von Benjamin von Wyl

«Ich habe schon immer gern den Gottesdienst gestört»: so schreibt Lucien Scherrer, NZZ

So schreibe ich: Wer seine Artikel nicht mag, sieht ihn als Rechtsausleger und Linkenfresser. Ist Lucien Scherrer ein prototypischer Vertreter einer ideologisierten NZZ? So einfach ist es nicht. Wir haben mit dem Inlandredaktor und früheren Weltwoche-Journalisten über seine Reportage aus der «Schweizer Sozialhilfe-Hauptstadt» Biel gesprochen.

Ist das ein Scherz? Lucien Scherrer, der in der NZZ fast jedes Jahr gegen den Zürcher 1. Mai anschreibt, schlägt für das Treffen mit der MEDIENWOCHE ausgerechnet das Volkshaus in Zürich vor. Er meint es ernst. Und äusserlich fällt Scherrer hier auch nicht auf: Verwuschelte Haare, erdfarbener Pulli mit V-Ausschnitt. Scherrer sieht selbst aus wie ein Vertreter des linksliberalen Milieus.

Ein Artikel, auf den ich stolz bin, ist jener über die Anspruchsmentalität in der Stadt Zürich. Darauf bin ich auch an Kindergeburtstagen schon angesprochen worden. «Gell, du hast beim Schreiben an mich gedacht?», hat mich die Kollegin gefragt, «Neoliberale Kackscheisse war das.» Klar, habe ich auch Freunde, die mögen, was ich mache. Viele kennen mich aber noch aus der Zeit, als ich noch staatsgläubiger und linksliberallalla gewesen bin. Es gab mal die Spekulation, dass die NZZ einen Rechtskurs einschlägt – wegen mir! Ich finde es ein bisschen herzig, wie viel Macht man mir von aussen zuschreibt. Kürzlich habe ich in der Social Media-Diskussion zu einem Artikel über die Ständeratswahlen in Zürich gelesen «Oder greift Lucien Scherrer, der Mann, der von der Weltwoche kam, noch ein?» Das hat doch was verschwörungstheoretisches. Manche meinen, ich sei bei der NZZ als rechter Schläfer postiert und kann zum Chefredaktor laufen und Änderungen fordern. Das ist absurd.

Lucien Scherrer spricht gerne über Politik und springt dabei zwischen der Faszination des Historikers und seiner Meinung. Der Historiker Scherrer kann etwa über die strukturelle Schönheit trotzkistischer Analysen dozieren – aber macht dabei klar, dass er das Gedankengut letztlich ablehnt. Sich mit seiner Meinung auch auf Social Media einzumischen, würde ihn reizen, aber einen Twitter- oder Facebook-Account hat er nie gehabt. Ausgleich ist ihm wichtig.

Gerade war ich mit der Familie fünf Wochen unbezahlt auf den Philippinen und in Hong Kong. Aus der Distanz siehst du, wie hysterisch der ganze Medienbetrieb ist. Da komm ich auch auf Gedanken, was anderes zu machen. Aber wenn du hier bist, bist du einfach wieder drin. Von diesen Debatten brauche ich aber ein bisschen Detox, darum bin ich selbst auch nicht auf Social Media. Ich arbeite schon lange 80 Prozent und will währenddem ich Zeit mit meiner Familie verbringe nicht darüber nachdenken, was für eine hysterische Diskussion gerade läuft.

Das sagt der Journalist, der auch schon pointiert gegen einen gesetzlichen Vaterschaftsurlaub geschrieben hat. Seine Kommentare in der NZZ polarisieren.

In der Weltwoche bist du eh gelabelt, aber bei der NZZ könnte man auch weniger auffallen. Ich lande deshalb in der Rolle des Bösen, weil man häufig mich fragt, wenn es darum geht, Kommentare zu schreiben. Wischiwaschi-Kommentare mag ich halt nicht ich und gebe gern hier und dort eins aufs Bein. Aber ich will heute nicht mehr unnötig provozieren – vielleicht eine Alterserscheinung.

Diese Alterserscheinung spürt man bisher nicht – aber spannender als seine Meinungstexte sind ohnehin seine Reportagen und Porträts. Neben dem analytischen Blick und der klaren politischen Haltung spürt man in diesen Artikeln menschliche Wärme. Unabhängig davon, wen er trifft: den pensionierten Anwalt Bernard Rambert oder den zwischenzeitlich verstorbenen Grünen Dani Vischer.

