von Servan Grüninger

Coronavirus in den Medien: Von Experten und «Experten»

Bei komplexen Herausforderungen wie der Bewältigung der Covid-19-Pandemie sind kompetente Fachleute gefragte Auskunftspersonen. Aber auch weniger kompetente Experten kommen in den Medien zu Wort. Wer langfristig glaubwürdig bleiben will, muss die Grenzen des eigenen Wissens kennen. Und auch Redaktionen tun gut daran, offensiv zu deklarieren, was gesichertes Wissen ist und was nur Spekulation.

Zuerst ein Lob: Viele Schweizer Medien bemühen sich, sachliche, verlässliche und kontextualisierte Informationen zur Covid-19-Epidemie bereitzustellen. Die NZZ und der Tages-Anzeiger publizieren regelmässig aktualisierte Berichte zum Verlauf der Ansteckungen und ordnen die verfügbaren Informationen allgemeinverständlich und weitgehend korrekt ein. Das Schweizer Radio und Fernsehen SRF hat einen Expertenchat ins Leben gerufen, um häufig gestellte Fragen zu beantworten, und schafft mit Sondersendungen wichtiges Kontextwissen. Und Swissinfo bietet umfangreiche Hintergrunddossiers zu Covid-19 in bis zu zehn verschiedenen Sprachen an.

Viele Expertinnen und Experten geben nicht nur ihr Wissen weiter, sondern machen auch deutlich, wenn sie etwas nicht wissen.

Auch die bestehenden Unsicherheiten in Bezug auf die voranschreitende Epidemie findet Eingang in die Berichterstattung – bei den einen mehr, bei den anderen weniger. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Expertinnen und Experten, die den Medienschaffenden als Informationsquelle dienen. Epidemiologen wie Marcel Salathé von der ETH Lausanne, Virologinnen wie Alexandra Trkola von der Universität Zürich oder Biostatistikerinnen wie Tanja Stadler von der ETH Zürich liefern verlässliches Hintergrundwissen zum aktuellen Ausbruch. Und sie tun das sachlich, differenziert und um Einordnung bemüht. Entscheidend ist dabei: Salathé, Stadler und Trkola geben nicht nur ihr Wissen weiter, sondern machen auch deutlich, wenn sie etwas nicht wissen oder wenn ihre Einschätzungen mit Unsicherheiten behaftet sind.

So weist Tanja Stadler in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger mehrere Male darauf hin, dass die immer noch geringen Datenmengen die mathematische Modellierung der Covid-19-Epidemie erschweren. Marcel Salathé nennt bei der Frage, wie viele Menschen sich am Ende mit dem neuen Coronavirus anstecken werden, nicht nur eine einzige Schätzung, sondern macht deutlich, dass wir von verschiedenen Szenarien ausgehen müssen. Und Alexandra Trkola unterscheidet bei der Frage, wie das Virus übertragen wird, zwischen gesicherten Informationen und bestehenden Unklarheiten. Geklärt ist etwa die Tatsache, dass das Virus über die Atemwege aufgenommen wird. Noch nicht abschliessend geklärt sei hingegen, ob das Virus hauptsächlich über grosse Tropfen, die sich auf Oberflächen absetzen, oder auch über mikroskopisch kleine Tröpfchen übertragen wird, die in der Luft schweben.

Wie Michael Furger von der NZZ am Sonntag unlängst in einer Medienkritik zur Covid-19-Berichterstattung feststellte, spielen Medien und Wissenschaft aber nicht immer so gut zusammen. Insbesondere Boulevard-Medien wie «Blick» oder «20 Minuten» beliefern die Lesenden mit einer effekthascherischen Schlagzeile nach der anderen und schrecken dabei auch nicht davor zurück, Aussagen von Experten aus dem Kontext zu reissen. Ein fahrlässiges Vorgehen, wenn man bedenkt, dass ein Teil der Lesenden nur den Titel wahrnimmt.

