von Marc Böhler

Meine elf Jahre bei NZZ Online

«NZZ-Leser brauchen kein Papier»: 2012 ist die Alte Tante zumindest mit ihrem Werbeslogan in der digitalen Gegenwart angekommen. Bis es so weit war, hat die Neue Zürcher Zeitung immer wieder wertvolle Kompetenzen im Online-Journalismus verloren. Marc Böhler war elf Jahre, von 2000 bis 2011, Redaktor von NZZ Online und hat den Schlingerkurs hautnah miterlebt. Ein Rückblick auf vier Phasen der Online-Publizistik.

Vielversprechend war die Generalversammlung der AG für die NZZ vor einem Jahr. Das Wort «digital» fiel derart häufig, dass jene Aktionäre erfreut sein durften, welche die Emanzipation vom Papier als Chance für das traditionsreiche Medienhaus sehen. Wie sich später zeigen wird, sollte diese Zuversicht verfrüht gewesen sein. Von der Aufbruchsstimmung war schon ein Jahr später nichts mehr zu spüren.

NZZ Chefredaktor Markus Spillmann hob an der diesjährigen GV hervor, dass der Medienwandel nicht nur eine Veränderung beim Trägermedium umfasse, sondern viel mehr bedeute. Das hat Peter Sloterdijk kürzlich Markus Spillmann erklärt: «Heute ist ein Journalist aus dem Printzeitalter fast in der Position des katholischen Klerus des 15. Jahrhunderts, der plötzlich mit diesen Druckerzeugnissen der Protestanten konfrontiert ist.» Nach wie vor hängen äusserst dunkle Wolken über den klassischen Medienbetrieben.

Von 2000 bis 2011 war ich Online-Redaktor bei der NZZ. Im Folgenden blicke ich auf vier Phasen der Online-Publizistik der Neuen Zürcher Zeitung zurück seit der Gründung 1997 bis heute.

1997-2001: Die Pionierphase

Qualität im Netz hiess bei der NZZ zwischen 1997 und 2001 die saubere Online-Kuratierung von Printbeiträgen sowie die Lancierung und Betreuung von zuverlässigen und niveauvollen Informations- und Unterhaltungsgefässen.

NZZ Online wurde in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre lanciert. Die News-Website ging im Juni 1997 online. Damals, vor der Jahrtausendwende, dauerte es bis zu 30 Sekunden, um lediglich die Verbindung ins Netz herzustellen. War man drin, ruderte man gemächlich durch die Infos. Von Surfen keine Spur. Das «Umblättern» einer Seite auf Teletext oder gar der Gang zum Briefkasten war schneller als das Laden einer Webseite.

Ein qualitativ hochstehendes Online-Angebot musste aber schon damals schnell laden. Bilder verlangsamten die Ladezeiten, Werbung ebenso. Multimedia gab es damals vor allem auf CD-Roms. Das World Wide Web hat aber dank der Möglichkeit von Verlinkungen eine neue Textqualität geschaffen, den Hypertext. Suchmaschinen ermöglichten ab 1996 mit wenig Aufwand, publizierte Beiträge im Netz zu finden. Diese deutlich schnellere Zugangsmöglichkeit zu den bereits im Netz veröffentlichten Beiträgen der NZZ erforderte Kreativität, die mit der Schaffung von Themendossiers erfüllt wurde.

Die Anforderungen an die Online-Redaktion entsprachen von 1997 bis 2001 diesen technischen Rahmenbedingungen. Dazu gehörte das Aufbereiten von Zeitungsartikeln zu «online-gerechten» Inhalten. Dazu mussten unter anderem die Artikel untereinander verlinkt werden – HTML und später XML war unser täglich Brot.  Printspezifische Textbausteine (z.B. «weiter auf Seite XY») musste man löschen. Das Bereitstellen von Themendossiers inklusive weiterführenden Links auf Angebote ausserhalb der NZZ gehörte ebenfalls dazu.