Meine Freundin, die politisch anders tickt, findet oft, ich sei viel zu lieb zu den Porträtierten und Interviewten. Ich will halt niemanden für das verurteilen, was er politisch denkt. Vielleicht hat er ja seine Gründe dafür. Letztens waren wir bei Jean Ziegler, dem höre ich gerne zu, weil es interessant ist, was er denkt. Er hat schon einen Punkt. Nämlich, dass es ein Skandal ist, wie viel Elend auf der Welt noch existiert. Aber meiner Meinung nach würde das, was er will, das Elend verstärken. Ich porträtiere viele Linke – zu denen bin ich aber nicht übermässig böse. Bei der NZZ ist es so, dass ich von Linken oft das Feedback bekomme, sie können mit meinem Text über sie gut leben. Von Bürgerlichen höre ich hinterher eher sowas wie «Oh, das und das ist aber schon sehr negativ. Gerade von ihnen hätte ich etwas anderes erwartet.» Reportagen würde ich gerne wieder mehr machen. Ich mag es, bis mir die Füsse wehtun durch eine Stadt zu gehen und dann jemanden spontan anzurufen. Häufig haben die Angerufenen gleich Zeit – sogar Regierungsräte. «Venga, venga», meinte ein – mittlerweile ehemaliger – Regierungsrat im Tessin am Telefon. Bei meiner Ankunft war er noch auf dem Klo. «Wie gefällt Ihnen dann das Tessin?», hat er durch die halboffene Tür gefragt.

Ähnliche Momente habe er auch erlebt, als er im April für einen «Streifzug durch die Schweizer Sozialhilfe-Hauptstadt» in Biel unterwegs war, eine Reportage im Vorfeld der Berner Abstimmung über massive Kürzungen der Sozialhilfe. In knapp 17 000-Zeichen zeichnet Scherrer die Debatte vor der Abstimmung nach, rafft die Lebensgeschichten von zwei Sozialhilfeempfängern, bringt Beat Feurer ebenso ein, wie den Sozialamtschef, dessen Kritiker. Aber das alles ahnt man noch nicht, wenn man anfängt zu lesen. Der Titel tönt plump, der Einstieg lässt Stereotypen vermuten: Renitente Sozialhilfeempfänger*innen machen überforderten Beamten das Leben schwer. Das Spiel mit der Lesererwartung war Absicht, sagt Scherrer.

Am Einstieg habe ich lange herumgedoktert. Mein erster Entwurf schilderte den Sozialhilfeempfänger Pasquale Lista beim Bierdosen entsorgen. Auch über einen Einstieg mit SVP-Sozialdirektor Beat Feurer, der eine bekannte Figur ist, habe ich nachgedacht. Schliesslich habe ich einen Einstieg mit dem Typen am Schalter geschrieben. Bei einem von drei Besuchen in Biel habe ich spontan beim Sozialhilfeamt angerufen – «Ja, kommen Sie um drei.» Dort habe ich diese Szene miterlebt und gedacht, vielleicht ist es spannender, wenn ich das an den Anfang stelle. Viele lesen diesen Einstieg und denken: Jetzt folgt ein Klischeetext über faule und freche Sozialhilfebezüger, was der Artikel nicht sein soll. Der Einstieg sollte etwas irreführen.

Scherrers Text über die Sozialhilfe in Biel überrascht nicht nur an dieser Stelle. Er spielt auch innerhalb von einzelnen Sätzen mit der Lesererwartung; die Sympathiesteuerung wirkt streckenweise wie eine Geisterfahrt. Erst am Ende des Textes ist man sich sicher, dass der Fahrer seine Stunts und Manöver kontrolliert und bewusst ausgeführt hat. Exemplarisch zeigt das diese Passage: «Mitten in diesem ausserordentlich gehässigen Konflikt, in dem Kirchen Jesus zitieren und Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) wie der Leibhaftige verdammt wird, stehen die Sozialhilfebezüger, die von alldem oft noch gar nichts mitbekommen haben – auch weil in Biel 58 Prozent der Sozialhilfeklienten Ausländer ohne Stimmrecht sind.» Mit einer fetzigen Metapher nimmt Scherrer den SVP-Regierungsrat in Schutz, aber der Hinweis auf das nicht vorhandene Stimmrecht der Ausländer*innen differenziert nicht nur das fehlende Wissen über die Abstimmungsvorlage, sondern bietet auch einen Perspektivenwechsel an.

