von Benjamin von Wyl

Was habe «Ich» hier zu suchen?

Zum «Ich» pflegen viele Journalistinnen und Journalisten eine gestörte Beziehung, oft auch eine Nicht-Beziehung. Patentrezepte für ein gesundes Mass an Ego im Text gibt es nicht, zumal es hier nicht allein um eine Stilfrage geht, sondern um die Essenz des Journalismus.

WOZ-Reporter Daniel Ryser trägt am linken Oberarm eine auffällige Tätowierung. Eine Faust auf einem Dolch, die einen Peyote-Kaktus umklammert: Die Gonzo-Faust. Sie ist ein Berufsbekenntnis. Denn die heraldisch anmutende Hautbemalung soll an Hunter S. Thompson erinnern, der in den 1970er-Jahren mit «The Kentucky Derby is decadent and depraved», einer essayistischen Reportage über ein Pferderennen, sein eigenes Genre entwickelt hat. Berufskollege Bill Cardoso taufte es Gonzo-Journalismus: szenische Episoden, essayistische Einschübe und immer wieder Ausführungen zum eigenen Rauschzustand. Thompson schrieb das Wort «Ich», respektive «I» sehr oft – anders hätte er nicht nachzeichnen können, weshalb die Kent State Shootings in Ohio im Text gleich viel Raum einnehmen wie das eigentliche Thema, das Pferderennen in Kentucky. Thompsons Artikel vermitteln Erlebnissucht und lesen sich daher sehr unmittelbar. Seine Texte motivierten Generationen, Reporter*in zu werden.

WOZ-Reporter Daniel Ryser setzt das «Ich» dezent und erst nach langem Abwägen ein, etwa um seine Recherche für die Lesenden besser nachvollziehbar zu gestalten.

Thompsons Texte motivierten Ryser Reporter zu werden – deshalb hat er sich das Bekenntnis tätowiert. Trotzdem masst sich Ryser nicht an, dasselbe zu tun wie Thompson. «Mein Tattoo symbolisiert für mich nicht, dass ich Hunter S. Thompson nacheifere, sondern dass seine Texte mich angespornt haben. Er war ein brillanter Literat, aber eben auch ein brillanter Polit-Journalist. Noch heute ist sein Buch Fear and Loathing: On the Campaign Trail ’72 ein wichtiges Grundlagenwerk für Journalisten, die über den amerikanischen Wahlkampf berichten. «Was Thompson schreibt, war epochal», meint Ryser im Gespräch. «Zur Nachahmung ist es nicht empfohlen»

Ryser schreibt nicht immer in der ersten Person. Wenn er es tut, verwendet er das «Ich» dezent und erst nach langem Abwägen, etwa um seine Recherche für die Lesenden besser nachvollziehbar zu gestalten: «Wenn ich das Ich benutze, ist es in Fällen, in denen ich mich unsicher fühle und das deklarieren möchte. Manchmal besteht das Risiko den Leser ratlos zurückzulassen, wenn man die eigene Unsicherheit nicht ausweist.»

«Das ‹Ich› zu benutzen ist weder bescheidener noch unbescheidener als es nicht zu benutzen.» Daniel Ryser

Im Stil-Standardwerk «Deadline» widmete Constantin Seibt dem «Ich» ein eigenes Kapitelchen: «Ein wirklicher Profi recherchiert auch bei Texten, in denen kein einziges Mal das Wort «ich» vorkommt, immer in zwei Richtungen: Nach aussen, was die Fakten sind. Und nach innen, ins eigene Herz, was die Fakten bedeuten.» (S. 182) Diese Recherche gegen innen beschreibt Ryser, wenn er sagt: «Bei grossen Geschichten wie «Die Dschihadisten von Bümpliz» merke ich, dass ich den Leser ratlos zurücklasse, wenn ich nicht ausweise, weshalb diese oder jene Person – obwohl alle Wahrscheinlichkeiten dagegen sprechen – mit mir gesprochen hat.» Seibt erklärt das «Ich» auf Nachfrage zum dramaturgischen Entscheid: «Ich glaube nicht, dass es Seriositätsargumente gegen das «Ich» gibt, ausser man betrachtet Seriosität als Konvention. Das «Ich» zu benutzen ist weder bescheidener noch unbescheidener als es nicht zu benutzen – die einzige Frage ist, was die interessantere Story ergibt.»

Jede Redaktion darf selbstverständlich das Wort «Ich» auf den Index setzen. Normen und Konventionen prägen den journalistischen Alltag. Aber auch unabhängig von Normen und Verboten lehnen manche Journalisten die Verwendung der ersten Person ab, weil das «Ich» im Text ihrem Berufsbild widerspricht. «Reporter sind die ‹Flies on the wall› – die Fliegen an der Wand, die beobachten und um Neutralität bemüht berichten. Sie sollten rausgehen und mit Menschen sprechen, über diese Fakten und Emotionen transportieren. «Zwei Personen sollten Reporter nicht zitieren: den Taxifahrer und sich selbst», sagt etwa Reporter Peter Hossli.