«20 Minuten» vermittelt mit der Schlagzeile eine Gewissheit, die so nicht gegeben ist.

So bastelte «20 Minuten» aus einem längeren Interview mit dem Epidemiologen Christian Althaus in der NZZ die Schock-Schlagzeile «Im schlimmsten Fall gibt es bei uns 30’000 Tote» (Update 19.3.2020: «20 Minuten» hat ein Korrigendum veröffetlicht und den Titel geändert, er lautet jetzt: «Bevölkerung ist nicht immun gegen das Virus»). Das ist faktisch eines der möglichen Szenarien, die sich aufgrund epidemiologischer Modellierungen ergeben. Doch nur wer sich die Mühe macht, das Original-Interview zu lesen, erfährt, dass dieser «schlimmste Fall» auf der Annahme beruht, dass sich etwa 40 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infizieren. Wie Althaus im Interview klarmacht, wird diese Zahl wesentlich von den Präventionsmassnahmen beeinflusst und könnte damit tiefer, aber auch höher liegen, wenn wir untätig bleiben. «20 Minuten» vermittelt hier also eine Gewissheit, die so nicht gegeben ist.

Auch der «Blick» bekundet Mühe, Unsicherheiten korrekt wiederzugeben. So rissen die «Blick»-Journalisten ein Rechenbeispiel aus einem Twitter-Thread aus dem Kontext, um daraus die Prognose zu machen, dass «Ende Mai alle Spitalbetten belegt seien». Auf welchen theoretischen Annahmen dieses Szenario beruht, fehlte im Artikel – doch genau die Kenntnis dieser Annahmen ist entscheidend, um die Expertenaussage und die damit behafteten Unsicherheiten einordnen zu können. Auch hier wurde den Lesenden also eine Sicherheit vorgegaukelt, die weder dem wissenschaftlichen Kenntnisstand noch der Aussage des Experten selbst entspricht.

So entsteht ein Bild, das nicht den Tatsachen, sondern bloss dem Framing der Medien entspricht.

Das Problem solcher aus dem Zusammenhang gerissener Aussagen ist also nicht, dass sie grundlegend falsch sind, sondern dass sie eine Gewissheit vermitteln, die es oft nicht gibt. Wenn solche Schlagzeilen dann zusätzlich mit konträr wirkenden Aussagen anderer Experten kontrastiert werden, entsteht das Bild eines fundamentalen Dissenses, das aber nicht den Tatsachen, sondern bloss dem Framing der Medien entspricht.

Weil der Umgang mit wissenschaftlichen Unsicherheiten vielen Medienschaffenden Kopfschmerzen bereitet, lassen sie gerne Personen zu Wort kommen, die klar Stellung beziehen und die bestehenden Unsicherheiten damit vom Tisch fegen. Ein Beispiel dafür liefern einige Aussagen des Immunologen Beda Stadler. So spekulierte er letztens im «St. Galler Tagblatt», dass milde Temperaturen das Ansteckungsrisiko reduzieren könnten oder dass das Virus, wenn es mutiert, weniger gefährlich würde. Das wird zwar in Forschungskreisen diskutiert, ist jedoch nach wie vor mit grossen Unsicherheiten behaftet, weil wir noch sehr wenig über den neuen Erreger wissen.

Ebenso problematisch ist die Aussage, dass die Kehllaute des Schweizerdeutschen das Infektionsrisiko erhöhen. Dabei handelt es sich gleich in doppelter Hinsicht um Spekulation: Stadler spekuliert, dass Kehllaute mehr mikroskopisch kleine Tröpfchen aussondern – was im Widerspruch zu bisherigen Untersuchungen steht – und er spekuliert, dass diese Tröpfchen häufiger zu Infektionen führen würden als andere Übertragungswege – was noch unklar ist.