Scherrers Sprachbilder knallen in alle Richtungen. Der Text tritt mal gegen links, mal gegen rechts, mal gegen oben – und im Einstieg auch gegen unten. Dem Negativklischee eines Sozialhilfebezügers, das der unbekannte Renitente im szenischen Einstieg vermittelt, stellt Scherrer aber die Lebensgeschichten und das Engagement der Sozialhilfeempfänger entgegen, die bei einem Bieler Sozialunternehmen beschäftigt sind. Denen, die namentlich genannt werden, begegnet er mit Empathie.

Die Betroffenen schreiben seit Jahren Bewerbungen, sind bemüht, aber finden einfach keinen Job. Sie sind die letzten, die diese Situation begrüssen. Wir definieren uns sehr stark über unsere Arbeit und das Stigma, dem Sozialhilfebezüger ausgesetzt sind, finde ich unnötig.

Nach dem Einstieg geht es weiter mit drei Betroffenen, die in einem Sozialunternehmen tätig sind. Mit wie wenig Geld müssen sie als Sozialhilfeempfänger auskommen? Wie sind sie in diese Situation gekommen? Was hätte eine Annahme der Sparvorlage für sie bedeutet? Als Skurrilität für zwischendurch bringt Scherrer die Anekdote, wie einer von ihnen im Rahmen seiner Tätigkeit für das Sozialunternehmen bei einer Hausräumung 25’000 Bierdosen aus einer Wohnung tragen musste. Dann tritt Aldo Martinelli auf, der Leiter der Firma für Arbeitsintegration. Dieser kritisiert die Behörden und erzählt schaurige Geschichten. Auch diesen Abschnitt wählt Scherrer nicht als Abzweigung für eine einseitige Story. Die Relativierung folgt sofort: «Martinelli ist vielleicht nicht ganz objektiv, denn er liegt mit der Verwaltung seit 2013 im Clinch.»

Ganz ohne Klischeestempel kommt die Reportage aber nicht aus: Das Bild der Stadt Biel als «Sozialhilfe-Hauptstadt der Schweiz» wird zementiert. Das Klischee ist zumindest weitgehend vom statistischen Amt verbürgt – obwohl es in der Romandie eine andere Stadt gäbe, in der der Anteil von Sozialhilfeempfänger*innen noch höher ist.

Immerhin gibt der Text den Ursachen für die hohe Sozialhilfequote in Biel Raum: Unternehmen, die weggezogen oder untergegangen sind. Scherrer erwähnt General Motors. Ist es ein diskreter Hinweis auf die einstige Autoindustrie in Biel, dass der Journalist jedes Auto im Text mit der Marke nennt?

Nein. Es ist ein Hinweis darauf, dass Scherrer bis heute so schreibt, wie es ihm sein Mentor bei der Zürichsee-Zeitung 2005 geraten hatte: Er soll einfach schreiben, wie er es für richtig hält. Automarken nennt Scherrer, weil er ein Autofreak ist. Schon als kleines Kind habe er nur jene Bilderbücher gemocht, in denen die Autos mit Marke genannt sind. Zum Treffen mit der MEDIENWOCHE ist er aber mit dem Fahrrad gekommen und eine Radtour auf den Üetliberg helfe auch immer, wenn er beim Schreiben nicht weiterkommt:

Eigentlich schreibe ich am liebsten daheim. Da bin ich auch viel effizienter. Ich steh auf, bringe die Kinder in die Krippe, setze mich hin, trinke meinen Kaffee und schreibe einfach. Wenn es mal nicht läuft, dehnt man im Büro Pausengespräche mit Kollegen aus. Ich habe den Freitag als Jokertag, wenn ich unter der Woche unproduktiv bin, kann ich am Freitag einfach schreiben und den Arbeitstag später kompensieren. Manchmal fahre ich mit dem Velo auf den Üetliberg, wenn ich nicht weiter weiss. Dann fällt mir vielleicht ein guter Satz ein. Oder ich geh wandern, um den Kopf durchzulüften. Am Sonntag stelle ich mir dann die Frage: Wie mache ich das jetzt morgen? Dann weiss ich, wo ich weitermachen kann.

