von Nick Lüthi

Schwache Argumente für eine Veröffentlichung

Erpressbarkeit als Politiker, Beeinträchtigung der Amtsführung: Darum sei die Berichterstattung über Geri Müllers Privat- und Sexleben von öffentlichem Interesse. Doch die Verteidigungslinien für die Enthüllungen sind dünn und durchlässig.

Wenn Weltwoche und «Blick» – vorerst – darauf verzichten, eine aufgelegte Geschichte mit grossem Skandalisierungspotenzial zu bringen, dann lässt das zuerst einmal aufhorchen. Gehören doch Enthüllungen oberhalb und unterhalb der Gürtellinie zum Kerngeschäft der beiden Titel. Aber wenn zwei verzichten, veröffentlicht eben ein dritter; in diesem Fall die Schweiz am Sonntag. Mit «Nackt-Selfies aus dem Stadthaus» schlug der Knaller voll ein.

Geri Müller, Stadtammann von Baden und Grüner Nationalrat, lichtet sich entblösst in der Amtsstube ab, schickt das Bildmaterial einer Chat-Bekannten, die ihn damit nach dem Ende der Affäre zu erpressen droht. Müller bietet die Polizei auf, die wird bei der Frau vorstellig. Kurz: eine unappetitliche Posse für alle Beteiligten. Im Gegensatz zur Konkurrenz wusste Patrik Müller, Chefredaktor Schweiz am Sonntag und Autor des Artikels, von der Polizeiaktion und entschied sich nicht nur aufgrund der vorliegenden Nacktbilder für eine Veröffentlichung der Geschichte.

Doch gehört sie an die Öffentlichkeit? Gibt es ausserordentliche, wichtige Gründe, die eine Publikation von Details aus Müllers Privat- und Intimsphäre rechtfertigen? Patrik Müller hat die Fragen offensichtlich mit Ja beantwortet. Das Plazet erteilte nachträglich Medienrechtler Peter Studer. Der Doyen hält die vorgelegten Indizien und «begründeten Behauptungen» ausreichend für eine Publikation. Ausserdem sei ein gewählter Politiker per se eine öffentliche Person, im Gegensatz etwa zu einer «Person in der Verwaltungsmaschinerie». Damit spielt Studer auf die Bundesangestellte an, die kürzlich ebenfalls wegen Nacktbildern und einer von der NZZ ausgelösten Berichterstattungswelle ihre Stelle los wurde.

Andreas Meili, Berufskollege Studers und in diesem Fall Rechtsvertreter von Geri Müller, sieht das grundsätzlich anders. An der Medienkonferenz am Dienstagmorgen, als Müller zu den Vorwürfen erstmals öffentlich Stellung nahm, hielt Meili fest, dass es auch in der Öffentlichkeit ein Recht auf Schutz der Privat- und Intimsphäre gebe. Es erfordere schon «ausserdordentlich wichtige Gründe» trotzdem darüber zu berichten. Solche lägen in der Causa Müller keine vor. Oder aber doch?

Konnte der Politiker seine beiden Mandate – Stadtammann und Nationalrat – unter dem Druck der Chat-Affäre und ihrer Weiterungen überhaupt noch unbelastet führen? Müller habe an der Medienkonferenz den Verdacht nicht entkräften können, schreibt etwa der Tages-Anzeiger, «dass er in seiner Amtsführung beeinträchtigt war. Die Sache nahm ihn offensichtlich seit Monaten massiv in Beschlag. Seine Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, dass ihm die Sache völlig über den Kopf gewachsen ist.»

Was man als Rechtfertigung für die Enthüllung lesen kann, taugt aber genauso gut für das Gegenteil: Die bisher grösste Beeinträchtigung der Amtsführung brachte erst die Veröffentlichung der pikanten Details mit sich. Müller musste inzwischen seine Führungs- und Repräsentativaufgaben als Stadtammann von Baden vorläufig abgeben. Als die Affäre schon am Laufen, aber noch nicht publik geworden war, bemühte sich Müller, seine Amtsgeschäfte im Griff zu halten. Was ihm offenbar ganz gut gelang.

So lobte etwa der Präsident des Badener Gewerbeverbands Müllers Amtsführung. Der Stadtammann sei gut informiert, verfüge über die nötigen Dossierkenntnisse, sei gut erreichbar und stehe für Gespräche zur Verfügung, beschied ihm der oberste Gewerbler Anfang April – zu einem Zeitpunkt, als Müller von der Affäre bereits «massiv in Beschlag» genommen gewesen sein soll. Auch sonst sind keine Hinweise bekannt, dass Müller als Politiker in den letzten Monaten fahr- oder unzuverlässig gehandelt hätte. Klar tickte möglicherweise eine Zeitbombe, die irgendwann hochgehen konnte.

Man weiss nicht, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn die Schweiz am Sonntag auf eine Berichterstattung verzichtet hätte. Möglicherweise war das kompromittierende Material schon so weit gestreut – oder wäre erst noch breiter gestreut worden, dass es nur eine Frage der Zeit bleiben sollte, bis eine andere Redaktion zuschlägt.

Unabhängig davon zeigt sich einmal mehr die Tendenz, dass Medien das öffentliche Interesse an einer Geschichte im Wirbel begründet sehen, den sie mit ihrer Berichterstattung selbst ausgelöst haben.

Anmerkung: Die ersten beiden Abschnitte im Text wurden nachträglich ergänzt, um deutlich zu machen, dass Weltwoche und Blick nicht auf dem gleichen Wissensstand waren wie die Schweiz am Sonntag und sie deshalb zu unterschiedlichen Einschätzung gelangten bezüglich der Publikationsreife der Geschichte.

Leserbeiträge

Frank Hofmann 19. August 2014, 21:52

Obwohl sich „Blick“ und „Weltwoche“ nichts vorwerfen lässt, setzt es ziemlich deplatzierte Seitenhiebe ab. Dabei übersieht der Autor das Entscheidende: Da der Polizeieinsatz erst ein paar Tage vor der Publikation der „Schweiz am Sonntag“ erfolgte, hatte eben nur diese Zeitung Kenntnis davon. Die Müller-Affäre hat also zwei grundlegend unterschiedliche Seiten: nämlich die VOR und die NACH dem von Müller georderten polizeilichen Einschreiten. Die angebliche Suizidgefahr hat sich als blosser Vorwand herausgestellt, wodurch die Frage des Amtsmissbrauchs relevant wird und sich die Veröffentlichung nicht nur rechtfertigt, sondern aufdrängt. Sofern da keine Beisshemmung vorhanden ist.

Heller 20. August 2014, 18:07

Die Frau hat selber zugegeben Suizidrohungen ausgesprochen zu haben. Ihre Antwort zeig zwei Sachen: 1. Menschen sehen und hören immer nur das was sie wollen. Und vor allem sehen sie nur das was der eigenen Meinung am meisten hilft.
2. Die Berichterstattung hat ihr Ziel nicht verfehlt. Diffamierung einer öffentlich Person. Es geht schon lange nicht mehr um die Wahrheit.