Das Verwerfliche ist nicht, dass Stadler solche Spekulationen anstellt, sondern dass er sie nicht als solche kennzeichnet – und dass die Journalisten, die ihn zu Wort kommen lassen, keine kritischen Rückfragen stellen oder ihn nach Quellen für seine Behauptungen fragen. Obwohl seine Aussagen damit nicht mehr oder weniger verlässlich sind als die Behauptungen eines Laien, wird der Eindruck vermittelt, sie würden auf seiner wissenschaftlichen Expertise beruhen.

Ähnlich verhält es sich mit den Aussagen des Ökonomen Reiner Eichenberger, der in «20 Minuten» das Ausbremsen der Wirtschaft durch die getroffenen Präventionsmassnahmen für übertrieben erklärt und den Vorschlag macht, «Junge vorbeugend und gezielt zu durchseuchen». Im Klartext heisst das: Eichenberger möchte, das sich der jüngere Teil der Bevölkerung gezielt mit dem Virus ansteckt, damit sie immun werden – oder zumindest jene, die das «Durchseuchen» überleben. Auf welche medizinischen und epidemiologischen Grundlagen Eichenberger seine Spekulationen stützt, bleibt unklar. Auch die dem Vorschlag zugrundeliegende Behauptung, dass der Nutzen der gegenwärtigen Präventionsmassnahmen über- und die dazugehörigen Kosten unterschätzt würden, belegt Eichenberger nicht.

Das Verwerfliche ist nicht, dass Beda Stadler solche Spekulationen anstellt, sondern dass er sie nicht als solche kennzeichnet.

Seine spekulativen Aussagen sind aus drei Gründen problematisch: Erstens steht und fällt der behauptete Nutzen seines Vorschlags mit der Annahme, dass das Risiko einer Wiederansteckung mit dem Virus klein ist – das kann sein, ist aber im Moment noch nicht geklärt. Zweitens schweigt sich Eichenberger über alle anderen Voraussetzungen komplett aus, die seinem Vorschlag zugrundeliegen. Wir wissen nicht, ob er die Anzahl der Toten, die Belastungen für das Gesundheitssystem oder die Auswirkungen auf die Wirtschaft bei einer «gezielten Durchseuchung» durchgerechnet hat, geschweige denn, welche Modellannahmen er dafür getroffen hat. Auch ein Blick auf seine Website liefert dazu keine Informationen. Damit wird eine kritische Überprüfung und Einordnung des Vorschlags sowohl für Laien als auch für Experten verunmöglicht.

Drittens überzeichnet Eichenberger die getroffenen und geplanten Präventionsmassnahmen, etwa indem er behauptet, man müsse «das Pflegepersonal in Mondanzüge stecken», um «die Alten» wirksam zu schützen. Gleichzeitig lässt er die Risiken des von ihm vorgeschlagenen Szenarios unerwähnt. Damit verengt er den Blick künstlich auf nur zwei Optionen und suggeriert so, dass sein Vorschlag angesichts der von ihm konstruierten Ausweglosigkeit der Lage die vernünftigere Lösung sei.

Intuition ist bei hochkomplexen Systemen wie der Volkswirtschaft selten ein guter Ratgeber.

Die Aussagen Stadlers und Eichenbergers sind freilich Extrembeispiele. Häufiger geschieht es, dass Expertinnen und Experten, die zu ihrem Fachgebiet befragt werden, sich zusätzlich zu Aussagen hinreissen lassen, die nicht ihrer fachlichen Expertise entspringen. Ein Beispiel dafür liefert Richard Neher vom Basler Biozentrum. Der auf die Evolution von Viren und Bakterien spezialisierte Biologe publizierte mit seinem Team in kürzester Zeit verständliche Modelle zu den möglichen Auswirkungen der Verbreitung von Covid-19 auf die Anzahl verfügbarer Spitalbetten. Das Modell und die dazugehörigen Annahmen veröffentlichte er auf seiner Website, erläuterte es in Interviews mit Watson oder der NZZ und wies dort auch darauf hin, dass die Validierung noch nicht abgeschlossen sei. Ein Paradebeispiel für die transparente und differenzierte Vermittlung von Expertenwissen.