Die eine Hälfte des Jobs, den ich im Herbst 2000 begonnen habe, würde man heute als «Content-Kuratieren» bezeichnen. Dieses Modewort kannte man damals noch nicht. Wir nannten diesen Teil der Arbeit auch «Putzdienst», weil er unter anderem darin bestand, all den printspezifischen Gerümpel rauszuputzen, bevor die Dateien ins Web gestellt wurden. Die Themen-Dossiers mussten sprachlich den NZZ-Regeln entsprechen. Einleitende Texte für die Dossiers mussten dem Korrektorat vorgelegt werden. Hierfür haben wir den Text ausgedruckt und via Rohrpost dem Korrektorat gesendet.

Ich habe mich während des Studiums mit Kommunikationstechniken innerhalb von Unternehmen beschäftigt. Rohrpost war mir daher ein Begriff. Ich dachte jedoch, das sei längst Geschichte. Aber in meinem jugendlichen Übermut rechnete ich auch schon Mitte der Neunzigerjahre damit, dass das Papierzeitalter demnächst ende.

Journalisten als Projektmanager – oder umgekehrt?
Wir Online-Redaktoren, und insbesondere Leiter Martin Hitz, hatten damals nicht nur journalistische Aufgaben, sondern waren daneben auch als Projektmanager aktiv. Das redaktionelle Online-Team hat sehr eng mit der Online-IT zusammengearbeitet. Etliche neue Dienstleistungen wurden lanciert. Mehrere Angebote, die auch heute noch bei vielen Online-Angeboten klassischer Medien zu den Meistbesuchten gehören, gab es bei der NZZ schon vor der Jahrtausendwende: Aktuelle Wetterinfos, unter anderem mit dem Klick-Champion «Niederschlagsradar», aktuelle Börsenkurse, Newsticker, ja sogar mehrere Online-Games hatten wir im Angebot, zum Beispiel «Anno Domini».

2001-2006: News und nochmals News

Die Qualität der NZZ im Netz zwischen 2001 und 2006 bedeutete eine grosse Anzahl laufend aktualisierter, eigens redigierter sowie selbstverfasster brandaktueller Nachrichten.

Ich erinnere mich, wie im Jahr 2000 die Geschäftsleitung um Chefredaktor Hugo Bütler entschieden hatte, den Online-Bereich auszubauen. Es ging wohl primär darum, die neue Möglichkeit einer zeitnahen Berichterstattung zu nutzen. Zeitungsverlage hatten diese Möglichkeit vor der Erfindung des World Wide Web nicht. Zuvor hatten Radio- und Fernsehen das technische Privileg, live zu berichten. Dank des Internets wurde dieses technische Monopol gebrochen. Für die von 8 auf etwa 16 Personen aufgestockte Online-Redaktion wurden keine Multitalente mit Studienabschluss mehr gesucht, sondern Vollblutjournalisten. Diese wurden Teil der neu geschaffenen Online-Nachrichtenredaktion, während die ursprünglichen Mitarbeiter weiterhin unter Martin Hitz mit Projekten und Content-Kuratierung arbeiteten. Der Leiter des neuen Teams, Martin Breitenstein, war zuvor Redaktor im Inlandressort der Tagesausgabe der NZZ.

Im Frühling 2001 geschah zum ersten Mal, was ich in den folgenden zehn Jahren mehrfach beobachten konnte: Ein Online-Greenhorn verdrängt einen erfahrenen Onliner an der Spitze von NZZ Online. Die Co-Leitung von Hitz- und Breitenstein war nur von kurzer Dauer. Die Verhältnisse und die neuen Prioritäten waren «schwierig» für das ehemalige Team um Martin Hitz. Bei einer Retraite im März 2001 wurden mehrere Projekte vorgestellt, die anschliessend versenkt wurden, unter anderem, weil neue Prioritäten galten. Zum Beispiel durfte ich ab Ende 2000 Konzepte für Newsletter via E-Mail und für ein mobiles News-Angebot erarbeiten. Vorgesehen war, dass diese Angebote gegen Ende 2001 realisiert werden. Dem war nicht so. Nicht nur die Prioritäten betreffend Qualifikationen der Online-Mitarbeiter, sondern auch jene bei den Projekten wurden verschoben: Publizistische Projekte mit einer starken technischen Komponente wurden zurückgestellt, während Projekte für mehr News-Journalismus in den Vordergrund traten.

