von Marco Schneiter

Wer profitiert von den vielen «No Billag»-Umfragen?

Die Mehrheit der bis heute publizierten Meinungsumfragen zur «No Billag»-Initiative wurden in Tamedia-Titeln veröffentlicht. Mit teils fragwürdigen Ergebnissen. Die Umfrageflut befeuert einen «Horse-Race»-Journalismus, der den zweifelhaften Zahlen zu viel Gewicht beimisst.

Selten wurde eine Initiative so früh schon so heiss debattiert wie jene zur Abschaffung der Rundfunkgebühren. Das Thema brennt Medienschaffenden förmlich unter den Fingerkuppen. Die Debatte wird täglich neu befeuert, eine Umfrage jagt die nächste. Seit September letzten Jahres wurden bereits deren sechs veröffentlicht, fünf davon in Tamedia-Organen. Und weitere werden folgen.

Mit der Publikation so früh vor dem Urnengang ging Demoscope wenig Risiko ein.

Bis vor wenigen Jahren wurden Abstimmungsumfragen in erster Linie telefonisch erhoben. Das ist jedoch aufwändig und teuer. Das Feld der Anbieter war deshalb lange überschaubar. Einer der bekannten Telefonbefrager ist das Meinungsforschungsinstitut Demoscope, aus dessen Haus die erste Umfrage zur «No Billag»-Initiative im September 2017 stammt. Mit der Publikation so früh vor dem Urnengang ging das Unternehmen wenig Risiko ein. Zum Vergleich: Das GFS Bern publiziert ihre beiden Trendanalysen jeweils circa fünf Wochen respektive rund zehn Tage vor dem Abstimmungstermin, wenn die Meinungsbildung schon fortgeschritten ist.

Lange Zeit war GFS Bern Platzhirsch auf dem Gebiet der Abstimmungsumfragen, auch dank der zahlungskräftigen SRG im Rücken, welche die Trendanalysen zuverlässig in Auftrag gibt. In den letzten Jahren erwuchs dem Institut allerdings harte Konkurrenz aus dem Online-Bereich: Mittels gewichteter Online-Panels erzielen die Politologen Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen (LeeWas) mittlerweile Umfrageresultate, die es mit jenen von GFS Bern aufnehmen können. Der Methodenstreit zwischen Telefon- und Online-Umfragen wird von den beiden Unternehmen mit harten Bandagen geführt.

Umfragedebakel in der jüngeren Vergangenheit zeigen, fehleranfällig sind beide Methoden. Telefonumfragen haben das Problem, dass sie sich zu stark auf Festnetzanschlüsse konzentrieren, weshalb jüngere, progressivere Bevölkerungsschichten untergewichtet bleiben. Online-Umfragen hingegen laufen Gefahr, ältere, wenig technikaffine Bevölkerungsgruppen zu vernachlässigen

Das ist eine originelle Art zu sagen: unsere Studie ist nicht repräsentativ für die Schweizer Stimmbevölkerung.

Für just dieses Problem fand die Firma Marketagent, ein relativ neuer Player im Schweizer Umfragegeschäft, eine umstrittene Lösung. In ihrer ersten Online-Umfrage zur «No Billag»-Initiative im Auftrag der «Sonntagszeitung» schloss das Marktforschungsinstitut ältere Menschen und Tessiner kurzerhand aus der Stichprobe aus. Die Studie sei repräsentativ für Personen der Deutsch- und Westschweiz im Alter von 18 bis 65 Jahren, verteidigte Geschäftsführer Jürg Gujan das Vorgehen von Marketagent. Das ist eine originelle Art zu sagen: unsere Studie ist nicht repräsentativ für die Schweizer Stimmbevölkerung.

Eigenartig war auch das Ergebnis, wonach «No Billag» gerade in der sonst eher staatstreuen Westschweiz viele Anhänger findet. Der seltsame Befund könnte dem geringen Stichprobenumfang geschuldet sein: Während LeeWas mit mindestens 10’000 Probanden operieren, begnügt sich Marktagent nämlich mit deren tausend. Eine hohe Zahl an Probanden ist bei Online-Umfragen allerdings nötig, um überhaupt eine sinnvolle Gewichtung nach Alter, Region und Ausbildung vornehmen zu können. Um etwas über die Gruppe der Westschweizer Akademiker über 65 sagen zu können, muss man genügend Vertreter in der Teilstichprobe haben.

Dass die Methoden von Marketagent unpräzis sind, hatte das Unternehmen schon zwei Jahre zuvor bewiesen.

Nach der Veröffentlichung der «No Billag»-Umfrage musste die «Sonntagszeitung» ziemlich viel Kritik und Häme einstecken. Dass die Methoden von Marketagent unpräzis sind, hatte das Unternehmen schon zwei Jahre zuvor bewiesen, als es die Befürworter der Durchsetzungsinitiative mit 55 Prozent vorne sah. Die Abstimmung wurde schliesslich mit 59 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Doch die «Sonntagszeitung», welche auch diese Studie in Auftrag gegeben hatte, scheint an Marketagent festhalten zu wollen. Armin Müller, Mitglied der Chefredaktion, verteidigte die «No Billag»-Studie als standardkonform. Kurz vor Weihnachten publizierte das Blatt dann eine nachgebesserte Version, in der nun auch die 65 bis 75-Jährigen berücksichtigt wurden.

