von Ronnie Grob

«Wir hatten Zeit und wir hatten Geld»

Seit 10 Jahren schreibt Kurt W. Zimmermann in der Weltwoche seine vielbeachtete Medienkolumne. Wie hat sich der Journalismus in dieser Zeit verändert? In einem Gespräch am Swimmingpool in Thailand redet der 62-jährige Journalist und Medienmanager über Interessenvertreter im Mediengeschäft, Unterhaltungsjournalismus und gibt jungen Journalisten einen Rat für die Zukunft.

Was hat sich verändert, seit Du Deine Medienkolumne in der Weltwoche schreibst und seit Du selber Journalist auf einer Redaktion warst?
Der grösste Unterschied ist wahrscheinlich, dass wir als junge Journalisten in den 1970er-Jahren noch persönlichen Kontakt hatten mit der obersten Liga in Wirtschaft und Politik. Wenn man mit dem Chef einer Grossbank sprechen wollte, dann hat man ihn einfach angerufen. Der sagte dann, hören Sie zu, ich bin am Wochenende am Skifahren, kommen Sie doch hoch in meine Skihütte. Dann ist man miteinander Ski gefahren, und hat bei einer Flasche Wein stundenlang diskutiert. Man hat danach nicht alles geschrieben, aber wirklich einiges über die Bank erfahren. Auch ein Bundesrat sagte damals noch: Wir machen heute einen Grillabend, wollen Sie nicht dazukommen? Heute hingegen redet ein Journalist vielfach nur noch mit dem stellvertretenden Assistenten in der Kommunikationsabteilung der Grossbank oder des Departements.

Du verbringst den Winter nun jeweils in Asien, wirst Du nicht etwas nostalgisch? Waren die Journalisten zu Deiner Zeit wirklich anders?
Es ist nicht Nostalgie, es ist ein bemerkenswerter Wandel eines Berufsbildes. Die Journalisten waren früher viel ehrgeiziger. Heute gibt es Tausende von Journalisten in der Schweiz, die noch nie eine grosse, exklusive, eigene Geschichte geschrieben haben. Doch das stört die nicht, sie geben sich zufrieden als Abfüllgehilfen für irgendwelche lustigen Kurztexte und Videos, und ihr Büro verlassen sie nicht. Das hätte es noch vor zehn Jahren nicht gegeben.

Das stimmt. Aber erhält denn ein einfacher Mitarbeiter bei Newsnet, Blick.ch oder 20min.ch die Zeit, um etwas zu machen, das über das Abfüllen von Content hinausgeht? Ich bin überzeugt, dass viele Journalisten gerne Stücke machen würden, die über das Tagesgeschäft hinausgehen. Doch die meisten dürfen das schlicht nicht, denn der Umfang, an den das Publikum aus besseren Zeiten gewöhnt ist, will man in den wenigsten Fällen vermindern. Tatsächlich geliefert wird oft eine mindere Qualität als früher, denn im Hintergrund wurde ein Vielfaches an Personal abgebaut.
Der fehlende Ehrgeiz der Journalisten ist auch in der fehlenden Konkurrenz zu suchen. Vor einem Jahrzehnt gab es in der Schweiz noch eine grosse Auswahl eigenständiger Verlage. Das können sich junge Print-Journalisten heute doch gar nicht mehr vorstellen. Die kennen nur noch das Triopol von Tamedia, NZZ und AZ-Gruppe. Zu meiner Zeit hat sich die Redaktion des Tages-Anzeigers noch angestrengt, besser zu sein als die Redaktion der Berner Zeitung oder der Zürichsee-Zeitung, denn das waren Konkurrenzzeitungen. Doch heute gehören alle Zeitungen Tamedia, was soll sich da ein Journalist aus Zürich noch gross mit einem aus Bern oder Stäfa messen, es sind ohnehin alle auf der gleichen Payroll.

Es erhalten doch heute nur noch etwa fünf Prozent aller Journalisten die Möglichkeit, lange, ernsthaft journalistische Geschichten zu machen. Alle anderen müssen Seiten mit Content füllen und an Sitzungen gehen.
Der Trend vom inhaltbezogenen Journalismus zum sogenannten Unterhaltungsjournalismus geht schneller voran als je zuvor. Ich sage es so: Früher haben wir Trickfilme geschaut, heute gehen wir auf News-Websites. Vermutlich hat sich der Journalismus durch das Internet schleichend von der Informationsvermittlung in eine Art Zirkusveranstaltung verwandelt, und wir haben es alle gar nicht so richtig gemerkt.

