von Peter Stäuber

Brexit als Lebenselixier des britischen Boulevards

Als wäre nichts gewesen: Sechs Jahre nach dem grossen Abhörskandal mischen die britischen Boulevardmedien wieder munter in der Politik mit. Im Prozess zum EU-Austritt Grossbritanniens fanden Blätter wie The Sun oder Daily Mail zur alten Form zurück und befeuern den Brexit.

«Crush the Saboteurs», titelte das rechtskonservative Klatschblatt The Daily Mail, als die britische Premierministerin Theresa May vor wenigen Wochen Neuwahlen ankündigte: All jene, die den Brexit zu verhindern suchen, sollen «zerdrückt» werden. Subtile Headlines entsprechen nicht dem Stil des britischen Boulevards, aber diese derbe Aufforderung ging dann doch etwas weit: Linke und liberale Politiker und Kommentatoren, vom Schattenfinanzminister John McDonnell bis zur Fussballlegende Gary Lineker, beklagten die Aggression, zu der sich die Zeitung hatte hinreissen lassen. Angesichts der verbreiteten Empörung hielt die Daily Mail eine Klarstellung für angebracht: «Um jede Zweifel aus dem Weg zu räumen, weder die Premierministerin noch diese friedliebende Zeitung schlägt einen Genozid vor.»

Dass kein Völkermord angeraten wird, wird die Leser beruhigen, aber der überbordende Eifer, mit dem sich manche britischen Boulevardblätter dem Thema Brexit nähern, ist – vorsichtig ausgedrückt – befremdend. Die New York Times nahm kürzlich die dominante Rolle unter die Lupe, welche die «tabloid press», also der Boulevard, in der EU-Debatte spielt. Die Autorin hat sich auf ein Rendezvous mit dem wohl einflussreichsten Chefredakteur Grossbritanniens eingelassen, Tony Gallagher von The Sun. Seit 1969 gehört die Zeitung zum Medienimperium Rupert Murdochs, der die politische Konversation im Land seither in entscheidender Weise prägt – und sie stramm nach rechts drückt.

In den 1980er-Jahren leistete die «Sun» der Premierministerin Margaret Thatcher patriotische Schützenhilfe, als sie auf die Falklandinseln in den Krieg zog oder sich der fortschreitenden europäischen Integration verweigerte. Die eingängigen und zuweilen vulgären Schlagzeilen («Up Your Junta») wurden legendär. Beim Besuch der New York Times erzählt Gallagher genüsslich von den jüngsten Erfolgen seiner Zeitung: Er führte eine Kampagne gegen die geplante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge von Freiberuflern. Es war das erste Mal, dass sich die Klatschpresse (auch die «Daily Mail» wetterte gegen die Steuererhöhung) seit Theresa Mays Amtsantritt gegen sie stellte – und die Premierministerin fügte sich ihrem Wunsch: Die Pläne wurden zurückgezogen. «Es dauerte weniger als eine Woche», sagt Gallagher.

In Bezug auf das EU-Referendum gibt sich der Chefredakteur vorsichtig: «Wir haben uns für den Brexit eingesetzt, aber ich glaube nicht, dass wir ihn verursacht haben.» Allerdings sandte er kurz nach Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses eine SMS an einen Reporter des linksliberalen Guardian, in der er die tatkräftige Mithilfe des Boulevards begrüsst: «So viel zur schwindenden Macht der Printmedien», lautete die ironische Nachricht.

Damit hat er wohl recht: Der politische Einfluss der Klatschpresse scheint ungebrochen – auch knapp sechs Jahre nach dem Abhörskandal. Die öffentliche Empörung darüber, dass massgeblich Mitarbeiter von News of the World und anderer Murdoch-Blätter illegal Mobiltelefone abgehört hatten, schien dem Konzern zunächst einen schweren Schlag zu versetzen. Die Enthüllung des Abhörskandals führte zur Schliessung der Sonntagszeitung News of the World und zum Rücktritt mehrerer prominenter Führungspersonen, darunter Rebekah Brooks, der Geschäftsführerin der Murdoch-Medien in Grossbritannien. Der Fall hatte auch strafrechtliche Konsequenzen. Andy Coulson, der frühere Chefredaktor von News of The World und spätere Berater von Premier Cameron, wurde zu 18 Monaten Haft verurteilt. Als Rupert Murdoch selbst vor einem Parlamentsausschuss auftrat, sagte er reuig, es sei der «demütigste Tag» seines Lebens.

