von Nick Lüthi

Die Dinge beim richtigen Namen nennen

Daran wird die kranke Kommentarkultur nicht genesen, aber die Süddeutsche Zeitung setzt ein wichtiges und richtiges Signal: Kommentare heissen neu «Beiträge», weil nur noch veröffentlicht werden soll, was zu den Artikeln etwas beiträgt. Aus gleichen Erwägungen gehörte auch der «Leserreporter» abgeschafft und zum «Augenzeugen» umbenannt.

Nachtrag: «Leserreporter» sponsern «Reporter»

Der Kommentar gilt zurecht als anspruchsvolle journalistische Form. In traditionellen Redaktionsorganisationen ist er denn auch den erfahrenen Journalisten vorbehalten. Kommentieren kann und soll nur, wer vom Thema etwas versteht, dazu eine Meinung hat und diese verständlich auszudrücken weiss.

In den letzten Jahren hat der Kommentar einen Begriffswandel durchlaufen und dabei eine Abwertung erfahren. Im journalistischen Kontext wird darunter nicht mehr alleine das klassische Meinungsstück verstanden, sondern auch und vor allem die mehr – aber meist weniger – ergiebigen Meinungsbekundungen von Leserinnen und Lesern auf Medienwebsites. Hier gilt bekanntlich: Kommentieren dürfen alle, unabhängig davon, ob sie von der Sache etwas verstehen; ganz im Gegensatz zum redaktionellen Kommentar.

Nun schreitet die Süddeutsche Zeitung zur Ehrrettung des Kommentars. Online-Chef Stefan Plöchinger schreibt dazu: «Wir reden nicht mehr von Kommentaren unter den Artikeln. Sondern von Beiträgen unserer Leser zu den Artikeln – weil echte Kommunikation bedingt, dass jeder ein gutes Argument beiträgt.» Die neue Terminologie alleine bewirkt natürlich noch gar nichts, deshalb will sueddeutsche.de die Leserbeiträge künftig stärker gewichten: «Wir werden jene Beiträge von Lesern als ‚Beste Beiträge‘ hervorheben, die die Debatte weiterbringen, und andere zurückstellen.»

Wie mit den Kommentaren verhält es sich auch beim Leserreporter. Das Einsenden von Handy-Schnappschüssen als Reportertätigkeit zu bezeichnen, spottet jeder Beschreibung. Und dennoch konnte sich die Begrifflichkeit im deutschsprachigen Raum etablieren; im Englischen ist es mit dem Amateur Journalist nicht viel besser. Noch hat sich kein Medium durchgerungen und den Leserreporter als das bezeichnet, was er ist: ein Augenzeuge.

Hansi Voigt, abtretender Chefredaktor von 20 Minuten Online, ist sich des Problems bewusst, wenn er sagt: «Man könnte sie ‚Augenzeugen‘ nennen, denn sie liefern ja keine eigene journalistische Wertung oder Deutung mit. Die journalistische Arbeit geschieht hier auf der Redaktion, das können sie nicht leisten. Auch wenn es keine Reporter sind: Der Name ‚Leserreporter‘ hat sich halt durchgesetzt.» Voigt könnte seinem Nachfolger mit auf den Weg geben, dies zu ändern.

Auf den ersten Blick geht es nicht um viel. Zwei Begriffe zu ändern, sieht verdächtig nach Kulissenschieberei aus. Das ist es auch, wenn die Begriffe nicht mit dem gefüllt werden, wofür sie stehen, respektive urspünglich standen. Der Kommentar und der Reporter gehören zurück in die Spähre des professionellen Handwerks und nicht in den Amateurbereich.


Eine bizarre Koinzidenz im Zusammenhang mit dem Reporter-Begriff findet sich derzeit beim Schweizer Fernsehen SF: Als TV-Sponsor der Sendung «Reporter» tritt 20 Minuten Online mit seinen «Leserreportern» auf. Entgegen den Aussagen von Hansi Voigt, Chefredaktor 20 Minuten Online, der es für problematisch hält, Augenzeugen als «Reporter» zu adeln (siehe oben), setzt sein Titel nun noch eins drauf, indem er unter dem Label der Amateurknipserei die Profi-Reporter sponsert.

