von Gerhard Lob

Das Tessin im medialen Abseits

Anlässlich der Tessiner Kantonswahlen flackerte in den Deutschschweizer Medien kurz das Interesse am Südkanton auf. Doch im journalistischen Alltag spielt die italienischsprachige Schweiz kaum noch eine Rolle. Auch das Wissen über die Südschweiz erodiert in den Redaktionen.

In einem Teaser-Video wirbt Tamedia für die neue Jugendplattform «Venty» von 20min.ch. Am Ende des Filmchens erscheint eine Schweizkarte. Links sieht man die Westschweiz, rechts die Deutschschweiz. Basta. Die italienische Schweiz kommt auf dieser Karte nicht vor, sie wurde kurzerhand der Deutschschweiz zugeschlagen.

Zugegeben, die italienischsprachige Schweiz ist ein kompliziertes Gebilde und auf einer Karte nicht leicht darstellbar. Denn zum Kanton Tessin kommen noch die Südbündner Täler Misox, Bergell und Puschlav dazu. Gleichwohl ist die Karte von «Venty» bezeichnend. Denn die Deutschschweizer Medien schenken der italienischen Schweiz und dem Tessin immer weniger Aufmerksamkeit.

Das zeigte sich auch bei der Berichterstattung zu den Kantonswahlen 2019, die am vergangenen Wochenende stattfanden. Die meisten Tageszeitungen der Deutschschweiz berichteten zwar über den Urnengang, aber nur kurz und auf das Essentielle beschränkt. Vertiefende Artikel, Analysen oder Porträts einzelner Politiker suchte das interessierte Publikum vergeblich.

Vor allem aber war die Inlandberichterstattung stärker auf die gesamte Schweiz ausgerichtet als heute.

Als ich 2001 begann, aus dem Tessin zu berichten als Korrespondent für Tageszeitungen der deutschen Schweiz, sah die Medienlandschaft noch anders aus. Auch die Einstellung auf den Redaktionen war noch eine andere. Den Verlagen und ihren Zeitungen ging es damals besser als heute, Fusionen von Verlagen und Zusammenschlüsse von Redaktionen standen erst am Anfang. Vor allem aber war die Inlandberichterstattung stärker auf die gesamte Schweiz ausgerichtet als heute.

Bei der «Basler Zeitung», die damals mein Hauptkunde war, gab es jeweils am Montagmorgen eine Telefonkonferenz mit allen Regionalkorrespondenten. Das waren Kolleginnen und Kollegen in St. Gallen, in Luzern, in Olten, in Bern und in Lausanne – sowie ich im Tessin. Dazu kamen die Bundeshausjournalisten und manchmal ein Kollege, der einen besonderen Blick auf das Bundesgericht und die UNO in Genf warf. Für eine Themenseite schrieben nicht selten alle Inland-Korrespondenten einen Beitrag aus ihrer Region. Die Inland-Berichterstattung glich so einem Spiegel der Regionen und der wichtigsten Vorgänge im ganzen Land. Es gab häufig Ausgaben, in denen die Bundespolitik überhaupt nicht vorkam.

Die grossen Regionalzeitungen führen keine eigenen Inland-Ressorts mehr und Budgets für Berichte aus den Regionen sind kaum noch vorhanden.

Das hat sich radikal geändert. Heute liegen Verantwortung und Epizentrum der Inlandberichterstattung im Bundeshaus und in den redaktionellen «Kompetenzzentren» der fusionierten Grossredaktionen. Die grossen Regionalzeitungen führen keine eigenen Inland-Ressorts mehr und Budgets für Berichte aus den Regionen sind kaum noch vorhanden. Alle Kolleginnen und Kollegen, die früher als freie Inland-Korrespondenten gearbeitet hatten, haben längst das Handtuch geworfen, sich inhaltlich neu ausgerichtet oder einen festen Job gefunden. Eine logische Folge dieser Entwicklung: Themen aus den Regionen finden auf den Inland-Seiten immer seltener statt.

Im Falle des Tessins ist dieser Schrumpfprozess schon seit Jahren im Gang. Und er betrifft einen ganzen Landesteil. Die früher weit verbreitete staatspolitische Überzeugung, dass es zu den Aufgaben einer Deutschschweizer Zeitung gehört, regelmässig über die politischen Vorgänge der Südschweiz zu berichten, gehört der Vergangenheit an. Es gibt gewisse Ausnahmen: etwa die nun zu CH Media gehörenden Tageszeitungen der NZZ-Regionalmedien (insbesondere die Luzerner Zeitung), die sich dem Tessin auch wegen der geographischen Nähe stärker verbunden fühlen. Doch Tatsache ist: Wegen des finanziellen Drucks haben die grossen nationalen Tageszeitungen, die NZZ und der Tages-Anzeiger, auf ihre eigenen Tessin-Korrespondenten verzichtet. Und das nachdem sie jahrzehntelang ein fester und unabdingbarer Bestandteil der Redaktionen waren. In der Westschweiz habend die NZZ und die Tamedia-Zentralredaktion ihre Korrespondenten noch behalten.

