von Marko Ković

Stochern im Nebel der Desinformation

Die Debatte über Desinformation ist oft näher an Spekulation als an Fakten. Auch das aktuelle Jahrbuch «Qualität der Medien» tut sich schwer mit dem Begriff. Um zu verstehen, was es mit Desinformation wirklich auf sich hat, ist vor allem mehr investigative Arbeit gefragt.

Ob Pizzagate, QAnon, tödliche 5G-Strahlung oder Coronavirus-«Plandemie»: Wir leben im goldenen Zeitalter der Falschinformation. Nicht zuletzt dank Social-Media-Plattformen verbreiten sich heutzutage Gerüchte, Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Lügen so schnell wie noch nie.

Ein Untertyp von Falschinformation ist dabei besonders besorgniserregend: Desinformation.

Desinformation ist Falschinformation, die bewusst und absichtlich gestreut wird, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Wer Falschinformation verbreitet, glaubt aufrichtig, die Wahrheit zu verkünden. Wer hingegen Desinformation verbreitet, weiss genau, dass es sich um Falschinformation handelt. Die Absender*innen von Desinformation wollen gezielt täuschen und Schaden anrichten.

Desinformation erlebte während des Kalten Kriegs eine erste Hochblüte. Von Ost und West wurde diese Form der verdeckten Propaganda zur moralischen Destabilisierung der Gegenseite eingesetzt. Mit den US-Präsidentschaftswahlen von 2016 rückte die systematische Desinformation wieder auf den Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit. Damals deckte die «New York Times» auf, dass sich Russland mit Online-Kampagnen aktiv in den US-Wahlkampf einmischte, um Stimmung gegen Hillary Clinton zu machen und Chaos und Verwirrung zu stiften. Diese Entwicklung erregte Besorgnis. Darum hat etwa die Europäische Union der Desinformation den Kampf angesagt. Mit dem Interesse der Politik stieg in den letzten Jahren auch jenes von Medien und Wissenschaft an dem Phänomen. Völlig zu Recht, denn Desinformation zielt darauf ab, die Integrität der demokratischen Debatte zu unterminieren.

Die Studie im Jahrbuch «Qualität der Medien» steht symptomatisch für die falsche Sicherheit, in der sich Medien und Forschung beim Thema Desinformation wiegen.

Desinformation beschäftigt auch die Medienforschung in der Schweiz. So hat das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft «fög» unlängst im Rahmen seines Jahrbuchs «Qualität der Medien 2021» mit der Teilstudie «Wahrnehmung von Desinformation in der Schweiz» herausgefunden, dass knapp ein Viertel der Bevölkerung häufig oder sehr häufig, gut weitere 29 Prozent moderat häufig, auf Desinformation stossen. Die wichtigsten Kanäle, auf denen sich Desinformation laut den Befragten verbreite, seien Social-Media-Plattformen (62 Prozent), Alternativmedien (39 Prozent) und Videoportale wie Youtube (36 Prozent). Im Kontrast dazu scheinen Fernsehen (13 Prozent), Zeitungen (11 Prozent) und Radio (5 Prozent) als Oasen seriöser journalistischer Information ein regelrechtes Bollwerk gegen Desinformation zu bilden. 61 Prozent der Bevölkerung nutzen denn auch journalistische Medien aktiv, um im Desinformations-Dschungel den Durchblick zu behalten und wahre von falschen Informationen zu unterscheiden.

Diese Befunde des Jahrbuchs wurden seitens journalistischer Medien mit Kusshand aufgegriffen. Eine genauere Auseinendersetzung blieb aber aus, mit lobenswerter Ausnahme der «WOZ Die Wochenzeitung».

Doch ein kritischer Blick lohnt sich, denn die Studie des «fög» steht symptomatisch für die falsche Sicherheit, in der sich Medien und Forschung beim Thema Desinformation wiegen.

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Konkret gibt es zwei Probleme, die der Aussagekraft der Untersuchung des «fög» einen Abbruch tun. Zum einen handelt es sich bei der Untersuchung lediglich um eine Umfrage zur Wahrnehmung von Desinformation. Es geht also nicht darum, wie die Befragten zur Einschätzung gelangen, dass sie es mit Desinformation zu tun haben. Wenn sie mehrheitlich angeben, dass ihnen Desinformation vor allem auf Social Media begegnet, mag das grundsätzlich plausibel klingen.

Das sagt aber nichts darüber hinaus, ob und wie stark Desinformation tatsächlich auf Social Media und auf anderen Kanälen kursiert. Zum Beispiel ist es denkbar, dass die Befragten die Bedeutung von Social Media für Desinformation überschätzen, weil in der öffentlichen Debatte seit Jahren betont wird, wie sehr Desinformation auf Social Media präsent ist. Zum anderen ist die Untersuchung des «fög» ein methodisches Wirrwarr. Gemäss der Studie wurde den Befragten wie folgt erklärt, was Desinformation ist: «Falschinformationen sind Nachrichten oder Informationen, von denen Sie glauben, dass sie absichtlich in die Welt gesetzt wurden und die Realität falsch darstellen oder sogar unwahr sind.»

