von Adrian Lobe

70 Jahre FAZ: Wo die Herausgeber regieren wie «Kurfürsten»

Die Geschichte der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zeigt den Bedeutungswandel einer grossen Zeitungsmarke. Der Historiker Peter Hoeres bietet mit seinem Werk zum 70. Geburtstag der FAZ einen kundigen Einblick in die Machtmechanik eines Leitmediums.

Vor wenigen Wochen feierte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» ihren 70. Geburtstag. Zahlreiche prominente Gäste aus Politik und Wirtschaft waren geladen, sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel schaute vorbei. Die FAZ ist, trotz ihres dramatischen Auflagen- und Reichweitenverlusts, noch immer eine der wichtigsten Institutionen im deutschen Medien- und Kulturbetrieb, das Hochamt des Journalismus. Was in der FAZ steht, hat in den Debatten der Öffentlichkeit Autorität.

Der Historiker Peter Hoeres, Professor für neueste Geschichte der Universität Würzburg, hat nun ein bemerkenswertes Buch über die FAZ vorgelegt. Auf über 500 Seiten erzählt Hoeres die Geschichte der Zeitung, deren erste Ausgabe am 1. November 1949 erschien. Die FAZ ging aus der Mainzer Allgemeinen Zeitung und der traditionsreichen Frankfurter Zeitung (FZ) hervor, die 1943 von den Nationalsozialisten verboten worden war. Auf Initiative des amerikanischen Militärgouverneurs und einiger Industrieller wurde diese Tradition nach dem Krieg wiederbelebt.

Das publizistische Alleinstellungsmerkmal der FAZ besteht bis heute darin, dass die Zeitung nicht von einem Chefredaktor, sondern von mehreren Herausgebern gemeinschaftlich geführt wird, die jeweils eigene Ressorts wie Politik, Wirtschaft, Feuilleton und Rhein-Main-Teil verantworten (die Leserzuschriften heissen denn auch nicht «Leserbriefe», sondern etwas hochtrabend und elitär «Briefe an die Herausgeber»). Die FAZ sind sozusagen vier Zeitungen in einer.

Die FAZ-Herausgeber stecken ihre Claims ab und sehen es nur ungern, wenn andere in ihr Gärtchen treten.

Diese Koexistenz gleichberechtigter Herausgeber, man könnte auch sagen: Kohabitation, führt nicht selten zu Konflikten. So wurde der für den Politikteil zuständige Herausgeber Jürgen Tern 1970 nicht nur wegen inhaltlicher Differenzen in der Neuen Ostpolitik – er drängte auf die Anerkennung der DDR –, sondern auch wegen seines Führungsstils geschasst. Beispielsweise liess er seine Texte entgegen den Gepflogenheiten nicht gegenlesen und ignorierte Abgabetermine. Der Rauswurf Terns provozierte eine Rebellion in der FAZ-Redaktion. Auch der für die Rhein-Main- und Sonntagszeitung zuständige Herausgeber Hugo Müller-Vogg wurde 2001 abgesetzt, nachdem er sich mit seinen Herausgeberkollegen überworfen hatte. Die letzte Entlassung eines FAZ-Mitherausgebers erfolgte im April dieses Jahres, weil Holger Steltzner versucht haben soll, den für das Feuilleton zuständigen Herausgeber Jürgen Kaube aus dem Amt zu drängen.

Die geschilderten Fälle liefern reichlich Anschauungsmaterial für die internen Machtkämpfe in der FAZ: Die Herausgeber – anfangs waren es fünf oder sechs, heute sind es vier – regieren wie «Kurfürsten», schreibt Hoeres: Sie stecken ihre Claims ab und sehen es nur ungern, wenn andere in ihr Gärtchen treten. Sie müssen ihre Macht absichern, Verbündete suchen, Rivalen auf Distanz haben.

Schirrmacher öffnete das Feuilleton für neue Themen schuf ein ebenso lebhaftes wie kontroverses Debattenfeuilleton.