Nach dem 11. September 2001 und dem Zusammenbruch der Dotcom-Blase änderte sich auch bei der NZZ so ziemlich alles. Ein erster Einbruch der Zeitungsinserate führte zu Sparmassnahmen. Diese wurden nicht nur durch Kürzungen bei Projekten erreicht. Erstmals in der Geschichte der NZZ, so sagte man jedenfalls damals, mussten redaktionelle Mitarbeiter entlassen werden. Mit der Rasenmähermethode wurde bei allen Ressorts gespart, egal ob ein Bereich als Wachstums- oder Schrumpfzone galt. Der explosive Ausbau der Online-Redaktion wurde nun mit einer partiellen Implosion kompensiert.

Vom Rookie zum Pro
Trotz des ausserordentlich schwierigen Umfelds hat sich Martin Breitenstein meiner Meinung nach in kürzester Zeit zu einem starken Online-Experten mit Bodenhaftung entwickelt. Notabene mit anderen Ausprägungen als manche Mitglieder des ersten Online-Teams. Ich fand die neue und stärkere Gewichtung des Kommerz durch den neuen Chef vorerst uncool. Das entsprach nicht der ursprünglichen Netz-Ideologie, die sich in der Netiquette der Neunzigerjahre widerspiegelt. Werbung verstopfe die Datenleitungen, lautete das Credo. Sie verlangsame die Übermittlung der wirklich nachgefragten Infos. Online-Werbung bezeichneten die Netizens damals als «Bandbreitenverschmutzung».

News, die in einer halben Stunde möglicherweise völlig veraltet und obsolet sind, waren meiner Meinung nach ebenfalls eine Verschmutzung des Cyberspace. Die NZZ-Spitze hat jedoch entschieden, dass der damals eingeblendete Reuters-Newsticker von einer eigenen News-Redaktion abgelöst werden soll. Die Nutzerzahlen zeigten, dass dies eine gute Entscheidung war. Anlässlich einer Festschrift für Hugo Bütler schrieb Martin Breitenstein: «Die hohen Abfragewerte [bei Live-Text-Berichterstattung z.B. von Bundesratswahlen] zeigen deutlich, dass die Leser diese Unmittelbarkeit schätzen und auch erwarten.»

Derweil begann im Haus das Wort «Kannibalisierung» zu kursieren. Die Printredaktion hat inzwischen erfahren, dass es das Internet gibt. Dort seien NZZ-Artikel gratis zu lesen. Das sorgte verständlicherweise für Unmut. Möglicherweise hat sich das damalige Führungsgremium bewusst für den Hausfrieden entschieden: Eine eigene Online-Redaktion soll die Webseite mit eigenen Inhalten bespielen und nur eine kleine Auswahl an Zeitungsartikeln soll kostenfrei zugänglich sein. Das fand ich doof, da ich damals wie heute die Meinungen vertrete: «Information wants to be free!»

Während meiner Jahre bei der NZZ konnte ich immer wieder organisationspsychologische Dynamiken beobachten, die den Wandel von einem Unternehmen der Papierindustrie hin zu einem New Economy Unternehmen behinderten. Als mentaler Vertreter des Cyber-Utopismus ging ich damals davon aus, dass sich ökonomischer Erfolg in der digitalen Gesellschaft automatisch ergeben würde, wenn beim wirtschaftlichen Handeln die Prinzipien der Internet-Ideologen erfüllt werden. Dazu gehört unter anderem die Meinung, dass Informationen frei sein wollen.