Gut gemachter Unterhaltungsjournalismus könnte doch grossartig sein, doch der braucht eben auch Ressourcen. Mir kommt vieles vom dem, was die News-Websites produzieren, billig vor, zusammenkopiert, hingeschludert.
Nehmen wir das neue Blickamabend.ch – das ist doch ein mit Videos belebtes Globi-Buch. Und doch segelt es unter dem Etikett Journalismus. Ich bin kein Unterhaltungsverächter, aber man sollte doch Journalismus im weitesten Sinne als Disziplin bewahren, die mit Informationsbeschaffung, Analyse, Aufklärung der Gesellschaft und Bereitstellung von Hintergründen zu tun hat. Ich muss schon lachen, wenn heute einer, der die fünf doofsten Katzen der Welt ins Internet stellt, behauptet, das habe etwas mit Journalismus zu tun.

Wurde früher nicht auch das Überprüfen der Fakten vor der Publikation ernster genommen?
Das Tempo hat sich gewaltig erhöht. Eine News-Website, die eine Neuigkeit 15 Sekunden später online stellt als die Konkurrenz, muss mit weniger Traffic, also weniger Einnahmen rechnen. Die Zeit für Check und Gegencheck, im gedruckten Journalismus über Jahrhunderte eine eherne Grundregel, ist nicht mehr da. Eine andere journalistische Grundregel, dass eine Information von zwei voneinander unabhängigen Quellen bestätigt sein muss, scheint auch erodiert.
Wir befinden uns im Moment wohl in einer Zwischenphase, in der seriöser Journalismus mit Flip-Flop-Journalismus gemischt angeboten wird. Der Tages-Anzeiger beispielsweise, vor allem online, experimentiert mit Mischformen, die heitere und seriöse Elemente beinhalten. Ich vermute, dass die Zukunft eine Zweiteilung bringen wird: Auf der einen Seite all die lustigen, fröhlichen Websites und diese Hauruck-Printprodukte. Auf der anderen Seite jene, die sich auf die Kernkompetenz der Informationsvermittlung zurückbesinnen.

Kommen nicht jene, die die für die Gesellschaft so wichtigen Basisinformationen liefern, immer mehr unter kommerziellen Druck?
Im Buchmarkt gibt es auch eine enorme Bandbreite, da gibt es von schwerer Information bis zu Sudokus alles. Während die meisten Buchverlage ein klares Programm haben, ringen die Zeitungsverlage um ihre Ausrichtung und Identität. Sie variieren, von Micky Maus bis hin zu einer politischen Ausrichtung. So richtig gefunden hat ihre Identität bisher nur die NZZ, die nichts an der historischen Positionierung ihrer Marke geändert hat.
Den heutigen Schweizer Medienmarkt interessant machen vor allem die Outsider und die Outlaws: Eine Weltwoche und eine Schweiz am Sonntag, die mit sehr kleinen Redaktionen alle paar Wochen für Aufregung sorgen oder eine Basler Zeitung, die inzwischen politisch klar erkennbar ist. Die grossen Frachtdampfer dagegen bleiben behäbig und eher langweilig.

Belohnt nicht der Werbemarkt bisher die Ausrichtung weg vom Journalismus?
Das kann man jetzt noch nicht einschätzen. Der Internet-Werbemarkt ist gemäss den Zahlen von Media Focus rückläufig seit 2011. Nehmen wir 20 Minuten, das erfolgreichste Medienprodukt der Schweiz. Die gedruckte Ausgabe machte 30 Millionen Franken Gewinn im Jahr und schreibt auch heute noch jedes Jahr ähnlich schöne Gewinne. 20min.ch dagegen hat, zu Vollkosten gerechnet, bis jetzt keinen Gewinn gemacht. Ich vermute, dass es bei der Mobile-Werbung mit dem Umsatz noch schwieriger werden wird, deshalb ist auch das neue Newsportal-Projekt Watson kritisch zu sehen.

Welche Indikatoren zeigen denn eine positive Zukunft auf für den Journalismus?
Die Verlagskonzentration hat zwar zugenommen, doch es gibt viele neue Nischenanbieter. Um eine neue Tageszeitung zu gründen, hat niemand Geld, aber neue Websites werden laufend gegründet. Der Medienmarkt wurde ganz eindeutig demokratisiert. Der Markteintrittsschwelle für Content ist stark gesunken. Bisher handelt es sich um eine Anbieter-Demokratisierung, ob die Investitionen sich refinanzieren, ist noch offen.