Kurz zuvor hatte sich Neher jedoch in der NZZ am Sonntag zu Wort gemeldet, um schärfere Präventionsmassnahmen vom Bund zu fordern – unter anderem mit dem Argument, dass die wirtschaftlichen Kosten solcher Massnahmen weitaus tiefer seien als die wirtschaftlichen Einbussen durch eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus. Als ökonomischer Laie würde ich der Behauptung intuitiv zustimmen, doch Intuition ist bei hochkomplexen Systemen wie der Volkswirtschaft selten ein guter Ratgeber.

Das gestiegene Medieninteresse verleitet Interviewpartner dazu, Einschätzungen zu Themen zu geben, die ausserhalb ihrer Expertise liegen.

Um eine informierte Einschätzung der Prognose treffen zu können, müsste ich wissen, auf welche Datengrundlage oder Annahmen sie sich stützt. Im Interview mit Neher wurde das nicht erläutert – wohl auch, weil die wenigsten Medien bereit sind, dafür Platz zu schaffen. Auch eine entsprechende Anfrage auf Twitter blieb unbeantwortet, zeigte aber, dass die Einschätzung der wirtschaftlichen Folgen von Covid-19 auch für Expertinnen der Ökonomie nicht einfach ist.

Das gestiegene Medieninteresse rund um Covid-19 verleitet also einige der angefragten Interviewpartner dazu, Einschätzungen zu Themen zu geben, die ausserhalb ihrer Expertise liegen. Das kann schnell zu Spekulationen oder Fehleinschätzungen führen, denn wer Expertin in epidemiologischen Fragen ist, weiss deshalb nicht automatisch über die wirtschaftlichen Folgen einer Pandemie Bescheid – und umgekehrt. Gerade in Krisenzeiten, in denen die Zeit für Recherche und Quellenprüfung knapp bemessen ist und verlässliche Informationen deshalb umso wichtiger sind, können Expertenmeinungen so zu einem zweischneidigen Schwert werden.

Wie die genannten Beispiele zeigen, kann Expertenkommunikation auf drei Arten schiefgehen:

Erstens kommen in den Medien Expertinnen und Experten zu Wort, die nicht nur um Einordnung und Versachlichung bemüht sind, sondern sich auch davor hüten, Aussagen zu Themen zu machen, zu denen keine empirischen Daten vorhanden sind oder die ausserhalb ihres Fachgebiets liegen. Das vermindert die Wahrscheinlichkeit von falschen oder verzerrten medialen Meldungen, schliesst sie aber nicht aus, wie die aus dem Kontext gerissenen Aussagen von Althaus oder Salathé zeigen. Die Verantwortung für solche irreführenden Informationen liegt aber nicht bei den Experten, sondern bei den Medienschaffenden.

Zweitens treten Fachleute auf, die nicht nur differenzierte Einschätzungen zu ihrem eigenen Forschungsgebiet liefern, sondern sich auch auf Terrain vorwagen, das ausserhalb ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit liegt. Das heisst nicht, dass die daraus resultierenden Aussagen falsch sein müssen. Es bedeutet lediglich, dass eine Person, die auf eine bestimmte Forschungsfrage spezialisiert ist, die Verlässlichkeit und Aussagekraft der zu dieser Frage vorhandenen Informationen durchschnittlich besser einschätzen kann als Informationen zu anderen Themengebieten. Ob das auch geschieht, ist natürlich eine andere Frage.