Einer, der diese Machttechnik besonders gut beherrschte, war Frank Schirrmacher. Der «Kindkaiser», wie er genannt wurde, wurde vom damaligen Herausgeber Joachim Fest, dem grossen Zeithistoriker, ins Feuilleton geholt. Schirrmacher machte in der FAZ rasch Karriere: Mit nur 29 Jahren stieg er zum Literaturchef auf, wo er den legendären Marcel Reich-Ranicki beerbte, mit 34 Jahren wurde er Herausgeber. Schirrmacher öffnete das Feuilleton für neue Themen wie Biotechnologien und Künstliche Intelligenz und schuf ein ebenso lebhaftes wie kontroverses Debattenfeuilleton. Ein typischer Schirrmacher-Coup war es, die letzten Sequenzen des entschlüsselten menschlichen Genoms integral auf sechs Seiten abzudrucken. Das Feuilleton vom 27. Juni 2000 bestand nur aus Kombinationen der Buchstaben A, T, G und C (Adenin, Guanin, Cystosin, Thymin). Es war eine Mischung aus Aktionskunst und Effekthascherei, das hausintern hoch umstritten war. Der konservative Feuilletonredaktor Konrad Adam, später Gründungsmitglied der AfD, kritisierte den Abdruck als «Klamauk».

Schirrmacher war keine natürliche Autorität, er wird als aufbrausend beschrieben, ein von Selbstzweifeln zerfressener Chef, der umso härter regieren musste. Er jubelte Redaktoren hoch, andere liess er fallen oder stellte sie in der Konferenz bloss. Intern eilte ihm der Ruf als «Nero» und «Caligula» voraus. Von einem Klima der Angst berichten Redaktoren. Im März 1995 schrieben elf Feuilletonredaktoren um Gustav Seibt, der später in einer der vielen «Emigrationswellen» zur «Süddeutschen Zeitung» abwandern sollte, einen Beschwerdebrief an Schirrmacher, in dem die Redaktion als ein Ort bezeichnet wurde, «den man morgens mit Beklemmung betritt und den man abends erleichtert verlässt». Schirrmacher war genialisch, ein Borderline-Typ, ein wortgewaltiger Autor, der, zum grossen Ärger der Mitherausgeber, auch ausserhalb der Zeitung mit seinen Buchveröffentlichungen für Aufmerksamkeit sorgte. Im Jahr 2014 verstarb Schirrmacher nach einem Herzinfarkt – und hinterliess eine grosse Lücke.

Der Autor hat für seine FAZ-Geschichte intensiv recherchiert und hatte als erster Forscher Zugang zum Zeitungsarchiv.

Hoeres stellt in seiner FAZ-Geschichte die nachgerade literaturhafte Erscheinung Schirrmacher wie auch die anderen schillernden Figuren des Kulturbetriebs, Karl-Heinz Bohrer und Joachim Fest, in all ihrer Ambivalenz dar, er ordnet ihr Schaffen in das grosse Bild der deutschen Nachkriegsgeschichte ein und zeichnet ein Soziogramm der Kulturelite, deren Kraftzentrum die FAZ war. 1986 löste der Historiker Ernst Nolte mit seinem Aufsatz «Vergangenheit, die nicht vergehen will», in dem er Holocaust und die deutsche Schuld im Zweiten Weltkrieg relativierte, den «Historikerstreit» aus – eine der wichtigsten Debatten der deutschen Nachkriegsgeschichte, die weit über akademische Kreise hinauswirkte und die Bedeutung der FAZ als Debattenorgan festigte. Hoeres schildert diese Kontroverse ebenso wie andere Feuilletondebatten nüchtern und sachlich, ohne für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Der Autor hat für sein Buch intensiv recherchiert, er sprach mit Akteuren, wertete die Protokolle von Herausgebersitzungen aus und hatte als erster Forscher Zugang zum Zeitungsarchiv.

