von Peter Rothenbühler

«Le Matin» – ein Sterben auf Raten

Peter Rothenbühler, früherer Chefredaktor von «Le Matin», über das glücklose Abenteuer Westschweiz von Tamedia und den vorläufigen Tiefpunkt mit der Einstellung der gedruckten Ausgabe von «Le Matin».

Das Ende von «Le Matin», der grössten und populärsten Tageszeitung der Westschweiz, war seit Jahren absehbar. Die Lancierung von zwei Gratiszeitungen, «20 Minutes» von Tamedia im März 2006 und als präventiver Gegenangriff «Le Matin Bleu» von Edipresse im Oktober zuvor, bedeutete längerfristig den sicheren Tod von «Le Matin». Man stelle sich vor: Gemeinsam verteilten die Gratisblätter der beiden Verlage jeden Tag 500’000 Exemplare. War «Le Matin» jahrelang die beliebteste Pendlerzeitung, so wurde mit den Gratiszeitungen der Gang zum Kiosk oder zum Zeitungskasten mit Geldschlitz überflüssig. Auch der Anzeigenmarkt kam in Schieflage: Tamedia bot den Kunden von «20 Minuten» die Westschweiz zum Schnäppchen-Preis an.

Das Zielpublikum der beiden Gratiszeitungen, die sich einen teuren Verdrängungskampf lieferten, war natürlich in erster Linie die Leserschaft von «Le Matin». Interessanterweise blieb «Le Matin» aber in den Cafés und Restaurants, also dort, wo die Zeitung gratis auflag, der beliebteste Titel. Die Gäste greifen noch heute zuerst zu «Le Matin». Wo man «Le Matin» kostenlos lesen kann, bleiben die Gratiszeitungen liegen. Das liegt auch daran, dass «Le Matin» die grosse und einzige ausführliche Sportzeitung der Westschweiz ist.

Die Edipresse-Manager haben bereits seit 2007 im Geheimen das Szenario einer Einstellung von «Le Matin» durchgespielt.

Die Zeitung, die ein paar Jahre vor dem Gratiszeitungs-Tsunami (zu meiner Zeit als Chefredaktor) wieder in die schwarzen Zahlen kam und an Auflage gewann, schrieb danach nur noch rot, deshalb haben die Edipresse-Manager bereits seit 2007 im Geheimen das Szenario einer Einstellung von «Le Matin» durchgespielt. Dabei kamen sie stets zum gleichen Resultat: Eine Umverteilung der kaum kompensierbaren Vertriebs- und administrativen Kosten auf die zwei anderen Edipresse-Titel «24 heures» (Waadt) und «Tribune de Genève» (Genf) würde diese auch gleich in die roten Zahlen treiben.

Die grossen Gewinne von weit über 10 Millionen von «Le Matin Dimanche» konnten noch lange den Verlust von 2 bis 6 Millionen bei der täglichen Ausgabe von «Le Matin» kompensieren. Also blieb das Weiterführen von «Le Matin» als stärkste Marke des Welschlandes die bessere Lösung als eine Einstellung.

Tamedia setzte derweil auf einen Abnützungskampf: Man macht dem Konkurrenten, den man übernehmen möchte, das Leben mit einem Konkurrenzprodukt so schwer, bis er zu Kreuze kriecht. Allerdings war Edipresse-Verleger Pierre Lamunière beim Übernahme-Deal der Cleverere: Wie es ihm gelungen ist, für den Verkauf seines Verlags einen Preis herauszuholen, an dem Tamedia-Verwaltungsratspräsident Pietro Supino und seine Leute immer noch schwer zu kauen haben – um es vulgär zu sagen: wie Lamunière und sein CEO Tibère Adler die Tamedia-Leute über den Tisch gezogen haben – bleibt ein Rätsel, ebenso der effektive Verkaufspreis, man spricht (unbestätigt) von 500 Millionen!

Die Zürcher gingen mit einem naiven Enthusiasmus ins Welschland, es war für sie der erste Versuch, in einem «fremden Land» Fuss zu fassen, sie versprachen den Journalisten und Managern sogar, den Namen des neuen, gemeinsamen Verlages zu ändern, haben dazu sogar einen Ideenwettbewerb organisiert, sie versprachen auch, auf die kulturellen Unterschiede zwischen Deutsch- und Westschweiz grosse Rücksicht zu nehmen, von beiden Verlagen in Sachen Unternehmensführung das Beste zu nehmen.