Von Politiker und Wirtschaftsleuten ist immer wieder zu hören, dass sie sich guten Journalismus wünschen. Wäre es nicht an der Zeit, dass diese Leute in den Journalismus einsteigen?
Um Himmels Willen, Nein. Interessenvertreter sollten die Finger von den Medien lassen.

Aber sind denn Verlage nicht auch Interessenvertreter? Sind Verlage philantropische Unternehmen, die dem reinsten und pursten Journalismus verpflichtet sind?
Verlage sind nicht philantropisch interessiert, sondern finanziell und gelegentlich auch publizistisch. In ihrer Tradition sind viele Verlage berechenbar und zuverlässig. Wenn sie Geld mit einem Angriff auf einen SP-Politiker verdienen, dann greifen sie den SP-Politiker an. Wenn sie Geld mit einem Angriff auf einen SVP-Politiker verdienen, dann greifen sie den SVP-Politiker an. Die SVP oder der Touringclub oder die Mobiliar-Versicherung wird nie jemanden aus den eigenen Reihen angreifen. Die meisten Medien und Journalisten dagegen sind notorisch treulos und notorisch illoyal. Die grosse Stärke der Medien ist ihre Illoyalität gegenüber Interessenbindungen.

Braucht es neue Verleger?
Es ist einfacher geworden, Verleger zu werden, man kann sich Medien heute als Hobby leisten. Nicht nur Websites sind schnell gegründet, auch eine Washington Post und eine Le Temps sind kostengünstig zu haben. Zur Erinnerung: Noch vor zehn Jahren zahlte Tamedia für die Thurgauer Zeitung 60 Millionen Franken, das ist etwa ein Viertel des Preises, der kürzlich für die Washington Post bezahlt wurde. Weil Medien so billig geworden sind, werden vermehrt Branchenfremde in das Geschäft einsteigen, Leute, die nicht unbedingt parteipolitisch, sondern vielmehr gesellschaftspolitisch motiviert sind.

Wie stehst Du zum Mäzenatentum?
Das Mäzenatentum macht wahnsinnig träge, ein kurzer Blick auf all die Kulturstiftungen zeigt, was ich meine. Sobald der Erfolgsdruck ausgehebelt wird, geht die Dynamik weg, vor allem im Mediengeschäft.

So wie bei der Tageswoche?
Ein schreckliches Beispiel. Die sind wie Katzen, die mit Whiskas gefüttert werden. Wenn die Katze weiss, dass jeden Morgen Whiskas auf dem Teller ist, wird sie doch keine Maus mehr fangen.

Wie tickt denn so ein durchschnittlicher Journalist?
Sein Problem ist, dass er im luftleeren Raum agiert. Wenn das Publikum bei einem Zirkusclown klatscht, dann ist der Witz gelungen. Wenn das Publikum pfeift, dann hat er die Pointe versaut. Die Journalisten dagegen kennen ihr Publikum nicht. Sie wissen nicht, ob ihre Artikel gut oder schlecht ankommen. Die Bestätigung, dass sie einen guten Job machen, erhalten sie in der Regel nicht vom Publikum, denn die Feedbacks auf den Websites und die Leserbriefe sind meistens untauglich. Also brauchen sie die Bestätigung von den Kollegen, von den Vorgesetzten und aus dem Bekanntenkreis.

Wie steht es mit dem Harmoniebedürfnis der Journalisten?
Gegen aussen haben Journalisten eigentlich selten ein Harmoniebedürfnis, gegenüber Wirtschaft und Politik sind sie noch so gern kritisch, mitunter überkritisch. Gegen innen hingegen haben sie ein unglaubliches Harmoniebedürfnis. In meiner aktiven Zeit als Chefredaktor standen 50-jährige Redaktoren bei mir im Büro, die sich in Tränen aufgelöst beklagten, dass sie doch gestern so einen hervorragenden Artikel geschrieben hätten, und nicht einer der Kollegen hätte ihnen dazu gratuliert.

Würdest Du nochmals Journalist werden wollen?
Ich würde nochmals Journalist werden wollen, wenn ich das nochmals zur gleichen Zeit tun könnte, nämlich in den 1970er-, 1980er- und anfangs der 1990er-Jahren. Denn ich habe mit viel Glück die goldenen Zeiten erwischt. Wir hatten Zeit und wir hatten Geld, wir konnten grosse Geschichten machen und wochenlang auf Reportage, man konnte mit den wichtigen Menschen noch problemlos persönlich reden. Wenn ich heute 25 Jahre alt wäre und nur Content verwalten dürfte, dann würde ich den Job nicht mehr machen.