Den Tessiner Sportclubs in den obersten Ligen des Landes ist es zu verdanken, dass die Existenz des Südkantons überhaupt noch in den Köpfen der Deutschschweiz verankert ist.

Alle Tageszeitungen berichten daher nur noch punktuell über das Tessin – mit Hilfe von freien Journalisten. Eine Ausnahme gibt es beim Sport: Den Eishockey- und Fussballmannschaften aus Ambrì-Piotta und Lugano ist es zu verdanken, dass das Tessins überhaupt noch regelmässig in den Deutschschweizer Medien vorkommt, abgesehen von den Skandal- und Räubergeschichten, die der «Blick» regelmässig ins Blatt rückt.

Schwieriger wird es bei hintergründigen politischen Themen. Nehmen wir die Kantonswahlen 2019 von Anfang April. Wer verstehen will, warum Paolo Beltraminelli (CVP) als Staatsrat abgewählt wurde, muss verstehen, was es mit der «Affäre Argo1» auf sich hatte. Doch diese Affäre fand in den Deutschschweizer Medien gar nicht oder nur ganz marginal statt. Ein Blick in die Schweizerische Mediendatenbank SMD reicht, um zu sehen, dass es praktisch keine Einträge zu Argo1 auf Deutsch gibt. Und zugegeben: Diese Argo1-Geschichte war nicht ganz einfach zu erklären. Auslöser war eine unter diesem Namen agierende Sicherheitsfirma, welche Asylzentren bewachte. Sie war Anfang 2017 ins Visier der Bundesanwaltschaft geraten, weil ein Mitarbeiter aktiv für islamistische Kampfgruppen in Syrien warb. Die Untersuchungen zeigten, dass Argo1 die Millionen-Aufträge vom Sozialdepartement – entgegen den gesetzlichen Vorschriften – ohne Ausschreibung erhalten hatte. Direktor des Sozialdepartements war Paolo Beltraminelli, der die politische Verantwortung übernahm und nun von der Wählerschaft die Quittung erhielt.

Was auch auffällt: In den Redaktionen der deutschen Schweiz ist auch das Wissen um die geografischen Verhältnisse in der Südschweiz rückläufig. Als es im August 2017 im Bergell zu einem Bergsturz bei Bondo kam, erhielt ich Anfragen, ob ich nicht schnell «nach Italien» fahren könnte. Dass das Bergell Teil der Schweiz ist und Locarno rund drei Autofahrstunden von Bondo entfernt liegt, war einigen Kollegen nicht klar.

Auch das politische Tessin hat mit seinem Gejammer, von Bundesbern nicht verstanden zu werden, in den letzten Jahren gehörig dazu beigetragen, eine Sättigung in den Redaktionen der Deutschschweiz zu erreichen.

Nun wäre es aber falsch, die Schuld für das schwindende Interesse am Tessin allein nördlich des Gotthards zu suchen und allein den Entwicklungen bei den dortigen Medien anzulasten. Auch das politische Tessin hat mit seinem Gejammer, von Bundesbern nicht verstanden zu werden, in den letzten Jahren gehörig dazu beigetragen, eine Sättigung in den Redaktionen der Deutschschweiz zu erreichen. Das Phänomen der populistischen Lega und die Mühe mit den Grenzgängern ist inzwischen so häufig beschrieben worden, dass ein weiterer Bericht einfach nicht mehr attraktiv ist. Es fehlen News-Wert und neue Entwicklungen. Zudem fehlt es dem Kanton an Vorzeigeprojekten. Sie betreffen in erster Linie den Wissenschafts- und Hochschulbereich, den es auch in den anderen Landesteilen gibt.

Gleichwohl ist es kurios: Der neue Gotthard-Basistunnel hat die deutsche und italienische Schweiz näher zusammenrücken lassen. Doch beim Wissen um die anderen Landesteile rückt man voneinander ab. Die geistige Distanz wächst. Auch die Tessiner Tageszeitungen berichten selten über Vorgänge, die ausserhalb der Bundespolitik in der deutschen oder französischen Schweiz geschehen.

Die beschriebene Entwicklung gilt vor allem für Printmedien. In den elektronischen Medien ist die Situation dank der SRG noch anders. Die «Idée suisse» ist dort weiterhin stark verwurzelt. Im Tessin haben sowohl Radio SRF als auch Fernsehen SRF einen fixen Korrespondenten. Zudem berichtet eine Korrespondentin regelmässig für Radio RTS und gelegentlich für das Fernsehen RTS in der Westschweiz. SRF 4 News strahlt am Wochenende stets die Sendung «Die Woche in Tessin und Romandie» aus. Für die SRG ist die regelmässige Berichterstattung aus dem italienischsprachigen Landesteil, anders als bei privaten Medienhäusern, ein Teil der Konzession und somit des eigenen Auftrags.