Aus Zürich kam dann eines Tages auch die Nachricht, jeder Titel müsse mindestens 15 Prozent Rendite erzielen.

Doch kurz nach der Übernahme kam es zur grossen Ernüchterung: Zürich befahl, es werde alles genau gleich gemacht wie in Zürich, der Verlagsdirektor Westschweiz Serge Reymond erklärte selbst immer wieder fröhlich, er sei halt nur ein Söldner von Zürich, wenn es ihm wieder einmal nicht gelang, ein Anliegen der welschen Kollegen in Zürich anzubringen. Aus Zürich kam dann eines Tages auch die Nachricht, jeder Titel müsse mindestens 15 Prozent Rendite erzielen, ein unerreichbares Ziel für die welschen Titel. Inzwischen ist den Zürchern die Lust an Abenteuer im Welschland vergangen: «Le Matin» wurde schon vor Jahren Ringier angeboten. Tamedia
suchte in den letzten Jahren auch schon nach einem Käufer für das ganze welsche Portfolio. Aber wer will schon zugreifen? Der Einzige, der dasnötige Kleingeld hätte und gerne Zeitungen erwirbt, Christoph Blocher, will nur noch Gratiszeitungen kaufen.

Die bittere Pille der Einstellung der gedruckten Version von «Le Matin» hat Tamedia in der offiziellen Verlautbarung mit dem schönen Argument süssgeredet, die Marke werde digital weitergeführt. Man werde in die digitale Marke «Le Matin» sogar investieren. Das wird vorläufig so geschehen. Aber bereits heute besteht ein gemeinsamer Newsroom für «Le Matin» und «20 Minutes», und da das Stammpublikum von «Le Matin» eher älter ist, wird die digitale Version kaum Erfolg haben. Zudem überschneiden sich die digitalen Angebote der Regionalzeitungen «24 heures» und «Tribune de Genève» wie auch von «20 Minutes» stark mit jenem von «Le Matin». Es ist also auch für «Le Matin» digital eher ein Sterben in Raten. Dafür wird «Le Matin Dimanche» als einzige und immer noch Gewinn bringende Sonntagszeitung des Welschlandes weiterbestehen. Auch da gibt es schon Gedankenspiele, diese Zeitung zur Sonntagsausgabe von «24 heures» und «Tribune de Genève» zu machen und sogar den Namen zu ändern. Von «Le Matin Dimanche» würde dann nur «Dimanche» bleiben – ohne «Le Matin», aber mit «24 heures» und «Tribune de Genève» im Untertitel. Das sind zunächst nur interne Gedankenspiele, aber soweit könnte es kommen.

In der Westschweiz, wo es eine Grundgesamtheit von anderthalb Millionen potentiellen Lesern gibt, bestehen immer noch zehn recht gut gemachte Tageszeitungen mit Vollprogramm.

Wenn jetzt im Welschland Protest erschallt gegen die bösen Zürcher, so muss man dazu sagen: Für entlassene Journalisten wird es schwer, weil der Markt klein ist. Aber es geschieht jetzt in der Westschweiz, was in Bern, Zürich und Basel seit zehn Jahren der Trend war: Konzentration, Einstellung, Übernahmen. Und: in der Westschweiz, wo es eine Grundgesamtheit von anderthalb Millionen potentiellen Lesern gibt, bestehen immer noch zehn recht gut gemachte Tageszeitungen mit Vollprogramm. In Paris, mit zehnmal mehr Einwohnern, gibt es gerade drei, die von Milliardären über Wasser gehalten werden.

Der Autor war von 2002 bis 2010 Chefredaktor und Direktor der «Matin»-Gruppe

Leserbeiträge

Frank Hofmann 08. Juni 2018, 14:48

So dramatisch ist der Verlust nicht. Für die Genfer war es immer „le Lausanner Blick“ oder ganz einfach „le torchon orange“. Ein Boulevardblatt, mehr nicht.