von Nik Niethammer

Ich bin die Quote

So handgestrickt entstehen die TV-Zuschauerzahlen: Unser Kolumnist war eine Zeit lang Teil des neuen Panels zur Quotenmessung. Die Manipulationsmöglichkeiten sind mannigfaltig.

Die Frau am Telefon kommt gleich zur Sache: «Ihr Haushalt ist ausgewählt worden. Als Teilnehmer des Mediapulse Fernsehpanels. Zur Erhebung der Einschaltquoten.» Unser Haushalt? Ausgewählt? Ich sei Journalist, gebe ich zu bedenken, hätte viele Jahre fürs Fernsehen gearbeitet und würde zahlreiche Fernsehschaffende persönlich kennen. Zudem sei ich kein linearer Vielgucker. «Auch solche Leute brauchen wir für unsere Statistik, sagt die Dame vom Marktforschungsinstitut Kantar Media freundlich, «im übrigen erfolgt die Auswahl nach dem Zufallsprinzip. Also: herzlich Willkommen.»

Wenige Tage später installiert ein Techniker das schwarze Mediapulse-Messgerät bei unserem Fernseher. Auch mein Laptop wird «verkabelt». Der junge Mann erklärt mir etwas umständlich, wie die Messung funktioniert und erwähnt beiläufig, dass die Methode noch Kinderkrankheiten aufweise. Das ist die Untertreibung des Jahres: Im März 2013 tobt in der Schweiz ein wüster Streit um das neu eingeführte Messsystem. Die Methode – sie berücksichtigt neu auch zeitversetztes Fernsehen und TV-Konsum via Internet – wird von verschiedenen Sendern heftig kritisiert. Rückt deshalb der Techniker in den folgenden Wochen noch zweimal an, um das System zu «justieren», wie er mir erklärt.

Nun bin ich angehalten, unseren Fernsehkonsum peinlich genau zu erfassen. «Jede einzelne Person in Ihrem Haushalt leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Abbildung der Fernsehnutzung», schreibt das Marktforschungsinstitut Kantar Media in einem Begrüssungsbrief. «Jede einzelne Person zählt, ob sie nun schaut oder nicht, und egal was sie schaut.»

Das erste, was sich in unserem Haushalt ändert, ist die Zahl der Fernbedienungen. Es sind nun vier: eine für den Fernseher, eine für die Horizon-Box von UPC Cablecom, eine für den DVD-Player. Und neu einen Drücker für das Messgerät. Darauf sind alle Personen gespeichert, die in unserem Haushalt wohnen. Mein Einwand, unsere Kinder (5 und 3) dürften noch gar kein Fernsehen gucken, wird energisch entkräftet: «Jede im Haushalt lebende Person wird erfasst.»

Dann also los: Ich schalte den Fernseher ein, 19.30 Uhr, Tagesschau. Das Display des Messgerätes beginnt zu blinken. «Wer ist anwesend?». Auf dem schwarzen Kästchen drücke ich die Taste mit meinem Namen. Die Eingabe wird sofort bestätigt: «Hallo Nik». Kurze Zeit später werde ich gefragt, wie viele Gäste anwesend sind. Ich betätige erneut eine Taste, die Frage verschwindet, um nach wenigen Minuten erneut aufzublinken. «Zuschauer überprüfen». Das ist ziemlich gewöhnungsbedürftig und nervt auf Dauer.

Ab sofort bin ich also einer von 1870 Panel-Haushalten, die die 3,3 Millionen Fernsehhaushalte in der Schweiz abbilden. Ich bin die Quote, schaue repräsentativ für mehrere Tausend Menschen fern. Es wäre einfach, das System zu manipulieren, wollte ich es denn. Meine Freunde Viktor Giacobbo und Mike Müller unter Quotendruck? Kein Problem: Schnell die Tasten aller Haushaltbewohner – also auch die unserer Kinder – gedrückt, dazu vier Klicks auf «Gäste weiblich» und «Gäste männlich», und die tatsächlich zuschauende Zahl von Personen wäre sieben Mal höher. Wäre.

Beeinflusst das Gerät meine Art der Fernsehnutzung? Oh ja. Schnell mal hin und her zappen funktioniert zwar immer noch. Aber ich ertappe mich beim Gedanken, dass die Auswerter von Mediapulse jedes, wirklich jedes Programm sehen können, das ich ansteuere. Also halte ich mich zurück. Oder logge mich gar nicht erst ein, obwohl ich laufend dazu aufgefordert werde. Was mir prompt eine Rüge von Kantar Media einträgt. «Wir haben festgestellt, dass Sie Fernsehen schauen ohne sich angemeldet zu haben», sagt die Dame am Telefon streng. «Die Kinder haben wohl mit der Fernbedinung gespielt», gelobe ich Besserung.