Leserbeiträge

Rémy Steinegger 11. April 2019, 15:29

Lieber Gerhard, Du triffst mit Deiner vielseitigen Analyse den Nagel voll auf den Kopf!

Eine Anmerkung will ich aber anfügen: Es ist nicht so, dass bei allen Verlagen kein Geld mehr vorhanden wäre … Es gibt nur immer weniger Redaktionsbudget, das Geld wird in Millionenbeträgen als Dividenden verteilt!

Früher wussten Unternehmer, dass man von der Ernte einen Teil als Saatgut investieren muss. Heutige Manager denken wohl weniger weit … Schade!

Christian Bernhart 11. April 2019, 16:04

Das muss man dann Le Temps doch zugute halten: In diesem Blatt kommt das Tessin regelmässig vor mit Berichten, der freien Journalistin Andrée-Marie Dussault

 

Cornelio Sommaruga, Genf 11. April 2019, 19:05

Sehr interessant aber bedenklich ! CSO

Diana Blum 12. April 2019, 07:53

Letztlich ist das Tessin ein Kanton wie ein anderer. Nach der Logik des Autors müssten auch der Kt. SO oder der Kt. TG eigene Korrespondenten haben. Kein Welschlandkorrespondent ist bloss für einen Kanton zuständig, ebenso wenig wie ein Korrespondent in der Zentralschweiz. Es gibt ja Tessiner Zeitungen, und Italienisch ist Landessprache. Für mich ein Scheinproblem. Mi dispiace (tut mir leid).

Mario Bernasconi 13. April 2019, 14:53

Ja Frau Blum, so kann man es auch sehen, aus der deutschen Schweiz. Die Tessiner sehen das eben anders, man fühlt sich aus verschiedenen Gründen von Bern vernachlässigt. Da genügt die Wahl eines TI-Bundesrates eben nicht. Der CH-BR ist nicht für das Tessin zuständig. Klar und dies wie von Herrn Lob beschrieben, sind die Tessiner mitschuldig wenn die übrige Schweiz die ewig gleichen Klagen nicht mehr hören will. Viele Tessinerprobleme werden aber in der Ausserschweiz nicht wahrgenommen, z.B. Alptransit endet in Lugano und die Strecke bis Chiasso und weiter nach Milano? Der SBB-Nahverkehr (TILO) hat laufend Verspätungen, die SBB wiegelt ab usw.  Die SBB-Werkstatt Bellinzona wird abgebaut, man könnte doch eine moderne Tech.-Werkstatt aufbauen, wäre doch möglich, SBB sollte nicht nur  ZH/BE ausgerichtet sein. Der OeV im TI ist sehr schlecht ausgebaut, da wäre eine unaufdringliche Beratung und finanz.Hilfe dringend nötig, aber die Ausserschweiz interessiert dies nicht, sollen doch die Tessiner in den endlosen Autokolonnen stehen und selber eine Lösung finden, so geht es eben nicht liebe Ausserschweizer. Das Tessin ist eben nicht nur Sonne, Boccalino und Grotto…….

Erich Heini 19. April 2019, 14:39

‚Letztlich‘, meint Diana Blum, sei der Tessin ein Kanton wie jeder andere. Ich empfehle ihr eine Weiterbildung über die Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, mit spezieller Berücksichtigung der Geschichte des Tessins. Und mit Hinweisen auf die Bereitschaft und Fähigkeit von Mehrheiten, auf Minderheiten Rücksicht zu nehmen. Was man besser kann, wenn man Kenntnisse hat. Carl Spittelers Rolle dabei ist ja soeben in allen einigermassen respektablen Medien Thema gewesen. Und Diana Blum müsste auch noch zur Kenntnis nehmen, dass auch im Misox, im Bergell und im Puschlav Italienisch geschrieben und gesprochen wird. DasProblem ist also das schwindende Wissen in der Deutschschweiz von der Svizzera italiana. Als Lektüre empfehle ich Fritz René Allemanns ’25 mal die Schweiz‘ oder Alain Pichards ‚Land der Schweizer‘. Beide Bücher sind antiquarisch zu bekommen.

Roberto Rivola 15. April 2019, 17:11

Gut gebrüllt Herr Lob!

Und das mit den Geographie-Kenntnissen … Vielleicht etwas mehr Ferien in der Schweiz würden helfen, aber ich bin da ja Partei.

Alex Schneider 16. April 2019, 08:13

 
Tessin: Der politisch reifste Kanton der Schweiz
 
Die Tessiner*innen sind die politisch versiertesten Schweizer*innen. Sie liessen sich vom Klimahype in der Deutschschweiz nicht ins Bockshorn jagen. Zudem lag die Wahlbeteiligung im Tessin bei sagenhaften 59,3% (ZH: 32,65%, BL: 34,11%, LU: 41,5%).