«Nur in Selbstversuchen ist der Journalist die Story. Und nur da.» Peter Hossli, Reporter

Seiner Meinung nach ist es «handwerklich faul, die Fakten und Emotionen nur bei sich selbst zu suchen.» Hossli nutzt, auch im Rahmen seiner Dozententätigkeit an der Ringier-Journalistenschule, oft die Sentenz: «Kid, you’re not the story!» Ein einziges Mal schrieb Hossli aus der ersten Person, nachdem er für einen Selbstversuch eine Woche lang ohne Internet und Handy gelebt hatte. In Selbstversuchen sei man die Story. Und nur da, wenn es nach Hossli geht. Auch Ryser findet es falsch, wenn sich Journalisten zum Zentrum ihrer Story machen. Wie Seibt argumentiert er aber dramaturgisch: «Wenn man das Gefühl bekommt, dass es um den Journalisten statt um die Story geht, will man es nur lesen, wenn der Journalist verdammt brillant ist.» So brillant ist laut Ryser fast niemand, ausser eben Hunter S. Thompson.

Andie Tucher, Professorin für Kommunikationsgeschichte an der Columbia Journalism School, analysiert jenen Mediendiskurs, in dem Thompson gewirkt hat. «Ich glaube, dass sich das Ego von Autoren wie Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe mit ihren Storys beissen kann. Ihre Sprach-Pyrotechnik lenkt die Lesenden vom Narrativ selbst ab. Ich zweifle an ihrer Ernsthaftigkeit und neige dazu, ihre journalistische Sauberkeit zu hinterfragen», erklärt sie per Mail. Dass sich der Reporter – bewusst oder unbewusst – zur Story erklärt, ist also gerade für eigenwillige Autoren mit markanter Schreibe ein Risiko, denn die literarische Sprache und die Pflege des eigenen, literarischen Ichs, kann die journalistische Arbeit unterlaufen.

Ryser sagt, er führe dutzende Interviews, bevor er überhaupt zu schreiben beginnt. Sein Antrieb ist Recherche und die Perspektive ergibt sich aus dem Rechercheprozess. Seibt schliesst seine Ausführungen mit: «Jede Reportage, jede Analyse, jede Zusammenstellung von Fakten hat unausweichlich einen Schlieren Subjektivität in sich. Was aber nichts daran ändert, dass man recherchieren muss.» Laut Professorin Tucher ist der Objektivitätsanspruch an die Medien erst in der Moderne entstanden: «Die Objektivität als Ideal entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts; unparteiliche Beobachtung von neutralen Reportern, die ihre eigenen Positionen für sich behielten, aber der Öffentlichkeit ein abgerundetes Bild eines Ereignisses abgeben, dass den Leuten ermöglicht, das Geschehen eigenständig zu beurteilen.» Harte News werden selbstverständlich auch im 21. Jahrhundert ohne «Ich» und um Neutralität bemüht gebracht, trotzdem nimmt Prof. Tucher seit der Trump-Wahl eine lebhafte Debatte über eine ethische Verpflichtung zur Positionierung wahr: «Ein perfektes Beispiel ist die Berichterstattung zu Trumps Kommentaren über die Demonstrationen in Charlottesville. Nach meiner Beobachtung machen die grossen Zeitungen klar, dass Trumps Äusserungen destruktiv und schlicht nicht korrekt sind, ohne dass sie dazu die «Ich»-Perspektive verwenden.»

Die Debatte um das Schreiben von Reportagen und Analysen aus der ersten Person ist keine reine Stil-Debatte.

Die Ausführungen von Professorin Tucher zeigen, dass die Debatte um das Schreiben von Reportagen und Analysen aus der ersten Person keine reine Stil-Debatte ist, sondern die Essenz dessen touchiert, was der unerreichbare Anspruch aller Journalisten ist: einen Fetzen Realität so abbilden, dass sich andere eine Meinung bilden können. Daniel Ryser definiert seine eigene Arbeit gar nicht so anders, wie sie Professorin Tucher anhand des Ideals Objektivität referiert. «Das Ziel meiner journalistischen Arbeit ist es, den Leuten Geschichten zu liefern, die es ihnen – unabhängig von ihrer vorgefertigten Haltung – ermöglichen, sich eine eigene Meinung zu bilden,» führt Ryser aus, «manchmal gelingt das vielleicht dank dem Ich.» Er vertritt eine klar subjektive Position, aber macht sie transparent und nachvollziehbar.

Ryser hält Objektivität für einen unrealistischen Anspruch und bevorzugt einen gesunden Umgang mit dem kleineren oder grösseren Anteil an Subjektivität, den jedes journalistische Stück in sich trägt. Für Peter Hossli hingegen gehört das Bemühen um eine neutrale Beobachterperspektive zum persönlichen Berufsethos. Die «Ich»-Perspektive verletze die Konvention der Trennung zwischen Kommentar und Berichterstattung, findet Hossli. Diese Konvention dekonstruiert sich aber, wenn man, wie Dani Ryser, in seiner Arbeit als Reporter anerkennt, dass Objektivität kein realistischer Anspruch ist. Wenn man dann in gewissen Fällen gar eine ethische Verpflichtung zur Positionierung wahrnimmt, kann man «Ich» schreiben. An den Texten von Ryser und Hossli fasziniert gleichermassen wie verdichtet die beiden Reporter Erlebtes wiedergeben. Beide gehen raus, recherchieren und geben die Essenz des Erlebten wieder. Das prägt ihre Storys ungemein mehr als die drei Buchstaben: I – C – H. Aus eigener Erfahrung weiss ich: Es ist sehr einfach und bequem, am Schreibtisch Kolumnen und Rants über volle Pendlerzüge zu schreiben.