Sendungen von Kollegen, die mir besonders am Herzen liegen, versuche ich zu erfassen, indem ich sie aufzeichne und zeitversetzt abspiele, nicht ohne die entsprechende Taste zu drücken. Nicht immer sitze ich dabei vor dem Fernseher. Das entspricht zwar nicht den Regeln. Aber der Realität. Ab und an schalte ich auch meine Frau dazu, frei nach der Devise: meine Frau würde dieses Programm ebenfalls mögen, also schaut sie im Prinzip auch mit.

Mein Fazit als Quotenhaushalt: Das System hat Lücken. Denn das Gerät erfasst nur, wer was guckt. Nicht aber, ob die Menschen, die den Fernseher einschalten, auch wirklich zuschauen – oder im Smartphone stöbern und sich die Fussnägel schneiden. Technisch wäre es wohl möglich, jeden Zuschauer per Gesichtserkennung zu überwachen. Aber ich bezweifle, dass dann noch jemand mitmachen würde. Und: Ich habe in den letzten Monaten viele Staffeln von «Breaking Bad», «24 Live Another Day», «House of Cards», «Homeland» oder «Orphan Black» gesehen. Die meisten auf meinem Tablet. Nicht eine Minute davon ist vom Mediapulse-System erfasst worden. Ebenso wenig die Etappen der «Tour de France» auf dem Eurosport Player, die ich mir unterwegs auf dem Smartphone gegönnt habe.

Mein Fernsehverhalten hat die Quote in der Schweiz mitbestimmt. Hat bei Werbekunden und in Fernsehredaktionen für Freude und manchmal für Entsetzen gesorgt. Und einige in Erklärungsnot gebracht. Oft genug habe ich als Chefredaktor von Tele Züri oder Sat 1 selbst erlebt, wie man am Morgen danach eine schlechte Quote schön redet: Das Wetter ist schuld. Die Konkurrenz. Das lausige Vorprogramm. Die schwache Crosspromotion. Dass es an der Qualität des Programms liegen könnte, wollte man sich nur selten eingestehen.

Übrigens: Als Würdigung meiner Arbeit als Quotenmann erhielt ich von der Kantar Media kürzlich einen Migros-Gutschein im Wert von 100 Franken.

Nachtrag: Als Teilnehmer am Mediapulse Panel ist man zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet. Seit Juli 2014 sind wir – aus freien Stücken – nicht mehr verkabelt. Deshalb habe ich mich entschlossen, unser Leben als Quotenfamilie aufzuschreiben.

Leserbeiträge

Matthias Tretner 09. September 2014, 10:37

Sehr aufschlussreicher Artikel. Ich gebe Ihnen natürlich Recht, dass jegliche Art von statistischer Datenerhebung problematisch ist. Es wäre müßig hier das vielzitierte Churchill Zitat erneut zu bemühen. Bedenken Sie aber bitte, dass aus der Möglichkeit die Sie haben, auf verschiedenen Fernbedienungen falsche Personenanzahlen einzugeben, nicht folgt, dass sie „Die Quote sind. Für diese Konklusion brauchen Sie die versteckte Prämisse, dass die von Ihnen an das Unternehmen gesandten „Rohdaten“ nicht weiter „gecrunched“ werden. Die Statistik hat eine Vielzahl an Möglichkeiten sogenannte „Ausreißer“ durch ihre Abweichung von der erwarteten Normalverteilung zu bestimmen. Kleines Beispiel, wenn die Marktforschung bei ihnen durchklingelt und fragt wieviel Fernseher für 2015 sie zu kaufen beabsichtigen, und Sie sagen „Fünfzigtausend“, werden Sie durch diese Aussage keine steigende Konjunkturprognose auslösen, sondern schlichtweg ignoriert.

Thomas Läubli 20. September 2014, 15:35

Denselben Vermessungs-Irrsinn gibt es bei den Zeitungen: Niemand misst, ob ich eine Gratiszeitung nur dazu benutze, um meinen Hintern abzuwischen. Aber sie erhält denselben Zähler wie die NZZ, bei der ich einige Artikel von A bis Z – manchmal sogar zweimal – lese.

Wir sollten diese Statistik-Industrie abschaffen, solange sie bei den Quantitäten steckenbleibt. Sie dient Politikern und Redaktoren nur dazu, den Mehrheiten noch mehr zu geben und die gebildeten Minderheiten zu eliminieren. Dabei sind wir alle Minderheiten, die sich in Kultur und Wissenschaft für Dinge interessieren, die nicht für jeden verständlich sind.

Wenn die Mehrheit eben lieber TV-Serien schaut, die nur der Unterhaltung dienen, dann wird der „gemeinsame“ Nenner eben darauf verlagert, was eigentlich Sache der Privatsender ist, und Singularitäten werden auf Kosten der Bildung gestrichen. M.a.W. Marktforschung ist nur ein Machtinstrument, damit sich sachfremde Kulturfunktionäre auf Kosten sachlicher Information bereichern und profilieren können.