Zwischen 2001 und 2006 verfügte die NZZ im Vergleich zu anderen Zeitungen über eine mächtige Online-Redaktion. Die Neue Zürcher Zeitung war damals das Powerhouse für Online-News in der deutschsprachigen Schweiz. Während dieser zweiten Phase überholten die Online-Nutzerzahlen der NZZ diejenigen des Tages-Anzeigers. Der Online-Lesermarkt war jedoch nicht vergleichbar mit heute. Die Zugriffszahlen über mobile Geräte waren noch sehr gering. Und für News-On-Demand war nicht das Internet, sondern der Teletext die erste Anlaufstelle.

Spannende Nebengeschäfte und Konflikte
Redaktionsleiter Martin Breitenstein schaffte den Spagat zwischen der Koordination etlicher Projekte und der Leitung der Online-Redaktion beim journalistischen Tagesgeschäft. Gemeinsam mit seinem Linienvorgesetzten Wolfgang Frei, Leiter NZZ Neue Medien, wurden mehrere Nebengeschäfte und Partnerschaften lanciert, zum Beispiel eBalance, Parship und NZZ Finfox. Zugleich beobachtete ich eine zunehmende Distanz zwischen der Print- und der Online-Leitung. Der Spagat bei der diplomatischen Vermittlung zwischen den Interessen des Online-Teams und der Print-Chefredaktion war für Breitenstein so gut wie unmöglich. Kein Wunder, dachte ich jeweils, gehörte doch der damalige Chefredaktor Hugo Bütler zu derjenigen Sorte Chefs, die einen Computer auf dem eigenen Bürotisch als unnötig erachteten. Dementsprechend wurde bei politisch wichtigen Online-Beiträgen jeweils ein «Abzug» auf Papier verlangt. Das gab Anlass für ein Bonmot, das während dieser Zeit regelmässig die Online-Redaktoren belustigte: «Lasst uns einen Drucker in das Büro des Chefredaktors stellen. Im Dauerbetrieb soll diese Maschine einen Abzug des Internets drucken.»

Trotzdem: Bis ungefähr 2006 war NZZ Online publizistischer Leader im Online-News-Markt. Die Leaderposition in der Schweiz, auch betreffend Innovationen, wird durch diese Zusammenstellung von Online-Angeboten anlässlich des 10-Jahre Jubiläums von NZZ Online verdeutlicht. Irgendwann während dieser Phase gab es auch Versuche mit einer Paywall. Die Dossiers mit den Printartikeln wurden kostenpflichtig. Der Versuch wurde aber nach kurzer Zeit abgebrochen. Die Gründe für das Scheitern waren zahlreich: Zu klein war wohl das Interesse am Lesermarkt und das Inkasso-System mit Bezahlung via Handy-Rechnung war wahrscheinlich zu kompliziert. Ich war zudem der Meinung, der Wert der Hintergrundartikel aus der NZZ werde intern überschätzt, und ich war nicht der Einzige Onliner, der diese Meinung vertrat.

Onliner an der Spitze? Braucht es nicht
Eine der spannendsten Episoden meiner Zeit bei der NZZ war das Jahr 2006. Es gab personelle Wechsel an der Spitze der NZZ-Publizistik. Markus Spillmann, Leiter des Ausland-Ressorts und stellvertretender Chefredaktor bei der NZZ am Sonntag, wurde Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung. Fredy Greuter, zuvor Leiter des Börsenteams der NZZ-Tagesausgabe, wurde neuer Leiter der Online-Redaktion. Beide hatten meiner Meinung nach sehr beschränkt Ahnung vom Online-Journalismus und vom Business im Netz. Dennoch: 2006 positioniert die Geschäftsleitung, zu der auch Spillmann gehört, NZZ Online publizistisch als eigenständigen Bereich mit zentraler Relevanz für das Unternehmen: Neben den Blättern vom Wochentag und vom Sonntag galt ab dann die News-Website und die Marke «NZZ Online» als eine der drei strategisch wichtigsten Säulen.

