von Carmen Epp

Ich schäme mich!

Die Wulff-Affäre, der Fall «Carlos», Meldungen zu Michael Schumacher, die keine sind: Journalismus gibt immer öfter Anlass zum Fremdschämen – nicht nur beim Publikum. Höchste Zeit für ein Bekenntnis für mich als Teil dieser Branche: Ja, ich schäme mich!

Politiker werden zum Rücktritt aufgefordert, wenn sie schwere Fehler begehen. Weshalb nicht auch Journalisten?

Beide tragen eine grosse Verantwortung: Der Politiker für seine Wähler, der Journalist für seine Leser. Im Gegensatz zur Politik bleibt die Verantwortung im Journalismus allerdings eine theoretische. Der Presserat rügt zwar auf Beschwerde hin einzelne Verfehlungen. Anders als in der Politik werden Journalisten aber nicht etwa zum Rücktritt aufgefordert. Und entschuldigen oder gar schämen müssen sie sich erst recht nicht. Schliesslich tun sie nur ihren Job, und wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. 

Ist das wirklich so? Sollen Journalisten nicht zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie schwere Fehler begehen? Sollten sie sich nicht schämen, wenn sie unlauter arbeiten? Ich finde: Doch, sie sollten – und müssten. Und das betrifft letztlich jeden einzelnen von uns. Auch mich. 

Als Journalistin bin ich zwar in erster Linie Teil eines medialen Mikrokosmos, in dem ich arbeite. In meinem Fall ist das der Kanton Uri, mein Arbeitgeber das «Urner Wochenblatt», mein direkter medialer Wirkungsgrad auf rund 20 000 Leserinnen und Leser beschränkt. Wie ich als Journalistin arbeite, habe ich in erster Linie ihnen gegenüber zu verantworten. 

Gleichzeitig bin ich aber auch Teil eines grösseren Ganzen, Mitglied eines Berufsstandes, ein kleiner Mosaikstein einer Medienwelt, die nicht an Kantonsgrenzen Halt macht. Die Art und Weise, wie ich arbeite, hat Einfluss darauf, wie mein Berufsstand schweiz- oder gar weltweit wahrgenommen wird. Genauso wie die Arbeit meiner Berufskolleginnen und -kollegen in der Schweiz und der Welt das Bild von mir als Journalistin im Kanton Uri mitprägt.  

Wenn im Journalismus unlauter gearbeitet wird, bin ich als Teil dieser Branche gewissermassen mitverantwortlich. Egal, ob in Düdingen, New York oder Phnom Penh – wenn irgendwo mal wieder über «scheiss Journalisten» geflucht wird, bin ich auch immer mitgemeint. Insofern reicht meine Verantwortung selbst als Lokaljournalistin viel weiter als bloss von Sisikon bis Realp. 

Also will ich hiermit als Teil dieser Branche Verantwortung übernehmen. Indem ich offen ausspreche, was viele Journalisten da draussen längst hätten tun müssen: Ich schäme mich. Für meine Berufskollegen. Für meinen Berufsstand. 

Ich schäme mich für die mediale Ausschlachtung des Fall «Carlos», für die verantwortungslose Art und Weise, wie Journalisten das Leben dieses jungen Menschen zum eigenen Nutzen mit Füssen treten. Dafür, dass Verlagshäuser Geld dafür ausgeben, um Journalisten an die Fersen von «Carlos» durch die Schweiz und bis ins Ausland reisen zu lassen. Ich schäme mich dafür, dass selbst renommierte Medien auf den Boulevard-Zug aufspringen, ja ihn gar antreiben und am laufen halten. 

Ich schäme mich für die Affäre Wulff, die keine war, und trotzdem von Journalisten als solche ausgeschlachtet wurde. Ich schäme mich für alle News-Ticker und Sondersendungen zu Michael Schumacher, die Meldungen wiedergeben, die keine sind. Für all die Skandale, die inszeniert werden und dem Leser eine Welt vorgaukeln, wie sie nicht ist. Für jeden einzelnen Journalisten, der nicht der Sache wegen recherchiert, sondern nur eine These bestätigt haben will. Ich schäme mich für all die Journalisten, die sich anmassen, eine Person verurteilen zu können, für jede einzelne Kampagne, die geführt wird für oder gegen eine Sache. Ich schäme mich für jeden pietätlosen Anruf bei Opfern oder deren Familien, für jeden Journalisten, der an Beerdigungen auftaucht, um ein Bild oder einen O-Ton zu erhaschen. Ich schäme mich aber auch für jeden einzelnen Ressortleiter oder Chefredaktor, der solche Aufträge erst verteilt.

Ich schäme mich für all die Journalistinnen und Journalisten, die der Branche so viel Schaden anrichten – und sich noch nicht mal dafür schämen.

Leserbeiträge

Frank Hofmann 23. Juni 2014, 14:16

Der liebe „Carlos“ als Opfer des bösen Boulevards. Und dazu der Vergleich mit Wulff. Zu viel des Moralismus und der Anbiederung.