Texte wie die Biel-Reportage entstehen nicht an einem einzigen Nachmittag. Drei Mal sei er in Biel gewesen; zwischen dem ersten Besuch und dem Erscheinen des Artikels lag etwa ein Monat.

Den Text über Biel finde ich ok, aber ich habe das Gefühl, es wäre noch mehr drin gewesen. Herausfordernd waren die extrem vielen Aspekte: Die Wiedergabe der Diskussion vor der Abstimmung bremst den Erzählfluss. Die Geschichte der Sozialhilfeempfänger sollte nicht zu kurz kommen. Dann der Bieler Sozialdirektor Beat Feurer – ich hätte auch bloss ein Porträt über ihn schreiben können. Weiter hast du seinen Sozialamtschef, der gegen ihn ist und – wie ich fand – gute Argumente gegen Feurer und den bürgerlichen Sparvorschlag vertritt. Es war schwierig, das zusammenzupacken.

Der Textaufbau sei für Scherrer ohnehin das schwierigste beim Schreiben: Was kommt wann? Was muss man alles auch noch früher preisgeben, wenn man eine Szene nach vorne schiebt? Scherrer schreibt erst die Einzelteile, bevor er den Text montiert:

Ich notiere immer nur von Hand, so komprimiert man schon vor Ort stärker als mit Tonaufnahmen. Wenn ich die Notizen dann abtippe, komprimiere ich nochmals. Dann schreibe ich einzeln auf: Alles über Feurer, was der gesagt hat, was für Möbel in seinem Büro stehen. Dann die Lebensgeschichten der Sozialhilfeempfänger, was die gesagt haben, ihre Zitate. Sobald all diese Teile für sich niedergeschrieben waren, ging es ums Verdichten, Kürzen und Montieren. Das hat sicher länger gedauert, als das Schreiben der Teile. Es bleibt immer die Frage: Was bringst du zuerst? Und wenn du dieses sagst, musst du auch jenes sagen. Dabei möchte ich etwas vielleicht gar nicht so früh sagen. Mir ist auch der Schluss extrem wichtig. Manchmal bastle ich länger am Schluss als am Einstieg, obwohl man ja weiss, dass der erste Satz aus Leserperspektive entscheidend ist.

Die Biel-Reportage mündet in einen Der-Mensch-denkt-und-Gott-lenkt-Schluss: «Für Pasquale Lista und Hunderte andere bleibt das [eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt] derzeit ein Traum. Sie werden weiter Bäume schneiden, Velos flicken, Bierdosen entsorgen und Bewerbungen schreiben, während es andere wohl immer als Zumutung empfinden werden, wenn das Sozialamt auf Mietverträgen und anderem Papierkram besteht – ganz egal, was der Politik noch einfallen mag.» Der Schluss ist für sich nicht bemerkenswert, bemerkenswert ist, dass er am Ende eines Textes steht, der mit dieser Szene einsetzt: «Der junge Mann mit der getönten Sonnenbrille auf der Stirn wirkt gereizt. ‹Ich habe jetzt keine Nerven für das›, lässt er den älteren Beamten hinter dem Schalter wissen. Der entgegnet ruhig: ‹Ich auch nicht› – und fordert den Mann erneut auf, alle für die Sozialhilfe relevanten Papiere vorzuweisen.» Der Artikel, der anfangs wie eine Geisterfahrt gewirkt hat, vermittelt vor allem eines: Komplexität. In der Sozialhilfe gibt es keine einfachen Antworten.

Wir haben in der Schweiz 270‘000 Leute in der Sozialhilfe. Wenn du die Flüchtlinge, die vom Bund unterstützt werden, dazurechnest, leben fast so viele von Sozialhilfe wie die Stadt Zürich Einwohner hat. Das ist eine beunruhigende Vorstellung und darum interessiert mich das Thema: Was passiert in einer Stadt wie Biel? Was gibt es für Erklärungen, was haben Akteure für Lösungen parat? Die Lösung kann nicht sein, dass man wegschaut und die Ausgaben steigen, wie es die Linken machen. Man kann aber genauso wenig allen 30 Prozent streichen und denken, die gehen dann schon arbeiten.

Scherrer, 1978 in Männedorf geboren und in Stäfa aufgewachsen, hat in Bern Geschichte und Medienwissenschaften studiert. Er habe die Matura gemacht, weil er sich für keine Lehre entscheiden konnte. Danach hat er auch «relativ ziellos» studiert.