Das war ein Wendepunkt in der Geschichte der Online-Publizistik der NZZ. Von da an wurde mehr und mehr allen klar, dass die Zukunft des Unternehmens vital vom Fortkommen in der digitalen Welt abhängt. Die letzten Stimmen in der Printredaktion verstummten, die vielleicht innerlich immer noch der Meinung waren, dass es dieses Online-Zeugs nicht brauche. Von symbolischer Bedeutung war für mich die altersbedingte Pensionierung eines NZZ-Urgesteins, das uns Online-Redaktoren «Elektriker» nannte.

2006-2010: Fokus auf «Finanzen»

NZZ Qualität im Netz zwischen 2006 und 2010 hiess Status Quo plus ein E-Zine zum Thema «Banking and Finance».

Nach dem heftigen Seegang wegen den Leitungswechseln an der Spitze beruhigte sich im Jahr 2006 die Wetterlage sehr schnell. Fredy Greuter baute zwar den publizistischen Teil der Börsenberichterstattung im Netz stark aus, unter anderem mit täglichen Video-Interviews aus der Finanz-Szene. Ansonsten galt aber die Devise «business as usual». Das bedeutete auch, dass folgende Tradition, die ich von Anfang an bei der NZZ spürte, weiter gepflegt wurde: Mitarbeiter der Redaktion ohne Führungsfunktionen sollen sich keine Gedanken über die Finanzierung des Journalismus machen; sie sollen journalistisch arbeiten. Vor dem Crash der Dotcom-Blase galt diese Devise sogar noch für die Chefs. Geld war einfach da. Das Anzeigengeschäft und das Oligopol der Zeitungsverlage in der Schweiz hat die Kassen gefüllt. Damit war ab 2001 Schluss. Ich stellte fest, dass die Mangelwirtschaft mehr und mehr in allen Bereichen herrschte. Auch die Zeitung auf Papier musste angepasst werden:

Das erste Projekt von Markus Spillmann als Chefredaktor war denn auch ein komplettes Redesign und eine Verschlankung der Tagesausgabe auf drei Bünde, was meiner Meinung nach sehr gut gelungen ist. Möglicherweise wird diese Neugestaltung als die Letzte in die Geschichte der täglich gedruckten NZZ eingehen. Nach dem Abschluss des Redesigns 2006 habe ich gehofft, Spillmann werde sich jetzt mit Elan dem Online-Bereich widmen. In meiner Wahrnehmung blieb Spillmanns Interesse an den Neuen Medien jedoch zurückhaltend. Das sollte sich erst 2010 ändern. Dafür dann umso stärker.

Es gab auch andere Gründen, weshalb ich mich als Online-Redaktor zu jener Zeit häufig führungslos fühlte – und zwar im positiven wie auch im negativen Sinn:

  • Positiv: Im Jahr 2007 erhält auch NZZ Online ein neues Kleid. Ich durfte bei diesem Projekt mitwirken. Die gelungene Neugestaltung gemeinsam mit der Agentur Metadesign sowie die Migration auf ein neues Content Management System ist meiner Meinung nach Urs Holderegger, dem damaligen Stellvertreter des Online-Leiters zu verdanken. Er war seit 2001 zudem Nachrichtenchef von NZZ Online und füllte bestens die Know-how-Lücke, die aus meiner Sicht weiter oben klaffte.
  • Negativ: Nach dem Redesign war ich in Projekte involviert, die grösstenteils abgeblasen oder nur halbherzig realisiert wurden, wahrscheinlich vor allem aus Kostengründen. Zum Beispiel wurde nach dem Stopp der Print-Version der Ausgehagenda «NZZ Ticket» eine kreative Online-Lösung angestrebt mit Partnerunternehmen. Die Online-Version wurde zwar kurzzeitig weiter geführt, Partnerschaften kamen jedoch nicht zustande. Auffallend zu jener Zeit war auch, dass Initiativen einzelner Mitarbeiter zum Teil umgesetzt wurden. Kaum gab es personelle Verschiebungen bei den Beteiligten, wurden aber die entsprechenden publizistischen Gefässe sistiert. Nach 2007 dümpelte der publizistische Bereich der NZZ im Netz vor sich hin. Eine Ausnahme waren die Börsen-Themen sowie NZZ Campus. Just in jener Zeit, als andere Verlage, insbesondere Tamedia mit dem Newsnetz sowie die SRG ins Netz investierten, liess die Kreativität im Hause NZZ nach.