Der Historiker hat sowohl das grosse Ganze im Auge, das er aber auch anhand der kleinen Geschichten erzählt, seien es die Anekdoten vom ruppigen Ton mancher Sekretärinnen oder die Exkurse zur Layoutreform oder zum Sprachwandel. Der akademische Stil, den die Zeitungsredaktoren pflegen und der schon den Volontären gelehrt wird (u.a. die Eigenschreibweise «F.A.Z.»), ist ebenso Thema wie die Männerbastion «FAZ». «Ungestörter Raum für Herrenwitze und Alkohol spätestens nach Andruck waren im Wirtschaftsressort (…) eine essentielle Bedingung für erfolgreiches Arbeiten», schreibt Hoeres. Das Buch profitiert von einer reichen Quellenlage. So ist neben Zeitungsseiten auch ein Brief abgedruckt, den der damalige Literaturchef und spätere TV-Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki am 23. Dezember 1975 an die «liebe Hilde Domin» schickte, in der er die «unausstehlichen Unterstellungen» der Lyrikerin (es ging um die Bewertung von Gedichten) brüsk zurückweist – die Korrespondenzen liegen heute auch im Literarchiv Marbach. Was zeigt, welche historischen Schätze Hoeres bei seiner Recherche im Archiv zutage förderte.

Die FAZ leidet, wie fast alle Zeitungen, unter dem Rückgang von Abonnements und Anzeigen. Die Print-Auflage befindet sich im Sinkflug.

Das Buch ist nicht bloss ein soziologisches Sittengemälde der Intellektuellenzirkel und ihrer Attitüden und Eitelkeiten, sondern auch zeithistorisches Dokument über die goldenen Jahre des Journalismus, als Jungredaktoren noch einen Dienstwagen zur Verfügung gestellt bekamen und die Herausgeber mehr oder weniger frei von wirtschaftlichen Zwängen über die Gehälter verhandeln konnten. Die Zeiten, als die Samstagsausgabe der FAZ nicht in den Briefkasten passte und Anzeigenkunden vertröstet werden mussten, weil die Inserateseiten ausgebucht waren, sind längst vorbei. Die FAZ leidet, wie fast alle Zeitungen, unter dem Rückgang von Abonnements und Anzeigen. Die Print-Auflage befindet sich im Sinkflug, zuletzt lag sie bei 242’000. Trotz eines harten Sparkurses steuert das Blatt wieder in die Verlustzone. Der Nimbus der FAZ als Leitmedium und Debattierforum hat zuletzt etwas gelitten, nicht zuletzt durch die Konkurrenz der «Süddeutschen Zeitung» und «Zeit», die deutlich weniger Auflageverluste hinnehmen mussten oder, wie die «Zeit», die Auflage stabilisieren konnten. Das renommierte Feuilleton der FAZ hat seit dem Tod von Schirrmacher an Strahlkraft und Bedeutung verloren; unter seinem Nachfolger Jürgen Kaube ist das Feuilleton klassischer (mehr Besprechungen statt Debatten), manche sagen auch: langweiliger geworden.

Das 2017 lancierte Wochenmagazin «FAZ Woche», das von einer kleinen Redaktion für eine junge Leserschaft produziert wird, hat bislang nicht die erhofften Erfolge erzielt – die gedruckte Auflage ist seit dem Start um über die Hälfte eingebrochen. Das vierteljährlich erscheinende Magazin FAQ (FAZ Quarterly) ist zwar ansprechend gemacht, verbleibt aber in einer Nische. Zwar verfügt die «Fazit»-Stiftung, welche die Zeitung trägt, über solide Geldreserven. Trotzdem muss die traditionsreiche Zeitung den Verlags- und Redaktionssitz an der Hellerhofstrasse verlassen und 2021 Quartier in einem Hochhausneubau im Europaviertel beziehen. Der Ausbau der Online-Redaktion wurde in den vergangenen Jahren – wohl auch wegen der Beharrungskräfte altgedienter Printredaktoren – anders als beim «Spiegel» oder der «SZ» nicht konsequent vorangetrieben; der Journalist Mathias Müller von Blumencron, der vom «Spiegel» kam und als «Chefredakteur Digitale Medien» die digitalen Angebote ausbauen sollte, hat die FAZ 2017 nach nur vier Jahren wieder verlassen. Über all diese Entwicklungen schreibt Hoeres nur wenig. Zwar stellt er fest, dass «die inhaltliche und kaufmännische Neuerfindung des Zeitungsjournalismus noch nicht gelungen» sei und die Druckausgabe möglicherweise zu einem «Luxus- und Retroprodukt für (ältere) Liebhaber» werden könne. Wie aber die Traditionsmarke FAZ im Internet weiter bestehen kann, führt er nicht weiter aus.