Meine Eltern waren immer sehr grosszügig. Als Student habe ich während den Ferien schon auch gearbeitet, aber erst gegen Ende des Studiums habe ich richtig angefangen zu studieren. Davor hatte ich manchmal bis vier Uhr gepennt und bin dann mal zum Zeitung lesen an die Uni. So wie man sich einen faulen Studenten vorstellt.

Ein Dissertationsprojekt zu 1968 brachte ihn dem Themenkomplex näher, den er als Journalist bis heute kundig und unerbittlich bearbeitet: linke Splittergruppen und 68er-Parteien. Einer anderen Uni-Arbeit ist zu verdanken, dass Scherrer erste Redaktionsluft schnuppern konnte: Per Losverfahren wurde ihm für eine medienwissenschaftliche Arbeit ausgerechnet der Kanton Zürich zugewiesen. Und sein Dozent wies ihn dann auf die Regionalzeitung hin, die er kaum kannte, obwohl sie seine Eltern neben Weltwoche und Tages-Anzeiger abonniert hatten: die Zürichsee-Zeitung. Er selber sei damals Tagi-Fan gewesen.

Sechs Jahre lang habe ich bei der Zürichsee-Zeitung gearbeitet, nachdem mich Zeitungspatron Ulrich Gut bei meiner Uni-Recherche gefragt hatte, ob ich nicht an einem Praktikum interessiert sei. Bei der Zürichsee-Zeitung mussten wir an manchen Tagen zu viert vier Seiten füllen: ich, 28, die Kollegin, 28 und zwei noch jüngere Volontäre. Das war eine sehr gute Erfahrung. Den Gottesdienst habe ich schon immer gern gestört. An der Goldküste ist Fluglärm zum Beispiel so ein Thema: Da betonen immer alle, wie schlimm der sei und jammern, dass ihre Häuser deshalb Wert verlieren. Also habe ich einfach mal geschrieben, dass das Fluglärm-Thema ein aufgebauschtes Wohlstandsproblem ist. Das war mein erster Shitstorm; da war ich noch Volontär. Aber sonst habe ich mich politisch nicht so weit aus dem Fenster gelehnt. Es war eher so: Die sagt das und der sagt das. Das interessiert mich heute nicht mehr so. Ab und an mach ich das noch; es hat auch etwas Entspannendes. Mittlerweile finde ich aber Geschichten unbefriedigend, bei denen man nach dem Lesen nicht weiss: Was ist jetzt?

Nach den Jahren bei der Zürichsee-Zeitung arbeitete Scherrer zwei Jahre für die Weltwoche, bevor er zur NZZ gewechselt ist. Dort startete er im Zürich-Ressort; mittlerweile gehört er zur Inlandredaktion.

Bei der Zürichsee-Zeitung habe ich gelernt, beim Schreiben nicht zu langweilen. Bei der Weltwoche galt das schon bei der Themenwahl: Nicht langweilen, es braucht eine klare Aussage. Das wird bei der Weltwoche auf die Spitze getrieben. Du darfst nicht flunkern. Ich kenn keinen, der krasser gegenliest als Roger Köppel. Bei der Weltwoche hängen am Dienstagabend alle Seiten an der Wand im Grossraumbüro. Dann kommt irgendwann Köppel rein und liest, während alle noch ruhiger werden, als sie ohnehin schon sind. Manchmal hat er die Texte völlig auseinandergenommen und man musste sie komplett neu aufbauen. Bei der Zürichsee-Zeitung oder jetzt auch bei der NZZ wird eher wenig redigiert: Hier ein Komma, da ein Komma. Es ist Teil der NZZ-Tradition, dass der Stil eines Autors respektiert wird. Tendenziell sind wir bei der NZZ aber zu lieb zu einander. Bei der Weltwoche war es das Gegenteil, da kam Köppel teilweise auch mit Geschmäcklerischem. Manchmal brachte mich das bis zur Blockade. Ich hatte das Gefühl, jeder Satz, den ich schreibe, ist falsch.

Als Journalisten, die er bei der Konkurrenz schätzt, nennt Scherrer etwa Daniel Ryser von der Republik, Jean-Martin Büttner vom Tages-Anzeiger oder Alex Baur, seinen ehemaligen Redaktionskollegen bei der Weltwoche. In der Schulzeit habe er am Abend vor einem Aufsatz jeweils Tucholsky gelesen. Den findet er absolut genial. Ein grosses Spektrum, aber was auffällt: Es sind alles Männer.