Wer danach auf umfragefreie Festtage gehofft hatte, sah sich getäuscht. Die Weihnachtslieder waren gerade verklungen, da veröffentlichte LeeWas am 27. Dezember ihre Version der «No Billag»-Umfrage auf 20min.ch, wie die «Sonntagszeitung» auch eine Tamedia-Publikation. Und nach dem Jahreswechsel reichte LeeWas eine weitere Umfrage für 20min.ch nach, in der die Haltung der Bevölkerung zur SRG evaluiert wurde. Damit ist das Pulver aber noch längst nicht verschossen: Vor dem Urnengang zu «No Billag» können wir auf je zwei Umfragen von Leemann und Wasserfallen zählen. Die beiden SRG-Trendumfragen vom GFS Bern stehen ebenfalls noch aus.

Die Amerikaner haben für diese Art von Berichterstattung die passende Bezeichnung: «Horse-Race»-Journalism.

Wem nützt dieser Umfragereigen? Für die Meinungsforschungsinstitute geht es um Aufträge, der Wettbewerb hat sich intensiviert. Für Tamedia, wiederum ist jede Umfrage ein Schreibanlass. Rechnet man die hauseigene Leserumfrage von tagesanzeiger.ch mit, hat das Medienhaus bisher fünf von sechs Studien zu «No Billag» veröffentlicht. Die Amerikaner haben für diese Art von Berichterstattung die passende Bezeichnung: «Horse-Race»-Journalism. Politische Wahlen und Abstimmungen werden wie ein Pferderennen inszeniert. Mit einem Umfragefeuerwerk soll künstlich Spannung erzeugt werden: je knapper und widersprüchlicher die Umfrageergebnisse, desto besser.

«Horse-Race»-Journalismus birgt die Gefahr, dass es bei Wahlen und Abstimmungen nicht mehr um Inhalte geht, sondern nur noch um das Rennen selbst. Politik verkommt so quasi zum Unterhaltungsangebot, die Bürgerinnen und Bürger setzen per Bauchgefühl auf das eine oder andere Pferd und schreien es zum Sieg. So weit sind wir in der Schweiz zwar nicht, aber die eidgenössische Abstimmungen sind längst Teil der Unterhaltungsindustrie geworden, wie die Umfrageflut eindrücklich zeigt. Daneben ist es aber wichtig, Qualitätsjournalismus zu haben, der auf Inhalte eingeht und die gehaltvolle Debatte ermöglicht. Auch darum geht es in der «No Billag»-Abstimmung.

Leserbeiträge

Markus Britschgi 18. Januar 2018, 16:29

Guter Artikel. Es hat wirklich jeder das Gefühl, er könne auch noch ein „Umfrögli“ machen. Als Marktforscher möchte ich aber zum Thema Gewichtung darauf hinweisen, dass eine repräsentative Befragung normalerweise nicht gewichtet werden muss. Man erfüllt bereits bei der Befragung die notwendigen Quoten. Das ist das wahre Marktforschungshandwerk und das macht eine Befragung teurer. Solche sogenannte Random-Quota-Umfragen spiegeln die effektive Wirklichkeit. Fairerweise muss ich hier auch erwähnen, dass ein Portal wie 20min.ch eine so grosse Breite der Bevölkerung anspricht, dass hier Gewichtungen vorgenommen werden können. Dies verlangt aber seriöses Handwerk. Was bei LeeWas zweifellos vorhanden ist. Ich bin auf die weiteren Umfragen zu diesem Thema sehr gespannt 🙂

Niklaus Ramseyer 21. Januar 2018, 02:10

Dass Umfragen umstritten sind, ist ein uralter Hut. Aber es gibt bessere und schlechtere. Jene, die über 65Jährige ausschloss, war eine ganz schlechte und saudumme. Hier nun aber darüber zu schreiben, ohne die Resultate zu nennen, ist leider auch grober Unfug. Die erwähnte, getürkte Umfrage ohne über 65Jährige ergab (wen wunderts) 57% Ja, hahaha!
Jene von 20 Minuten kam der Sache schon näher: Sie rechnete mit 51% Ja. Dazu muss man wissen, dass Initiativen, die zwei Monate vor der Abstimmung nicht nahe bei 60% Zustimmung sind, es in aller Regel nicht mehr schaffen. Die neuste, seriöseste Umfrage ergab nun satte 59% Nein. Inhaltlich ist klar, dass No-Billag grober Blödsinn ist. Die Initianten verheddern sich ja auch in abstruse Widersprüche. So behauptet etwa FDP-Bigler (der mit Abstand übelste Politiker derzeit in der Schweiz), nach einem Ja könnte der Bund eine „befreite“ SRG mit 200 Mio Fr. jährlich unterstützen. Eine glatte Lüge. Aber die Leute sind nicht blöd: Sie werden den Zürcher No-Billag-Phantasten wohl mit über 60% Nein eine klar Abfuhr erteilen. Schätzt (völlig unwissenschaftlich) aber hoffnungsvoll: N. Ramseyer, BERN

Alex Schneider 23. Januar 2018, 08:43

Jeder Umfrage-Profi weiss, dass bei emotional aufgeladenen politischen Fragestellungen die Leute bei Befragungen nicht ihre wahren Absichten preisgeben. Dies sollte bei der Darstellung der Ergebnisse über Fehlerspielräume zum Ausdruck kommen. Die Leute sagen nicht immer die Wahrheit, ob sie abstimmen gehen oder nicht und schon gar nicht immer, wie sie abstimmen werden.