von Ronnie Grob

Wulff-Jagd: Erlegt, aber freigesprochen

Eine denkwürdige Kampagne von Leitmedien führte in Deutschland Anfang 2012 zum Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff. Nun wurde er von allen Vorwürfen freigesprochen, was ein grelles Licht wirft auf seine Ankläger. Die Auswirkungen der Medienberichte sind allerdings nicht mehr rückgängig zu machen. Ein Rückblick auf die Ereignisse.

Zunächst eine Auflistung der gröbsten Fehler, die Christian Wulff in der sogenannten «Wulff-Affäre» ab Dezember 2011 begangen hat: Statt von Anfang an transparent zu agieren, liess er es zu, dass gewisse Umstände, so zu einem in Zweifel gezogenen Privatkredit, häppchenweise an die Öffentlichkeit gelangten. Die Vorwürfe einer Mauschelei mit Boulevardmedien, Politik und Wirtschaft konnte er nie überzeugend ausräumen. Der Bevölkerung hat er das Bild eines Mannes hinterlassen, der undurchsichtige Beziehungen zu einflussreichen Leuten pflegt.

Doch Wulff ist nicht nur aufgrund eigener Fehler gefallen, sondern auch, weil eine grosse und erstaunlich homogene Gruppe von Journalisten ihn um jeden Preis zu Fall bringen wollte. Vergleicht man das Ausmass von Berichterstattung und Vorwürfen zwischen Christian Wulff und dem Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, liegt die Vermutung nahe, dass diese Gruppe nicht unbedingt neutral agiert. Als (zurückgetretener und wiedergewählter) Aufsichtsratsvorsitzender verantwortet SPD-Mann Wowereit das Debakel um die Nichteröffnung des Flughafen Berlin-Brandenburgs, mit noch unbekannten, aber jetzt schon kolossalen Folgekosten für die Wirtschaft und die Steuerzahler. Auch für Wowereit gilt die Unschuldsvermutung – von Rücktritt sprach und spricht trotzdem kaum jemand in den Medien. Auf der einen Seite stehen korruptionsverdächtige Hotelkosten unter 1000 Euro, die Wulff nicht nachgewiesen werden konnten – auf der anderen Seite ein mutmasslich von Wowereit verantwortetes Milliardendebakel.

«Noch immer keine Ermittlungen gegen Wulff!»

Werfen wir einen Blick zurück: Am 8. März 2012 wurde Christian Wulff mit der höchsten Form der militärischen Ehrenbezeugung, dem Grossen Zapfenstreich, aus dem Amt des deutschen Bundespräsidenten verabschiedet. Die Soldaten spielten unter anderem die «Ode an die Freude», «Over the rainbow» und die Nationalhymne. Doch Vuvuzelas, Trillerpfeifen, Trompeten, Zwischenrufe und Pfiffe einer Anti-Wulff-Demo konkurrenzierten die Veranstaltung vor dem Schloss Bellevue. Wulff selbst sah aus, als wäre er Gast seiner eigenen Beerdigung. Ein Jahr später wohnte er Medienberichten gemäss alleine in einer Wohnung in Hannover, die Karriere, die Finanzen, der Ruf, die Ehe kaputt.

Was war passiert? Wulffs Rücktritt am 17. Februar 2012 erfolgte einen Tag, nachdem die Staatsanwaltschaft Hannover «nach umfassender Prüfung neuer Unterlagen und der Auswertung weiterer Medienberichte» die Aufhebung seiner Immunität beantragt hatte (Bild.de zwei Tage vorher: «Noch immer keine Ermittlungen gegen Wulff!»). Im September 2013 eröffnete das Landgericht Hannover ein Verfahren wegen Vorteilsannahme nach § 331 des Strafgesetzbuches. Die am Ende nicht mehr als korruptionsverdächtige Hotel- und Bewirtungskosten in der Höhe von 720 Euro anlastetende Anklageschrift umfasste 79 Seiten und beruhte auf sieben Aktenordnern voller schriftlicher Beweismittel. Diese wiederum waren das Ergebnis einer Auswertung von 5000 GB an Daten, 380 Aktenordnern, 93 Zeugenaussagen, 45 Bankkonten und den Verbindungsdaten von 37 Telefonanschlüssen. Der Prozess im Landgericht Hannover dauerte sage und schreibe 14 Tage, 26 Zeugen wurden befragt. Wie heute morgen bekannt wurde, geht Wulff tatsächlich völlig unschuldig aus der Geschichte heraus, er wird von allen Vorwürfen freigesprochen. Nun müsste er eigentlich alles, was er verloren hatte, wieder zurückerhalten – doch dafür ist es viel zu spät. Sowas kann nur noch «Der Postillon».