Für Laien ist es aber kaum möglich, bei der Lektüre eines Interviews zu erkennen, welche Aussagen sich auf gesicherte Informationen stützen, über welche die Auskunftsperson aufgrund ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit verfügt, und welche Aussagen auf Annahmen oder Spekulationen ohne verlässliche Evidenz zurückzuführen sind. Hier sind Redaktionen und Experten gleichermassen gefragt: Die Medien sollten mittels Recherchen im Vorfeld und kritischen Rückfragen während des Interviews dafür sorgen, dass die Aussagen korrekt kontextualisiert und eingeschätzt werden. Die Fachleute wiederum sollten sich darum bemühen, zwischen gesicherten und ungesicherten Informationen zu unterscheiden und auch die Grenzen der eigenen Expertise sichtbar zu machen.

Drittens erhalten in den Medien auch Personen eine Plattform, die inkompetente Einschätzungen liefern. Das kann zum Beispiel geschehen, weil sie aufgrund mangelnder Expertise nachweislich falsche Behauptungen aufstellen oder weil sie die eigene Kommunikation derart zuspitzen, dass die bestehenden Unsicherheiten oder kontextrelevante Zusatzinformationen unerwähnt bleiben. Bei den oben erläuterten Beispielen von Beda Stadler und Reiner Eichenberger besteht ein doppeltes Versagen: Die Medienschaffenden versagen, weil sie Personen unkritisch eine Plattform bieten, die keine fundierte Expertise, sondern Spekulation liefern. Und die angefragten Personen versagen, weil sie ihre Autorität als Wissenschaftler dazu missbrauchen, persönliche Spekulationen als verlässliche wissenschaftliche Informationen zu verkaufen.

All dies stellt uns vor die schwierige Frage, wie Medien und Publikum mit Expertenmeinungen umgehen sollen. Einerseits sind Expertinnen und Experten gerade in Krisenzeiten eine effiziente Möglichkeit, um verlässliche Einschätzungen zu einer komplexen Entwicklung zu erhalten. Auf der anderen Seite betrachten Expertinnen und Experten eine Situation in erster Linie durch die Brille ihrer fachlichen Expertise. Das ist so lange kein Problem, wie sie sich dieses Umstands bewusst sind und klar zwischen Aussagen basierend auf der eigenen Expertise und Extrapolationen auf andere Bereiche unterscheiden.

Wenn Experten den Eindruck erwecken, dass es ihnen mehr um Aufmerksamkeit für sich selbst und weniger um seriöse Informationevermittlung geht, verspielen sie viel Vertrauen.

Zum Expertentum gehört also, die Grenzen der eigenen Expertise zu kennen. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn Experten eine wissenschaftliche und politische Doppelrolle einnehmen, d.h. wenn ihre Aussagen nicht nur informativen, sondern auch empfehlenden Charakter haben. Gerade Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geniessen in unserer Gesellschaft grosses Vertrauen. Diesem Vertrauen tragen sie nicht nur dann Rechnung, wenn sie ihre Expertise demonstrieren, sondern auch, wenn sie die eigene Integrität unter Beweis stellen und sich wohlwollend verhalten. Wenn Experten den Eindruck erwecken, dass es ihnen mehr um Aufmerksamkeit für sich selbst und weniger um seriöse Informationsvermittlung geht, verspielen sie viel Vertrauen. Wer im richtigen Moment hingegen die eigene Meinung hintenanstellt, pflegt damit nicht nur die Verlässlichkeit des öffentlichen Diskurses, sondern stärkt langfristig auch die eigene Glaubwürdigkeit.

Medienschaffende und auch deren Publikum sind demgegenüber gut beraten, den Inhalt und nicht den Absender einer Aussage zu beurteilen. Ob jemand Professorin, Arzt oder Wissenschaftlerin ist, sagt noch noch nichts darüber aus, ob diese Person eine kompetente Einschätzungen geben kann, denn das ist auch abhängig vom jeweiligen Kontext und der konkreten Frage. Ich plädiere deshalb dafür, Kompetenz nicht als Eigenschaft einer Person, sondern als Beschreibung einer Handlung oder Aussage zu betrachten.