Das blosse Bauchgefühl ist in keiner Art ein zuverlässiger Indikator für tatsächliche Desinformation.

Diese Definition ist gleich doppelt falsch. Einerseits wird hier «Falschinformation» synonym mit «Desinformation» verwendet, was nicht korrekt ist; Desinformation ist ein ganz spezifischer Untertyp von Falschinformation: Alle Desinformation ist Falschinformation, aber nicht alle Falschinformation ist Desinformation. Andererseits wird in der Definition des «fög» festgehalten, dass sich Desinformation dadurch auszeichnet, dass man selber glaubt, dass es sich um Desinformation handelt. Das ist eine erkenntnistheoretisch falsch gewickelte Brezel, die das ganze Vorhaben ad absurdum führt: Das blosse Bauchgefühl ist in keiner Art ein zuverlässiger Indikator für tatsächliche Desinformation. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass damit getäuscht und hinters Licht geführt werden soll. Wenn wir Desinformation ohne Weiteres und zuverlässig als solche erkennen könnten, wäre das Problem ja keines.

Mit dieser Kritik soll die grundsätzlich sehr wertvolle und wichtige Arbeit des «fög» nicht in Frage gestellt werden. Die Studie zur Desinformation ist allerdings bezeichnend für die allgemeine wissenschaftliche und journalistische Hilflosigkeit beim Thema Desinformation.

Es ist die Natur von Desinformation, im Heimlichen stattzufinden und zu täuschen. Das macht es schwierig, sie systematisch zu messen.

Auch andere grosse Untersuchungen, wie zum Beispiel der «Digital News Report» des Reuters Institute an der Universität Oxford, nutzen wenig aussagekräftige Umfragen. Die wissenschaftliche Ungewissheit betrifft aber nicht nur die Frage, wie viel Desinformation es tatsächlich gibt. Bereits das blosse Konzept von Desinformation ist nach wie vor umstritten. Zwar herrscht Konsens, dass Desinformation eine Form absichtlich und wissentlich verbreiteter Falschinformation ist. In der wissenschaftlichen Literatur werden aber eine ganze Reihe von Phänomenen unter dem etwas gar breiten begrifflichen Dach der Desinformation vereint; von gezielten Manipulationskampagnen staatlicher Akteure bis hin zu gefälschten Produktbewertungen auf Amazon und Co.

Das bedeutet aber nicht, dass sich Wissenschaft und Journalismus vom Problem der Desinformation abwenden sollen. Im Gegenteil: Wir brauchen eine vertiefte und (selbst-)kritische Debatte. Wie sieht eine solche aus? Sie müsste mit einem bitteren Eingeständnis beginnen. Wir wissen, dass Desinformation grundsätzlich existiert und ein Problem ist. Wie gross das Problem aber tatsächlich ist, wissen wir nicht. Es ist die Natur von Desinformation, im Heimlichen stattzufinden und zu täuschen. Das macht es fundamental schwierig, systematisch zu messen, wann, wo und wie viel Desinformation anzutreffen ist.

Manchmal ist es aufschlussreicher, einzelne Bäume im Detail zu studieren als aus der Ferne ein verschwommenes Foto des Waldes zu schiessen.

Zum anderen täten sowohl Medien als auch Forschung gut daran, sich stärker auf investigative Arbeit zu besinnen. Wir können zwar kaum systematisch erfassen, wie viel Desinformation es insgesamt gibt, aber hartnäckige Recherchen können einzelne Kampagnen entlarven. In der Summe wird damit Licht ins Dunkel von Desinformations-Ökosystemen gebracht. Wie diese Form der investigativen Arbeit geht, demonstriert beispielsweise das «Programme on Democracy & Technology» der Universität Oxford mit ihren jährlich erscheinenden Berichten über Desinformation auf Social Media. Die Berichte funktionieren als systematische Synthesen investigativer journalistischer Arbeit. In der jüngsten Studie für 2020 wurde weltweite journalistische Berichterstattung über aufgedeckte Desinformations-Kampagnen und die profitorientierten Unternehmen, die dahinter stecken, gesammelt und um weitere länderspezifische Recherchen ergänzt. Das Gesamtergebnis ist eine umfassende, strukturierte Analyse der Desinformations-Industrie in 81 Ländern.

Manchmal ist es sowohl journalistisch als auch wissenschaftlich aufschlussreicher, einzelne Bäume im Detail zu studieren als aus der Ferne ein verschwommenes Foto des Waldes zu schiessen.