Annabelle Huber 23. Juni 2014, 16:51

Frau Epp, nicht Energie verschwenden mit Fremdschämen, mit gutem Beispiel voran gehen.
Es ist Bestandteil des persönlichen Reifeprozesses, fremde Verfehlungen als solche zu behandeln: fremd.
Ich hoffe, es gelingt Ihnen, den im Artikel erwähnten Werten treu zu bleiben.
In Ihrer Schämliste vermisse ich die Rügung der Rundschauredaktion des Schweizer Fernsehens.
Diese hat im Fall Mörgeli mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewusst Zeugen oder Zeugenaussagen gefälscht.
Das wäre dann nicht nur unbesonnenes, rücksichtsloses, pietätloses journalistisches Verhalten, welches Sie beanstanden, sondern zusätzlich kriminelles.

Carmen Epp 23. Juni 2014, 22:48

Liebe Frau Huber, sich-fremd-Schämen und mit-gutem-Beispiel-Vorangehen schliessen sich ja nicht gegenseitig aus, im Gegenteil: Würde ich das, was ich da schreibe, nicht auch leben, kämen die Worte nicht weit. Insofern lass‘ ich mich auch gerne daran messen. Was die «Schäm-Liste» angeht, so wäre die wohl noch beliebig erweiterbar. Ich habe hier nur die offensichtlichsten und aktuellsten Beispiele genommen.

Annabelle Huber 24. Juni 2014, 13:47

Liebe Frau Epp, es ist eines, Misstände im Journalismus anzuprangern und ein ganz anderes, sich dafür fremd zu schämen.

Ich bin allergisch auf die Fremdschämerei.

Scham ist ja in der Regel eine Reaktion auf etwas, das man vor der Welt zu verbergen sucht.
Sie hingegen stellen Ihre Scham mit grossen Lettern und Aufrufungszeichen zur Schau ;-).
Was wollen Sie damit bezwecken, warum können Sie nicht einfach schreiben, was Sache ist ?
Vielleicht empfinden Sie das Fremdschämen auch als edle Haltung.
Das einzige, was Sie glauben aktiv beitragen zu können zur Verbesserung der journalistischen Kultur, ist das sich fremd schämen.
Sie scheinen zu meinen, Sie persönlich könnten sich bezüglich einer Verbesserung der journalistischen Kultur nicht mehr verbessern, Sie haben das Ende der Stange erreicht, Ihnen bleibt einzig das Fremdschämen.
Fremdschämen fordert von anderen und selber ist man fein raus, blickt vom hohen Berg jovial hinunter ins finstere Tal.
😉

Es ist sicher so, dass noch viele Beispiele angeführt werden könnten, deshalb drängt sich auch eine Klassifizierung auf, um den Ueberblick zu behalten und um abschätzen zu können, wie schwerwiegend die Verfehlung im Einzelfall zu gewichten ist.
Die kriminelle Verfehlung habe ich explizit erwähnt, weil ich sie als die schlimmmste Form erachte und in ihrem Artikel vergeblich gesucht habe.

Carmen Epp 24. Juni 2014, 14:22

Liebe Frau Huber

Ich bin sonst auch dafür, zu zeigen, was ist, statt zu urteilen. Erlauben Sie mir aber zwischendurch, meinem Ärger Ausdruck zu verleihen. Nicht das ist feige, wie Sie andeuten, und ich bin keineswegs «fein raus» deswegen. Vielmehr muss man zwischendurch die Dinge auch beim Namen nennen, und was gewisse Journalisten leisten, ist einfach schlichtweg peinlich. Und da ich Teil dieser Branche ist, ist es auch mir peinlich. Deshalb das Fremdschämen. Indem ich es ausdrücke, will ich auch nichts verbergen. Im Gegenteil: Was glauben Sie, wie viele Kolleginnen und Kollegen machen die Faust im Sack, wenn sie sehen, was andere Leute im Namen ihrer Branche anstellen? Es geht mir bei der Kolumne nicht um mich, sondern um den Journalismus, der es meines Erachtens wert ist, auch mal verteidigt zu werden gegen eben solche Verfehlungen.

Vinzenz Wyss 23. Juni 2014, 20:12

Es ist schon richtig, was was Carmen Epp sagt und oft vergessen wird. Quasi das 1 mal 1 der Medienethik: Journalisten gehen in ihrem Handeln nicht nur eine Beziehung ein zum Gegenstand ihrer Berichterstattung, zur Quelle, zu den Rezipienten oder zur Öffentlichkeit, sondern auch zu den Peers, also zu den Berufskollegen. So zeigen Fälle wie „Carlos“ wie sich Journalisten darum foutieren, mit ihren „Gschichtli“ das Ansehen des Berufes mit Füssen zu treten. Wäre Journalismus ein Profession, wären sie längst weg vom Fenster und könnten ihre Ergüsse in der Blogosphäre bis zu geht nicht mehr posten. Aber eben, Journalismus schafft es nicht qua Selbstorganisation zur Profession zu werden. Es kann jeder wie ihm der Schnabel gewachsen ist, was ja auch wiederum seine freiheitlichen Vorteile hat.