Kompetenz hat man nicht, man zeigt sie. Diese Unterscheidung verhindert, dass wir uns von Titeln und Berufsbezeichnungen blenden lassen. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn wir den Spekulationen von Immunologe Beda Stadler mehr Glauben schenken als den Behauptungen des Ökonomen Eichenbergers, wenn es um Covid-19 geht – unabhängig vom Inhalt.

Das tat auch Thomas Ley, Blattmacher beim Blick, bei einer Diskussion auf Twitter. Er kritisierte das Interview mit Eichenberger in «20 Minuten», verteidigte aber auf Nachfrage einen Artikel im «Blick», in dem mehrere von Stadlers Spekulationen in zugespitzter Form wiedergegeben wurden. Stadler sei – im Gegensatz zu Eichenberger – «vom Fach», weshalb seine Spekulationen für ihn «in einer ganz anderen Welŧ» seien als jene Eichenbergers. Da aber auch Stadlers Behauptungen spekulativ sind und er sich in Sachen Zuspitzung nicht von Eichenberger unterscheidet, lässt sich das höhere Vertrauen in Stadlers Äusserungen nicht mit der von ihm demonstrierten, sondern allein mit der auf ihn projizierten Kompetenz begründen. Eine Projektion, die aufgrund seines Titels und seines beruflichen Hintergrunds, jedoch unabhängig vom konkret Behaupteten geschieht.

Titel und Berufsbezeichnung einer Fachperson sind keine hinreichende Grundlage, um die Verlässlichkeit ihrer Behauptungen zu beurteilen.

Wenn wir dieses Argument zu Ende denken, müssten wir aber der Forderung nach einer «gezielten Durchseuchung» der Bevölkerung mehr Glauben schenken, wenn sie von Stadler statt von Eichenberger käme. Nicht, weil sich die Aussage inhaltlich in irgendeiner Form verändert hätte, sondern einzig aufgrund der Tatsache, dass der Absender ein anderer ist. Titel und Berufsbezeichnung einer Fachperson sind also keine hinreichende Grundlage, um die Verlässlichkeit ihrer Behauptungen zu beurteilen.

Das macht es für Leserinnen und Leser freilich noch schwieriger, kompetente von inkompetenten Einschätzungen zu unterscheiden. Die wenigsten von uns haben die Zeit und das Fachwissen, um Expertenaussagen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können. Diese Aufgabe fällt bis zu einem gewissen Grad den Journalistinnen und Journalisten zu. Sie sollten dem Publikum dabei helfen, irreführenden Nonsens von verlässlichen Informationen unterscheiden, und damit im Krisenfall eine Art «geistige Rettungsgasse» schaffen, damit die relevanten und verlässlichen Informationen durchdringen können. Dazu gehört insbesondere, die befragten Experten konsequent nach Quellen und Unsicherheiten fragen, diese richtig wiederzugeben und auf Zuspitzungen und Übertreibungen verzichten. Das geht auch unter Zeitdruck – die vielen lobenswerten Beispiele bei der Berichterstattung zu Covid-19 sind der Beweis.

Leserbeiträge

Ueli Custer 13. März 2020, 09:17

Vielen, herzlichen Dank für diesen Artikel! Er bringt auf den (leider etwas langen) Punkt, was ich in Diskussionen im Facebook immer wieder feststelle. Der Laie nimmt praktisch alle Informationen im Netz als mehr oder weniger gleichwertig wahr. Er hat nie gelernt, nach welchen Kriterien man mediale Informationen beurteilen kann und soll. Und das führt dann zu einer Flut von Fehlinterpretationen.

Gustav 14. März 2020, 18:15

Die Frage ist, ob Beda Stadler als Immunologe die Sache nicht besser versteht, als die Epidemiologen und Statistiker

Ueli Custer 19. März 2020, 18:10

Facebook hat meinen Link zu diesem wichtigen und wertvollen Artikel gesperrt weil es sich um Werbung für medienwoche.ch handle. So dumm sind Algorithmen! Ich habe mich zwar dagegen gewehrt, aber natürlich ohne jeden Effekt.