Wulffs gesellschaftlicher Absturz ist heftig und fast unvergleichlich, hat doch der Bundespräsident in Deutschland in etwa die Funktion wie in anderen Ländern ein König. Er soll repräsentieren und protokollarische Pflichten wahrnehmen, vor allem aber soll er als gute Seele des Landes dienen, als moralisches Gewissen und kluger Friedensstifter in verzwickten Situationen. Ein Bundespräsident, gegen den der Staatsanwalt ermittelt, ist eine Unmöglichkeit – deshalb musste er letztlich auch zurücktreten.

«Bild» und «Spiegel Online»

Fehler gemacht hat Wulff auf jeden Fall, die Website de.wulffplag.wikia.com listet 18 verschiedene gegen ihn erhobene Vorwürfe auf, da kann sich jeder selbst ein Bild machen. Der entscheidende Fehler, «ein schwerer Fehler, der mir leid tut, für den ich mich entschuldige», wie Wulff später sagte, geschah am 12. Dezember 2011, als er auf Dienstreise in Katar zwischen zwei Terminen empört auf eine kurzfristige redaktionelle Anfrage reagierte und dem Chefredaktor der Boulevardzeitung «Bild», Kai Diekmann, erregt auf die Handy-Mailbox sprach. «Auf dem Weg zum Emir» und «deswegen hier sehr eingespannt» redete er auf Diekmanns Combox von «Krieg führen», «Strafantrag stellen gegenüber Journalisten» und drohte dem Axel-Springer-Verlag mit einem «endgültigen Bruch». Die Aussagen fanden ihren Weg an die Öffentlichkeit, nachdem Diekmann zunächst nur die Tatsache des Anrufs vermeldete und so eine Debatte dazu entfachte. Später dann lasen «Bild»-Mitarbeiter Auszüge der Nachricht der Konkurrenz am Telefon vor – so wurde die Frage nach den Folgen einer Veröffentlichung der privaten Nachricht geschickt umgangen. Vor zwei Tagen hat Bild.de den Wortlaut der Nachricht dann doch noch veröffentlicht.

Ebenfalls angerufen hatte Wulff Mathias Döpfner, den Vorstandsvorsitzenden des Verlags, um sich über das Vorgehen von «Bild» zu beklagen. So ein Bundespräsident macht nicht den Eindruck, als wäre ihm Pressefreiheit ein wichtiger Wert. Einem Politiker hätte man emotionale Ausbrüche und versuchte Einflussnahme vielleicht nachgesehen, nicht aber einem Bundespräsidenten.

Noch am gleichen Tag um 22:02 Uhr erschien auf Bild.de ein Kommentar mit dem Titel «Der Präsident hat ein Problem» (zur Kreditaufnahme beim Ehepaar Geerkens). «Spiegel Online», der antreibende Motor der deutschen Politikberichterstattung, folgte am nächsten Tag, dem 13. Dezember 2011, mit mehreren Artikeln und richtungsweisenden Schlagzeilen: «Kredit-Affäre um Christian Wulff: Der ungeschickte Präsident», «Bundespräsident unter Druck: Wulffs Euro-Krise», «Wulff und die Moral: Kredit verspielt». Von diesem Tag an bis Ende Februar 2012 erschienen mehr als 370 Artikel über «Christian Wulff», in rund 200 davon war die Wortfolge in Überschrift und Vorspann zu lesen. 18 Artikel über Wulff jede Woche, 2,55 jeden Tag, inklusive Weihnachten. Und das nur auf «Spiegel Online».

«Ich geb‘ euch mal pro Nacht 150 Euro»

Unter der Federführung der Leitmedien «Bild» und «Spiegel Online» schaukelten sich die Journalisten in Deutschland in der Zeit der Affäre immer wieder gegenseitig auf. Sobald die Diskussion einzuschlafen drohte, ging woanders wieder eine Rakete hoch. Einen unrühmlichen Höhepunkt durfte dabei die «Berliner Zeitung» verzeichnen, die einen dem Sohn der Wulffs geschenkten Bobbycar zur Staatsaffäre machen wollte. Und das Bundespräsidialamt musste sich mit der Frage herumschlagen, ob Wulff bei seiner Wahl zum Schülersprecher Mitschüler mit After Eight bestochen habe. Unvergessen absurd bleibt auch das zur Prime Time gesendete Interview, in dem Wulff ZDF-Journalistin Bettina Schausten erklärte, seine Übernachtungen bei Freunden nicht mit Rechnungen organisieren zu wollen. Schausten: «Hm, aber da hätten Sie natürlich auch sagen können: ‹Ich geb‘ euch mal pro Nacht 150 Euro!›. Was spricht dagegen eigentlich?» Wulff: «Machen Sie das bei Ihren Freunden so?» Schausten: «Ja!» Wulff: «Dann unterscheidet Sie das von mir, in dem Umgang mit den Freunden.»