Die Ausgrenzung eines Online-Afficionado
Führungslos im negativen Sinn fühlte ich mich damals auch, weil kurz nach der Wahl des neuen Chefredaktors und des Leiters der Online-Redaktion sogleich Wolfgang Frei die Funktion als Linienvorgesetzter des Leiters der Online-Redaktion entzogen wurde. Ab sofort war Chefredaktor Markus Spillmann komplett für NZZ Online verantwortlich. Ich habe Wolfgang Frei, der bis zu seiner Pensionierung weiterhin Leiter von NZZ-Format blieb, als Ausnahmeerscheinung in Führungspositionen der NZZ wahrgenommen. Ich empfand ihn als «Digital Native», obschon er von seinem Alter her nicht dazugehörte. Jedenfalls war ich der Meinung, Frei habe satte Kompetenzen und ein grosses Gespür, insbesondere für das Internet-Business, aber auch für Publizistik im Netz. Wie erwähnt wurde 2007 sein Einfluss auf NZZ Online gekappt. Anschliessend hatte ich das Gefühl, von Führungspersonen umgeben zu sein, die sich nicht mit Herzblut für die Neuen Medien einsetzten.

2010-2011: Zurück auf Feld 1

NZZ Qualität im Netz hiess zwischen 2010 und 2011 wiederum News, News, News. Mit der neu geschaffenen Funktion «Leiter digitale Medien» hat die NZZ kurz zum grossen Sprung nach vorn angesetzt. Ab 2011 lautete die Devise der NZZ im Netz jedoch Printqualität, Printqualität, Printqualität!

Die Krise der Zeitungshäuser wurde immer deutlicher. Auch bei der NZZ musste nach vier «defensiven» Jahren wieder etwas passieren. Ich interpretierte es als eine Art Befreiungsschlag vom damals neuen CEO der NZZ-Mediengruppe Polo Stäheli, als er Peter Hogenkamp engagierte. Mit ihm besetzte er die neu geschaffene Position «Leiter digitale Medien» der gesamten Mediengruppe.

Hogenkamp hat sich als Internet-Unternehmer der ersten Stunde, als Blogger und Twitterer, einen Namen gemacht. Der neue Digitalchef gehört seit der Popularisierung des Internet in den 1990er-Jahren zu den Fürsprechern des neuen Mediums. Er ist ein Schweizer Digerati mit deutschen Wurzeln. Ich freute mich jeweils, dass Hogenkamp als Vertreter der neuen Welt, Konflikte mit unschweizerischer Offenheit und Direktheit in der Netz-Öffentlichkeit ausgetragen hat. Ein Beispiel dazu: «Blogwerk vs. Cash Daily».

Über die Wahl Hogenkamps war ich begeistert, und auch andere Leute in der Zürcher Medienszene waren elektrisiert. Manche Vertreter des klassischen Journalismus innerhalb der NZZ waren jedoch «not amused». Man hörte Dinge wie: «Den hätte ich ja niemals gewählt». Zugeschüttet gemeinte Gräben taten sich wieder auf. Zwischen 2006 und 2010 fühlte ich mich bei NZZ Online dank dem diplomatischen Geschick des damaligen Online-Chefs Fredy Greuter in ruhigen Gewässern. Nun kam wieder Bewegung hinein. Für das Unternehmen fand ich das erfreulich.