Leserbeiträge

David Bauer 16. Oktober 2012, 22:14

Redaktionell hervorgehobene Kommentare haben sich bei uns bei der TagesWoche gut bewährt. Ganz einfach deshalb, weil sie die Bedürfnisse der Leser in den Vordergrund stellen, die sich aus der Kommentarspalte Mehrwert erhoffen, und nicht die der Kommentierenden. Mehrwert definiert sich oft durch neu eingebrachte Aspekte, weiterführende Informationen und Links – und weniger durch pointierte Meinungen zum Geschriebenen. Kommentare in Beiträge umzubenennen halte ich insofern für einen klugen Schritt.

Nick Lüthi 16. Oktober 2012, 23:19

Den Entscheid der Süddeutschen in Ehren, aber ich verstehe das Zögern der grossen Anbieter nicht, weshalb sie bei der kranken Kommentarkultur nicht längst schon zur Kur geschritten sind und einen Schnitt gemacht haben. Das lässt sich höchstens damit erklären, dass Beiträge mit Krawallkommentaren eben auch Publikumsmagneten sind und Klickvieh anziehen.

David Bauer 17. Oktober 2012, 08:56

Die grosse Frage ist halt: Was soll stattdessen kommen? Und wie man am Beispiel 20Minuten sehr schön sieht, sind einige Grosse gar nicht darauf angewiesen, dass sinnvolles in den Kommentarspalten beigetragen wird, weil sie andere Kanäle geöffnet haben, um Inputs von Lesern entgegen zu nehmen.

Roger Doelly 17. Oktober 2012, 03:13

Die Illustration dieses Artikels mit der «Reporterin bei der Arbeit» ist stümperhaft. Auf dem Bild ist die Reporterin kaum zu erkennen. Auch der Google-Screenshot bietet keinen Mehrwert. Übrigens: Bei 20 Minuten Online werden Leserkommentare ebenfalls hervorgehoben. Und auch hier auf dieser Seite heissen Kommentare eben Kommentare. Bei all dem Schwachsinn, den professionelle Journalisten täglich über Twitter verbreiten, kann ich mich über angeblich «wenig ergiebige Meinungsbekundungen» auf Online-Portalen sowieso nicht aufregen.

johannes kornacher 20. Oktober 2012, 18:38

einverstanden, kollege lüthi. eine bemerkung sei erlaubt zum thema kommentar: der profi-journalismus wird nicht per se professioneller, indem man ihm die begriffe-hoheit garantiert. gerade in schweizer printmedien, egal ob liberal oder rechtsliberal, dort jedoch besonders auffällig, ist die permanente vermischung von meldung und kommentar ein tägliches ärgernis. es scheint, als sei vielen schreibern, pardon, profischreibern, dieser kardinalfehler ebenso wenig bewusst wie den autofahrern die missachtung der rechts-vor-links-regel. man machts einfach – und denkt sich nix dabei, weil’s eh alle machen…

Philip Kübler 21. Oktober 2012, 13:28

Es spricht für eine Kultur, wenn sie Gattungen kennt. Denken wir an den Bereich der Musik, des Films oder auch an beiliebige Berufe und ihre Ordnungsbegriffe. Die Gattungen entwickeln sich und dürfen sich ausdehnen, doch der Berufsstand setzen die Gattungsbegriffe im Grossen und Ganzen durch. Auf Etikettenschwindel wird gepfiffen. Wenn Gattungen und ihr „Enforcement“ schwächeln, ist es ein Armutszeugnis. – Damit wären wir bei den Augenzeugen. Der Zeuge in der Justiz ist wegen seiner sinnlichen Wahrnehmung gefragt – seine Meinungen sind unerwünscht. Wer keine relevante Beobachtung oder Wahrnehmung gemacht hat, gehört nicht in den Zeugenstand. Und schwenkt die Zeugin auf Meinungsäusserungen, ruft der Gegenanwalt „Einspruch!“. So gesehen sind es meistens bloss „Beiträge“ und keine Zeugenaussagen. Höchst selten stammen sie von Augenzeugen, die etwas Besonderes gesehen haben und sich deshalb als Leser einbringen. Die Süddeutsche Zeitung hat die passende Bezeichnung gewählt: Sie schützt die bewährten journalistischen Gattungen, ist angemessen bescheiden und allgemein genug. Weil sich für die neue Gattung in der Praxis trotzdem „User Comments“ oder „Nutzer/-Leserkommentar“ durchsetzen wird, müssen die Redaktionen für ihre eigenen Kommentare auf einen Zusatz („Kommentar der Redaktion / des Chefredaktors“ etc.) ausweichen.