von Stephanie Rebonati

Eine erhabene Geschichte

Der Journalist Sacha Batthyany hat die Kriegsreporterin Janine di Giovanni in Paris besucht. Das Resultat: ein zwölfseitiger Text, der am 29. Oktober 2011 in «Das Magazin» erschien. Ein Artikel, der aus rezeptionsästhetischer Sicht seinesgleichen sucht. Der Leser liebt, hofft und trauert mit der Protagonistin mit. In der Literaturwissenschaft nennt man dieses Phänomen Katharsis – die Läuterung der Seele von Leidenschaften.

Der Samstagmorgen vom 29. Oktober war nebelverhangen. Und auch «Das Magazin» präsentierte sich trist und grau. Die Front war schwarzweiss. Das Titelbild zeigte eine unglücklich wirkende Frau in einem Jeep weit weg von daheim. Die Frau war Janine di Giovanni, Kriegsjournalistin, Autorin und Mutter eines siebenjährigen Knaben. Auf Seite zwölf begann ihre Geschichte: «Liebe in Zeiten des Krieges».

Janine di Giovanni hat im Juli 2011 ihre Memoiren vorgelegt: «Ghosts by Daylight – A Memoir of War & Love». Sacha Batthyany, Redaktor bei «Das Magazin», besuchte sie: «mit einer selbstverständlichen Gastfreundschaft, wie sie Amerikanern eigen ist, bittet sie hinein in ihre warme Pariser Wohnung». Er beschrieb die 49-jährige Frau: «Janine di Giovanni trägt eine schwarze Bluse mit feinen Spitzen, enge Leggins und Stiefel». Und er stellte ihr Fragen: «Aber warum hatten Sie all diese Jahre nie Angst, Frau di Giovanni? Warum ist Ihnen Ihr Leben egal?» Auszüge aus Janine di Giovannis Buch wechseln sich ab mit Batthyanys Beobachtungen, Recherchen und Unbestimmtheitsstellen, offene Zeichen, die vom Leser assoziativ gefüllt werden. Ein Geflecht, das atmet und den Leser nachhaltig berührt.

Man liest, wie Janine di Giovanni die Kriege der letzten zwanzig Jahre erlebte und überlebte. Wie sie ihre grosse Liebe fand, um sie wieder zu verlieren. Und wie Sacha Batthyany die berühmte Kriegsreporterin und deren Sohn Luca in ihren eigenen vier Wänden wahrnimmt. Unweigerlich lebt und liebt man mit, hofft und leidet mit Janine di Giovanni. Das ist Storytelling – Gestaltung eines Kommunikationsangebots als Geschichte, mit typischen Textrollen, Schauplätzen, Handlungen und Perspektiven.

Durch die Elemente des Storytelling erlebt der Leser nacheinander die Tragödie, den Kassandraruf, die Ekstase und die Erlösung. In der ästhetischen Theorie beschreibt man Auslöser derart aufwühlender Rezeptionsprozesse als kathartische oder erhabene Werke. Bereits Kant, Hegel und Baumgarten haben sich mit diesem Ästhetik-Begriff befasst. In ästhetisch-theoretischen Texten ist immerzu die Rede von literarischen Werken oder Gemälden u.a. von William Turner, Lucas Cranach der Ältere oder Mark Rothko, die kathartisch sein können.

Journalistische Texte wurden von den Philosophen nicht als erhaben oder kathartisch reflektiert. Man erlaube sich jedoch diese Behauptung: Sacha Batthyany legte mit «Liebe in Zeiten des Krieges» einen erhabenen Text vor. Batthyany schuf eine Geschichte um die Geschichte, einen Kontext im Kontext, die den Leser zunächst aufwühlt, um ihn später mit einer Ruhe gehen zu lassen, die Zuversicht verspricht – Läuterung der Seele. Dies gelang ihm vor allem durch Unbestimmtheitsstellen, die die mitschöpferische Tätigkeit des Lesers anregen. Durch Unbestimmtheitsstellen wird Kopfkino ausgelöst und Konkretisation der Inhalte hervorgerufen.

Die Nomen reichen aus: Bosnien, Afghanistan, Paris, Bengasi, Geburt, Heiratsantrag, AK-47. Der Leser lässt seine Fantasie frei walten und ergänzt oder konkretisiert die Wörter assoziativ und intuitiv, damit sie voll bestimmt zu sein scheinen. Unbestimmtheitsstellen sind nicht zufällig, etwa die Folge eines Kompositionsfehlers, sondern notwendig für jedes literarische Werk. Das schrieb der polnische Philosoph Roman Ingarden in einem Werk zur Rezeptionsästhetik.

Bedeutungsschwangere Texte, in denen jedes Detail ausgeleuchtet ist, können keine kathartischen Auswirkungen entwickeln, weil der Leser im vorgegebenem Schema gefangen ist. Dabei wird die Bedeutung literarischer Texte im Lesevorgang generiert. Bedeutung entsteht durch die Interaktion von Text und Leser, der sein Vorwissen und seine Gefühle in die Rezeption einbringt. Wie Ping Pong: ein harmonisches Hin und Her. Oder in Worten der Literaturwissenschaft: Das literarische Werk besitzt zwei Pole, einen künstlerischen und einen ästhetischen. Der künstlerische wird in Form eines Textes vom Autor geschaffen und der ästhetische ist die vom Leser geleistete Konkretisation der Inhalte, die im Text präsentiert werden.

Auf Seite 23 endet Janine di Giovannis Geschichte. Sie entlässt den Leser mit einem Gefühl der Zuversicht, er denkt sich: «Es gibt sie noch, die von Passion und Neugierde getriebenen Journalisten wie Sacha Batthyany» oder «Es gibt sie noch, Menschen wie Janine di Giovanni, die an etwas glauben und sich verwirklichen». Was danach in «Das Magazin» folgte, enttäuschte. Chefredaktor Finn Canonica widmete zwölf Seiten der Basler Möbeldesigner INCH Furniture und bot am Schluss dem Leser einen Beistelltisch namens Loro feil: 74 Zentimeter hoch mit einem Durchmesser von 42 Zentimeter. Für 760 Franken.

Buchhinweis: «Ghost by Daylight – A Memoir of War & Love», Janine di Giovanni, 2011 bei Bloomsbury and Knopf (UK) erschienen, ISBN 9781408820513

Leserbeiträge

Stefan Keller 11. November 2011, 14:33

Jessesgott.

Fred David 14. November 2011, 11:10

Ditto: OMG *)

*)Oh MY God!