Ich habe jedoch nach zehn Jahren bei der NZZ seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, mich beruflich neu zu orientieren. Mit dem Start von Hogenkamp bei der NZZ hatte ich zudem das Gefühl, dass es keinen subalternen Mitarbeiter mehr brauche, der bei NZZ-innenpolitischen Auseinandersetzungen die Keule «online first!» schwinge. Im Frühling 2011 habe ich die NZZ verlassen.

Kurzes Zwischenhoch
Bereits im Herbst 2010 wurde NZZ Online aus der Verantwortung der Printredaktion herausgelöst und einer sogenannten Management Group unterstellt. Hogenkamp war Teil dieser Führungsstruktur. Die Redaktion von NZZ Online wurde aufgestockt. Urs Holderegger übernahm die Leitung der Online-Redaktion. Die NZZ veröffentlicht sinnvollerweise keine Zahlen über den wirtschaftlichen Erfolg einzelner Ressorts. Ich vermute, die Zahlen von NZZ Online im Jahr 2010 und 2011 wären trotzdem interessant gewesen, weil sie den Trend gezeigt hätten, dass die Online-Werbung nicht mehr nur als Peanuts bezeichnet werden kann. Alles wird gut, dachte ich. Jedenfalls für die Online-Abteilung.

Im Jahr 2011 stand eine eigenständige Online-Redaktion, die möglicherweise sogar finanziell attraktiv wirtschaftet einem Jammertal der Anzeigenverluste im Printgeschäft gegenüber. Die NZZ-Spitze um Markus Spillmann hat dann entschieden, die Online-Redaktion aufzuheben und im Rahmen eines Konvergenz-Projekts in die Printredaktion zu integrieren. Die Begründung: NZZ-Qualität auf allen Kanälen! Die Marke «NZZ Online» wurde gestrichen. Es blieben die «Neue Zürcher Zeitung» und «NZZ.ch». Mit dieser Umstrukturierung war auch Peter Hogenkamp nicht mehr zuständig für publizistische Fragen von NZZ Online.

Es dauerte nicht lange und ein weiterer Online-Experte verabschiedete sich: Urs Holderegger ist heute Leiter Kommunikation beim Bundesamt für Zivilluftfahrt. Die Gründe für seinen Abgang, die mir bekannt sind: Unterschiedliche Auffassungen zwischen Holderegger und Spillmann bezüglich Online-Publizistik. Digitalchef Hogenkamp konnte Holderegger angeblich nicht unterstützen. Dadurch verlor das Unternehmen einmal mehr Kompetenzen und Know-how in der Online-Publizistik. Dieses Mal gleich doppelt: Der Schweizer Top-Blogger und NZZ-Digitalchef durfte in publizistischen Fragen nicht mehr mitreden und ein Urgestein im Online-Journalismus – 2001 bis 2013 (12 Internetjahre ergeben 84 Menschenjahre) – wechselt in die Behördenkommunikation.

Leserbeiträge

Marius 19. Juni 2013, 22:40

Danke für den Beitrag. Respekt, NZZ-Online war genau in Ihrer Zeit eine meiner Lieblingsseiten.

Seit NZZ-Online immer eine Registrierung für die Beiträge wünscht, surfe ich nur noch Tagi-Online oder Seiten wie Journal21. Bin gespannt, denke das Rennen ist offen. Vielleicht entwickelt sich auch die Chance für weitere Anbieter.

So oder so. Der Konsum im Internet wird irgendwann komplett dominieren. Die Tablets sind schon heute handlicher wie jede Zeitung. Print wird nicht in absehbarer Zeit aussterben, aber immer mehr ein Nebengeschäft.

Als Internetuser nütze ich die Vielfalt, die NZZ kann ich bei der WOZ gegenlesen, Tagi, 20 Minuten, Blick für Sport nutzen. Spiegel, Zeit, Süddeutsche, FAZ für Deutschland. Sogar The New York Times. In Sekunden hab ich die Weltinfos. Aber will ich dafür 10x ein Abo lösen? Das würde mich ruinieren.

Karl Kramm 22. Juni 2013, 06:36

Ein hochinteressantes Stück Zeitungszeitgeschichte.