In seiner Rücktrittserklärung sprach Christian Wulff von einer «Entwicklung», die dazu geführt habe, dass das Vertrauen einer breiten Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig beeinträchtigt worden seien. Da es in der Zeit der Affäre kaum je tatsächlich neue Ereignisse zu verzeichnen gab, muss diese «Entwicklung» jenen recherchierenden Berufsleuten zuzuschreiben sein, über die Ehefrau Bettina Wulff in ihrem Buch «Jenseits des Protokolls» schreibt: «Apropos Journalisten: Es waren Wochen, diese Zeit von Dezember 2011 bis schließlich zu Christians Rücktritt im Februar 2012, in denen ich aufpassen musste, nicht zum Menschenhasser zu werden. Journalisten per se waren für mich wie ein rotes Tuch.» Die zur Rücktrittsrede zugelassenen Journalisten beschreibt sie so: «In den einen oder anderen Gesichtern ein Triumphgefühl zu sehen, bestärkte mich in diesem Moment nur noch mehr in meinem Gedanken: Es ist gut, dass es vorbei ist.»

Nach Lektüre dieses Buchs (Kapitel 8: «Das Tattoo») rätselten deutsche Journalisten mehr denn je, ob die von ihnen «First Lady» genannte Frau Wulff und ihr Mann die Richtigen waren, um Deutschland in der Welt zu vertreten. Die Antwort lautet Nein, doch dafür verantwortlich ist auch das in diesem Fall fehlende Gespür von Bundeskanzlerin Merkel. Nachdem Horst Köhler aufgrund von journalistischer Kritik, die angeblich notwendigen Respekt für das Amt vermissen liess, zurücktrat, wollte sie die Position des Bundespräsidenten unbedingt mit einem Mann besetzen, auf den im Zweifel Verlass war. Statt auf eine Person mit Format und breitem Rückhalt in der Bevölkerung setzte sie dabei auf einen blassen Karrierepolitiker, der sich im Hannoverschen Klüngel von seinem CDU-Eintritt mit 16 an bis weit nach oben gearbeitet hatte. Von der Opposition abgelehnt, die schon 2010 den heutigen Bundespräsidenten Joachim Gauck wählen wollte, erlangte er sein Amt erst im dritten Wahlgang.

Machtwille und Loyalität

Sein Machtwille und seine Loyalität nach oben haben ihn in eine Position gespült, für die er nicht geschaffen war. Die von einem Bundespräsidenten geforderte Seriosität verkörperte Wulff zwar durchaus, wenn auch weniger eine weltläufige und mehr die eines Sparkassendirektors. Vielleicht wäre er mit der Zeit in das Amt hineingewachsen. Aber dass er stets mehr den Eindruck eines Bundespräsidentendarstellers und weniger den eines Bundespräsidenten machte, ist ein Unglück, welches nicht ihm angelastet werden kann; er war schlicht nicht der richtige Mann für dieses Amt. Sein Leben lang war Wulff Teil eines Systems, in dem man sich nach bestimmten Regeln verhält und so den Weg nach oben findet. Vom plötzlichen Totalabsturz, der brutal erscheint angesichts seiner Vergehen, wurde er wohl völlig überraschend getroffen.

Auch wenn ihm die Deutschen bis zum Lebensende einen Ehrensold (in der Höhe von derzeit 217.000 Euro pro Jahr) bezahlen werden, weil er «aus politischen Gründen aus seinem Amt ausgeschieden» ist, muss Christian Wulff ein Stück weit bemitleidet werden. Sind die Emotionen, die ihn zu seinem Anruf bei Kai Diekmann verleitet haben, denn nicht menschlich? Wie schon Karl-Theodor zu Guttenberg dachte Wulff, er hätte im Boulevardjournalisten Diekmann einen Freund gefunden. Denn die Beziehung zwischen dem Christdemokraten und «Bild» war zuvor eng, der Übergang von seiner ersten Ehefrau Christiane zu seiner zweiten Ehefrau Bettina wurde vom Boulevardblatt mit vielen schönen Worten und Bildern auf den Titelseiten begleitet. Doch Politjournalisten und Politiker sind natürliche Feinde, es darf keine korrumpierenden Freundschaften geben. Kai Diekmann weiss das und das ist vielleicht der Knackpunkt: Ein Bundespräsident von Format käme nie auf die Idee, seinen Bürgern in Absprache mit den Medien vorzustehen.