Was rätst Du einem 25-jährigen Journalist, der gerne Teil der kritischen Öffentlichkeit sein möchte?
Wenn er ein Talent ist, dann schafft er es sowieso. Wenn er kein Talent ist, dann ist es auch nicht schade um ihn. Ich rate den Jungen immer, ihre Ziele möglichst hoch zu setzen. Journalist des Jahres ist das Minimum. Nur wer in zehn Jahren der neue Constantin Seibt oder der neue Eric Gujer sein möchte, der wird das vielleicht auch. Ein Problem ist, dass ambitionierten jungen Journalisten ihre Ambitionen im Redaktionsalltag oft rasch ausgetrieben werden, und sie zu Funktionsmaschinen degradiert werden.

Das Gespräch mit Kurt W. (für Werner) Zimmermann fand am 18. Dezember 2013 bei einem Glas Weisswein auf der thailändischen Insel Ko Phuket statt.

Leserbeiträge

Konrad Weber 01. Januar 2014, 13:21

Früher mag in der Tat Vieles besser gewesen sein. Als einer dieser 25-jährigen Journalisten möchte ich hier mal wieder ein Archiv-Stück ausgraben, das leider noch immer seine Gültigkeit hat.

Monika Zech 01. Januar 2014, 19:40

Mir kommen die Tränen – wenn ich daran denke, wie es gewesen sein muss, als Journalisten wie Zimmi noch nächtelang mit Bundesräten und Bankern weinselige Gespräche führen konnten. Und was da für Hammerartikel entstanden sein müssen. seltsam nur, dass ich mich gar nicht an einen besonders auffälligen Journalisten namens Kurt W. Zimmermann erinnern kann. Dieser Name ist mir jedoch sehr bekannt im Zusammenhang mit einer brutalen Sparrunde beim Tages-Anzeiger, die vor allem durch den Riesenflop TV3 ausgelöst wurde. Herr Zimmermann war damals in der GL der Tamedia. Ich mag ihm den Winter in Thailand von Herzen gönnen.

Fred David 01. Januar 2014, 22:09

Ich sag’s nicht gern. Aber er hat recht. Eigentlich in allem.

Fred David 03. Januar 2014, 00:08

@)Monika Zech: Die Einwände mögen durchaus zutreffen, aber es ändert nichts an der Kernaussage.

Seien wir doch ehrlich, ganz ohne Zynismus und Schuldzuweisung: Der Schweizer Journalismus hat sich domestizieren *) lassen. Und zwar vollständig. Und sorry, nein, das war nicht immer so!

Zeit zum Aufstehen. Gern auch etwas laut.

*)Duden-Interpretation: gebändigt, gezügelt, gefügig gemacht, Zügel angelegt, im Zaum gehalten

Gergina Hristova 06. Januar 2014, 16:05

Dass Herr Zimmermann der heutigen schnelllebigen Zeit selbst zum Opfer gefallen ist, zeigt sich in seinen Aussagen: „Der Internet-Werbemarkt ist gemäss den Zahlen von Media Focus rückläufig seit 2011“. Ein Blick auf die Zahlen von Media Focus zeigt das Gegenteil: Der Online-Werbemarkt ist im Jahr 2012 um 9.9% gewachsen. Soviel zur „Früher war alles besser im Journalismus“-Debatte. Das Absurde an den (meist betagten) „Qualitätsjournalisten“ ist, dass sie von Online wenig bis nichts verstehen. Vermutlich war deshalb früher alles besser, weil sie sich damals nicht mit dem Internet rumschlagen mussten…

Ronnie Grob 06. Januar 2014, 17:45

Wahrscheinlich bezieht sich Zimmermann auf den Rückgang bei der klassischen Displaywerbung (2011: 175,5 / 2012: 170 Mio. CHF).

Gergina Hristova 06. Januar 2014, 17:50

Was wiederum bestätigt, dass er nicht genau weiss, wovon er spricht, wenn er Displaywerbung mit Internet-Werbemarkt gleichsetzt…

Franz C. Widmer 06. Januar 2014, 16:20

Ich sag’s nicht „leider“, sondern gerne: Er hat Recht. In allem.