», «wahr» oder «unverzerrt», wie sie scheinen mag. Diese Prosa wirkt bloss durch Konventionen – durch Platzierung, Aufmachung und allerlei rhetorische Tricks – so, wie wenn sie im Gegensatz zu literarischer Prosa nichts mit Fiktion zu tun hätte. Sprache bleibt aber nichts als Sprache, auch wenn sie sachlich abgebildete Welt zu sein scheint.

Das Grenzgebiet als Kampffeld: Meienberg vs. Walter
1983 kritisierte Niklaus Meienberg den Roman «Das Staunen des Nachtwandlers am Ende der Nacht» von Otto F. Walter als «subrealistisch», weil schlecht recherchiert. Die Übertragung von Wirklichkeit in Sprache könne dem Anspruch auf Realismus nur dann genügen, wenn das Faktische zuvor bis an die Grenze des Recherchierbaren ausgeleuchtet worden sei. Erst jenseits dieser Grenze dürften allfällige Lücken im Recherchierten mit «logischer Phantasie» geschlossen werden. Walter dagegen war schon früh skeptisch, ob hundert Jahre nach dem Literarischen Realismus eines Dostojewski, Balzac oder Fontane noch «realistisch» erzählt werden könne, weil ihm zunehmend zum Problem wurde, was überhaupt real sei. Um dieses Problem thematisieren zu können, hat er in zwei verschiedenen Romanen als Protagonisten einen Journalisten gewählt, der auch Fiktionen schreibt (im erwähnten und in «Die Verwilderung» [1977]). Walter war zunehmend überzeugt, dass das Dokumentarische nur mehr ein Stilmittel sei «im täglich produzierten Roman, der sich ‹Zeitung› und nicht etwa ‹ Roman›» nenne.

Daneben gab es im 20. Jahrhundert viele Autorinnen und Autoren, die mit Kolumnen in «volksaufklärerischer» Absicht in den Feuilletons wirkten – in der Anthologie vertreten sind Hedi Wyss und Hansjörg Schneider. Diese subjektiv-diskursive Publizistik wird von der Anthologie damit nur ungenügend gewürdigt. Es würde sich lohnen, den Zeitungskolumnen insbesondere der nonkonformistischen Autorinnen und Autoren mehr Beachtung zu schenken. Sie haben zweifellos mitgeholfen, die weitgehende Illiberalität der deutschschweizerischen Öffentlichkeit im Kalten Krieg zurückzudrängen. Wollte man diesen Aspekt von «Literatur und Zeitung» gebührend würdigen, müssten die Werke etwa von Peter Bichsel, Walter Matthias Diggelmann, Hans Rudolf Hilty, Hugo Lötscher, Kurt Marti, Adolf Muschg oder Walter Vogt exakt konsultiert werden. Sie alle werden von der Anthologie übergangen.

Feuilletonjournalismus gibt es nicht mehr
Ab den Fünfzigerjahren schafften die Zeitungen den horizontalen Strich allmählich ab und ersetzten ihn durch separate Zeitungsbünde, die sie gewöhnlich «Kultur» nannten. Die Berichterstattung dieser Teile degenerierte seither allmählich zu einem harmlosen Warentestjournalismus für die wichtigeren kulturindustriellen Neuheiten der Saison – opportunistisch gegenüber der Marktkraft des Produkts und eskapistisch gegenüber der Wirklichkeit des Zielpublikums: Ein deutschschweizerischer Roman aus kleinem Verlag und 1000er Auflage hat keine Chance auf Erwähnung, wenn ihm in der Zeitungsredaktion die Übersetzung eines philippinischen Roman aus einem Grossverlag und 30000er Auflage entgegengestellt wird.

Was den subjektiven Blick auf die Wirklichkeit im ehemaligen Feuilletonjournalismus betrifft: Er spielt kaum mehr eine Rolle. Kolumnen, Essays von oder Interviews mit Kulturschaffenden sind weitestgehend aus den Printmedien verschwunden. Die 16 Beiträge der Anthologie widmen sich deshalb einem untergegangenen Aspekt der Printpublizistik. Sie ist trotzdem spannend zu lesen, weil sie das Phänomen Literatur und Zeitung mit anregend unterschiedlichen Fragestellungen porträtiert und so auf unterhaltende Weise deutlich macht, welches die Tugenden des Feuilletons waren.

Nimmt man diese Tugenden in den Blick, wird auch klar: zwar ist der Feuilletonjournalismus in der Printpublizistik tot, aber seine Tugenden leben: Zumindest ein Teil der heutigen Netzpublizistik kann als wieder auferstandener «Journalismus unter dem Strich» angesprochen werden. Dass er vorderhand schlecht geredet wird, hat nicht in jedem Fall mit seiner Qualität zu tun: Die gratis zur Verfügung gestellte Netzpublizistik bedroht die zwar professionell gemachten, aber zunehmend einfach gestrickten und PR-infiltrierten Print-Kulturteile existentiell. Von Jahr zu Jahr mehr gilt: «Unter dem Strich» wird die Welt online vielfältiger und origineller gesehen als in den Zeitungen.

Stefanie Leuenberger, Dominik Müller, Corinna Jäger-Trees, Ralph Müller (Hg.): Literatur und Zeitung. Fallstudien aus der deutschsprachigen Schweiz von Jeremias Gotthelf bis Dieter Bachmann. Zürich (Chonos-Verlag) 2016, 284 Seiten, 48.-. Mit Beiträgen über Gotthelf (Ruedi Graf), Carl Albert Loosli (Dariusz Komorowski), Meinrad Inglin (Daniel Annen), Max Frisch (Daniel Foppa), Hedi Wyss (Vesna Kondrič Horvat), Dieter Bachmann (Magnus Wieland), Robert Walser (Peter Utz), Emmy Hennings (Christa Baumberger), Annemarie Schwarzenbach (Gonçalo Vilas-Boas), Hansjörg Schneider (Ulrich Weber), Arnold Kübler/Zürcher Illustrierte (Simone Wichor), Feuilleton der National-Zeitung (Bettina Braun), Friedrich Dürrenmatt (Ralph Müller / Franziska Thiel), Otto F. Walter (Rosmarie Zeller), Hermann Burger (Elias Zimmermann) und Niklaus Meienberg (Peter Rusterholz).