Heer Grau Charlotte 23. Juni 2014, 21:50

Es ist richtig, es ist wichtig – und es gehört diskutiert. Mutiger Text von Carmen Epp. Sie bricht dieses Tabu und stellt die Frage:

”Sollen Journalisten nicht zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie schwere Fehler begehen? Sollten sie sich nicht schämen, wenn sie unlauter arbeiten? “

Carmen Epp meint, ja, sie sollten. Sie stellt zu Recht fest: Im Gegensatz zur Politik bleibt die Verantwortung im Journalismus allerdings eine theoretische. Der Presserat rügt zwar auf Beschwerde hin einzelne Verfehlungen. Anders als in der Politik werden Journalisten aber nicht etwa zum Rücktritt aufgefordert. Und entschuldigen oder gar schämen müssen sie sich erst recht nicht. Schliesslich tun sie nur ihren Job, und wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. “

Vinzenz Wyss hält dem entgegen, dass dies letztlich richtig ist, da dies ”ja auch wiederum seine freiheitlichen Vorteile hat“.  – Denn wer wäre die Zensurbehörde? Welches Gremium? Welche letzte Instanz? Die Politik?  Die Frage beantwortet sich von selbst. 

Heisst dies, die Hände in den Schoß zu legen bzw. in die journalistische Selbstverantwortung – und in den Schoss des Presserats, dessen Rügen nie wirklich weh tun, weil sie auch kaum Öffentlichkeit bekommen? 

Wir Journalistinnen und Journalisten sind genau so verführbar, wie der Rest der Welt. Lassen uns einspannen und instrumentalisieren. Und halten es dann gerne mit Constantin Seibt:

»Falls man am folgenden Tag nicht mit dem einverstanden ist, was man unter seinem Namen geschrieben hat, kann man als Journalist gnädigerweise in der Woche darauf das Gegenteil schreiben. Das Publikum hat ein schlechtes Gedächtnis. Niemand wird es merken.« (Deadline, Seite 143). 

Seibt beschreibt, was gang und gäbe ist, nur ist das schlechter, nein: schlechtester Journalismus. Das ist ein schlechter Rat. Das ist Mist. — So drehen wir uns im Kreis.

Einen Ausweg sehe ich nur in einer starken, stetigen, medienpolitischen Debatte. Und einer starken, selbstreflektierenden Auseinandersetzung unter uns. So wie das Carmen Epp gemacht hat, halt stellvertretend für all die Kollegen, die zu feige sind, zu sagen: ”Ich habe Mist gebaut. – Ich habe mich geirrt. “ Denn wir tragen Verantwortung. Jede und jeder von uns. 

Ich weiss nicht, wie oft ich folgendes von Kollegen und Kolleginnen gehört habe: ”Ich nehme mich nicht so wichtig. Ich bin nur ein kleiner Journalist. Ich kann die Welt nicht verändern.“ Und damit hat man sich prima aus der Verantwortung. Das Gegenteil ist richtig. Und hier legt Carmen Epp den Finger drauf: 

”Wenn im Journalismus unlauter gearbeitet wird, bin ich als Teil dieser Branche gewissermassen mitverantwortlich. Egal, ob in Düdingen, New York oder Phnom Penh – wenn irgendwo mal wieder über «scheiss Journalisten» geflucht wird, bin ich auch immer mitgemeint. Insofern reicht meine Verantwortung selbst als Lokaljournalistin viel weiter als bloss von Sisikon bis Realp. “

Wie gesagt: ein starker, ein mutiger Text. 

Peter Eberhard 04. Juli 2014, 15:10

Und warum, liebe Frau Heer, erhalten Rügen des Presserates kaum die gewünschte Öffentlichkeit? Ganz einfach: Weil Journalisten dann über Fehler der eigenen Zunft schreiben müssten, und das tun sie halt nicht gern.

Ralf Tatto 24. Juni 2014, 09:05

Danke! Musste dringend mal gesagt werden.
Das unterschreibe ich so…
Gilt auch für Blogger.

Jan 24. Juni 2014, 12:12

Ich kann das im Wesentlichen alles unterschreiben. Das Problem ist meiner Meinung nach auch der Presserat. Das Gremium ist ein Zahnloser Tiger den man so oft ans Knie pinkeln darf wie man möchte. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Presserat schon irgendwann einmal wirklich nachhaltig für Qualität gesorgt hätte.

Marcel Zufferey 24. Juni 2014, 12:45

Diesem ganzen Hinrichtungs- und Kampagnenjournalismus sollte man endlich einmal kritisch hinterleuchten!

Anton Keller 28. Juni 2014, 18:49

Ist das Publizieren von Staatspropaganda auch fremdschämwürdig, insbesondere wenn Journalisten später in die PR Abteilungen der Bundesdepartemente wechseln?