Im Rückspiegel der Geschichte sieht man die aktuellen Entwicklungen klarer. Insofern leistet das Buch auch einen Beitrag zum Verständnis des Medienwandels.

Nun ist von einem medienhistorischen Buch keine Medienanalyse der Gegenwart zu erwarten. Trotzdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der Autor würde seinen Untersuchungsgegenstand über Gebühr historisieren. Denn je mehr man in die Mediengeschichte eintaucht, desto mehr stellt man fest, wie weit entfernt diese Diskurspraktiken von den algorithmischen Feedbackschleifen digitaler Öffentlichkeiten entfernt sind. Ein Leitartikel oder Feuilleton-Aufmacher, der in einer digitalen Aufmerksamkeitsökonomie mit Youtube-Videos konkurriert (Stichwort Rezo), erzielt heute nur noch sehr selten ein so breites Publikum wie in den 1980er oder 1990er Jahren. Umso tradierter und hilfloser wirkt es, wenn die FAZ-Herausgeber und -Ressortleiter mit gravitätischem Stil gegen die Umbrüche der Welt anschreiben, als liesse sich der Wertekosmos einer analogen Öffentlichkeit einfach konservieren. Die Geschichte der FAZ ist daher auch die Geschichte eines Bedeutungsverlusts der (gedruckten) Zeitung. Im Rückspiegel der Geschichte sieht man die aktuellen Entwicklungen klarer. Insofern leistet das Buch – wohl etwas unfreiwillig – auch einen Beitrag zum Verständnis des Medienwandels.

Peter Hoeres: Zeitung für Deutschland. Die Geschichte der FAZ. ca. 600 Seiten, Benevento, München/Salzburg, 42,90 Franken.

Korrekturen:
-Die Anzahl der FAZ-Herausgeber betrug anfänglich fünf und zwischenzeitlich auch mal sechs und nicht nur sechs, wie wir schrieben.
-Der Historiker, der 1986 den «Historikerstreit» auslöste, heisst Ernst und nicht Paul Nolte.
-Der Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und Hilde Domin liegt tatsächlich im Literaturarchiv Marbach und wird nicht nur dort vermutet.
-Die Entlassung von FAZ-Mitherausgeber Holger Steltzner im vergangen April wird im Buch auch abgehandelt. Sie fand nicht, wie ursprünglich im Artikel geschrieben, nach Drucklegung des Buches statt.

Leserbeiträge

Frank Kind 18. November 2019, 00:57

Ein sehr interessanter Bericht über eine der wenigen Zeitungsikonen der Bundesrepublik Deutschland. Der Bedeutungsverlust der FAZ dürfte aber nicht nur dem medientechnischen Wandel, sondern auch einer Art von Linksverschiebung in der Gesellschaft geschuldet sein.

Thomas Unnewehr 18. November 2019, 13:16

Der Rückgang hat auch etwas mit den Preisen zu tun. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, Wenn ich die NYT für 4€ und die WaPo für 6€ im Monat bekomme und die FAZ/FAS 48,90 € kostet. Mein Zeit-Abo ist auch in der Preisklasse.

Rätz 19. November 2019, 12:43

Wie das??? Die NYT für € 4,00 pro Monat, wie geht das?

pro Stück wohl eher!

Nick Lüthi 19. November 2019, 20:27

Stimmt tatsächlich. Und die Washington Post gibts für 20 $/Jahr.

Werner Lorenzen-Pranger 18. November 2019, 21:38

„Die FAZ leidet, wie fast alle Zeitungen, unter dem Rückgang von Abonnements und Anzeigen. Die Print-Auflage befindet sich im Sinkflug.“

Wen wunderts. Wolfgang Neuss wußte bereits 1964, was von diese Blatt zu halten war: „Ick hab hier doch eben ein schädliches Schlafmittel hingelegt – hat hier einer die Frankfurter Allgemeine weggenommen?“

Warum werden eigentlich Personen und Printmedien, die nichts als gestelztes Geschwalle produzieren können, so lächerlich ernst genommen?