Das mag man Murdoch abkaufen oder nicht,. Im Rückblick ist klar, dass die Episode weder seinem Konzern grösseren Schaden zufügte noch den breiteren Niedergang der britischen Revolverpresse eingeleitet hatte. Die News of the World wurde kurzerhand ersetzt durch die Sun on Sunday, die zur meistverkauften Sonntagszeitung im Land wurde, und News International änderte seinen Namen in News UK – mit Rebekah Brooks als Geschäftsführerin. Mit einer Auflage von über 1.6 Millionen ist die Sun auch heute noch die beliebteste Zeitung im Land, noch vor der Daily Mail. Und die Beziehung zur Politik wird weiterhin sorgfältig gepflegt: Laut einer Analyse der Kampagnen Media Reform Coalition und 38 Degrees hatten Führungsleute des Murdoch-Konzerns innerhalb eines Jahres zehn Unterredungen mit der Regierung, entweder mit der Premierministerin selbst, ihrem Vorgänger David Cameron, oder mit dem ehemaligen Finanzminister George Osborne. Keine andere Medienorganisation geniesst ein solch intimes Verhältnis zur Downing Street.

So kommt den grössten britischen Zeitungen nach wie vor eine entscheidende Rolle zu in der politischen Debatte: «Es ist eine Tatsache, dass Printzeitungen […] die Tagesordnung hier weit effektiver bestimmen als Fernseh- und Radiosender, die grundsätzlich reaktive Medien sind», sagt «Sun»-Chefredaktor Gallagher gegenüber der New York Times.

Dass TV-Nachrichten zu einem grossen Teil von der Berichterstattung in den Printmedien beeinflusst sind, lässt sich auch statistisch belegen: Eine Studie der Fachzeitschrift Journalism Studies kam zum Schluss, dass Fernsehsender im Wahlkampf 2015 zu einem erheblichen Teil Themen aufgriffen, die zuerst in Printmedien behandelt wurden; besonders die konservativen Zeitungen The Daily Telegraph und die Times, die zum Murdoch-Konzern gehört, sind laut den Autoren tonangebend. Robert Peston, der früher die Wirtschaftsredaktion der BBC leitete und heute für ITV News arbeitet, beklagte sich vor einigen Jahren, dass die BBC geradezu «besessen» sei von der Berichterstattung der Daily Mail und des Daily Telegraph.

Das EU-Referendum gab dem britischen Boulevard eine einmalige Gelegenheit, auf ihren zwei Steckenpferden herumzureiten: der Einwanderung und der vermeintlich überbordenden Macht Brüssels. Gallagher ist sich völlig bewusst, dass eine Aussage – auch wenn sie nachweislich falsch ist – durch die ständige Wiederholung wahr erscheint: «Wenn man als Zeitung grosses Aufsehen macht um die Tatsache, dass alle unsere Gesetze in Europa gemacht werden, dann dringt das schlussendlich ins nationale Bewusstsein.»

Der Historiker Andy Beckett schrieb im Herbst, dass mit dem Brexit-Votum «einer der grössten, ältesten Träume der Boulevardblätter auf spektakuläre Weise Wirklichkeit wurde». Und ihr Einfluss ist durch das Resultat noch gestärkt worden. Die Revolverpresse habe die Politik heute fest im Griff, schreibt Beckett: Der rechte Flügel der Konservativen arbeite heute so eng mit dem Boulevard zusammen wie zuletzt in den frühen 1990er-Jahren; man sehe es etwa bei der täglichen Obsession mit Immigranten, der Verunglimpfung von liberalen Briten als Vertreter der Elite sowie dem gemeinsamen Ziel des «harten Brexit». Der ehemalige Sun-Chefredakteur David Yelland sieht es genauso: Brexit stelle den bisherigen Höhepunkt der Macht des Boulevards dar.