«Rechtlich reingewaschen»

Die «Spiegel»-Titelgeschichte diese Woche hiess «Die Scharfmacher», womit ein Teil der Antreiber in der Causa Wulff, die Staatsanwälte, schon mal kritisiert wären. Ob auch die Medien zu etwas Selbstkritik fähig sind, wird man in den nächsten Tagen lesen können. Birgit Baumann vom österreichischen «Standard» nimmt den Freispruch jedenfalls als eine rein «rechtliche» Reinwaschung auf. Tatsächlich seien sowohl die Anklage als auch der Rücktritt von Wulff korrekt gewesen. Es darf offenbar auch ein Mensch, dem nichts nachgewiesen werden kann, als irgendwie schuldig gelten.

Wenn in Zukunft «In dubio contra reum» statt «In dubio pro reo» gilt, ist das eine bedenkliche Entwicklung. Sie würde bedeuten, dass ein Verdacht, den Journalisten hegen, immer angebracht ist, egal, wie die Beweislage aussieht. Es wird problematisch, wenn die Medien ihren eigenen Vorwürfen mehr glauben als der Wirklichkeit. Eine NZZ beispielsweise bezeichnet Wulff auch schon mal beiläufig als einen «über diverse Affären gestürzten CDU-Politiker». Heute müsste man wohl eher von einem «von diversen Leitmedien gestürzten CDU-Politiker» schreiben.

Das Schlusswort gehört Michael Götschenberg, der das lesenswerte Buch «Der böse Wulff?» verfasst hat. In einem Interview mit der Taz sagt er: «Im Endeffekt hat sich fast alles von dem, was in den Wochen der Affäre Wulff auf den Tisch gepackt wurde, als belanglos, haltlos oder sogar unwahr herausgestellt.» Und im Buch schreibt er auf Seite 249: «Generell hat der Skandal um den Bundespräsidenten für die Medien auch einen ökonomischen Hintergrund. Die Fortschreibung der Krise lohnt sich.»

Leserbeiträge

Axel Linstädt 28. Februar 2014, 09:14

Lieber Ronnie Grob!

In dubio pro reo,
Aber: In dubio contra reum,
denn “ contra“ regiert den Akkusativ!
Dies gilt’s zu „accusieren“

Herzlich, Ihr Axel Linstädt

Stefan Golunski 28. Februar 2014, 09:30

Gut gegeben, Herr Grob. Aber die lateinischen Sentenzen üben wir vielleicht noch mal: reus (m., der Angeklagte) wird nach der o-Deklination dekliniert. Während also der Ablativ, den die Präposition pro nach sich zieht, tatsächlich reo heißt, wird nach contra der Akkusativ verwendet. Der aber lautet reum. Mithin: „In dubio contra reum.“
Ansonsten, wie gesagt, alles sehr schön.
Freundlichen Gruß
Stefan Golunski

Ronnie Grob 28. Februar 2014, 09:47

@Axel Linstädt, @Stefan Golunski: Vielen Dank für die Belehrung, ich habe meinen Fehler korrigiert. So ergeht es einem, wenn man vom Perlentaucher verlinkt wird und Leute vorbeischauen, die mehr von Latein verstehen als nur ein paar Redewendungen 🙂

Frank Hofmann 28. Februar 2014, 11:46

Beredtes Schweigen der Hetzjournaille. Die mediale Lynchjustiz hat ihr Opfer und wartet auf die nächste Sau, die sie durchs Dorf jagen kann. Kachelmann lässt grüssen. Da fehlte halt der Schwulenbonus. Die Frage, warum die meisten Medien und ihre Macher von der Öffentlichkeit nicht als seriös eingestuft werden, ist längst beantwortet.

Hartgens, Hans-Joachim 28. Februar 2014, 15:47

Ein kulturell wichtiger Beitrag. Herzlichen Dank für dieses Spiegelbild dieses leider sehr verbreiteten „Journalismus“! Es erinnert mich an die alte Wildwestregel: Erst schiessen und dann fragen!