Denen, die ich porträtiere, schicke ich meistens den ganzen Text. Du musst einfach klarmachen, dass sie das Recht am eigenen Wort haben, aber die Wertungen meine sind. Die Porträtierten können argumentieren, weshalb sie falsch sind. Zum Teil überlege ich dann wirklich nochmals, ob es fair ist, wie ich etwas formuliere. So habe ich eigentlich nur gute Erfahrungen gemacht.

Die MEDIENWOCHE hat bei diesem Text dasselbe gemacht. Lucien Scherrer hat nur einige Details präzisiert.

Leserbeiträge

DöRFLiNGER André 26. Juni 2019, 09:11

Der Lucien Scherrer, wohl ein Wohlbehütseingewesenkind von den bekannten Wirtschaftsbuuum-Nachkriegswohlstand1952ern-eltern > einer, der nicht echt arbeiten musste, halb müssiggängerisch bis tief in die 25er Lebens-jahre verstudieren konnte, um schliesslich im Schur-nalismus zu landen.// Benjamin von Wyl: 2 Deutschfehler im Text: “….jammern, dass deshalb ihre Häuser an Wert verlören“ = Konjunktiv bitte (Fehler, der keinem Welschen unterlaufen würde….) und 18.letzte Zeile > Sie meinen wohl “ ….in der NZZ wird eher wenig verbessert“, nicht: “…..redigiert“, denn ein Komma setzen oder nicht, ist eine (manchmal jaja stylistische) Korrektur. // Hören Sie mal, die NZZ abonniert nun mal der Normalbürger nicht, ich aber würde schon, aber, ich kann nicht alle interessanten Zeitungen beziehen, dazu fehlt auch die Zeit zum Lesen und verdauen und dann hocke ich ohnehin schon zu viel vor dem Kompi, um fb und Youtube zu konsumieren und danach selber Artikel zu schreiben, die niemand lesen will, weil sie wirklich realistisch sind, wie z.Z. betr. verquerer Kristdoktrin > ganz zu schweigen von derer ebenfalls morgenländischer Abschreibe-“religion“, die stellenweise wirklich echter = authentischer = nachvollziehbarer ist als erstere, darum bin ich seit 2017 auch GNOSTiKER geworden. // Scherrer solle noch ein paar Jahre bei seinen Konsumthemen-Leisten bleiben = weiterhin seichte Polit-Gebiete beackern, für tiefsinnigere ist er noch zu jung, um deeeen Schock zu erleben, den ich beim Hobby-Studium-lesen der 4 verqueren Evangelien 2017 der “Zwinglibibel von 1954“ erlebt habe! //Das Leben besteht aus Erfahrungs -> Reife-Phasen: Alles zu seiner Zeit, keine Etappen überspringen, damit das Gelernte auch wirklich sitzt, man notfalls noch anhalten und aussteigen kann. Denn danach ist es wie bei den “ewigen Gelübden“ zu spät > wäre man wirklich “gefallener Engel“, der nirgends mehr gefällt. Schön, wie deutsche Wortwahl zwei-, gar mehrdeutig sein kann. Usw. usf. André Dörflinger, ex-Kathole, jetzt Gnostiker jeden Tag mehr 26.6.19 in 3 Hauptlandesteilen gelebt > gearbeitet, zZ  mit 73 wieder im Welschland ansässig, um den Welschen in deren Sprache  die Welt zu erklären > Die Arbeit wird mir  n i e   ausgehen!

Benj von Wyl 26. Juni 2019, 09:33

Lieber Herr Dörflinger, Wenn Ihnen die Zeit für die NZZ fehlt, ist es umso schmeichelnder, dass Sie wiederum die Ruhe fanden, dieses Mammutporträt in der Medienwoche zu lesen. Zu Ihren Lektüreempfehlungen: Die Bibel hab ich mir zwei Mal gegeben, Altes & Neues Testament, sogar die Namensreihen in Chronik & Könige. Da war ich 12. Zum Glück hab ich mit 14 „Der Mensch in der Revolte“ gelesen. Das hat mich persönlich gerettet.

Einen schönen Tag

Benjamin von Wyl