von Peter Stäuber

Boris Johnson: Der ehemalige Journalist als Meister der Medienmanipulation

Der neue britische Premier heisst auch darum Boris Johnson, weil es der ehemalige Journalist aufs Vortrefflichste versteht, die Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu lenken. Seine Zugehörigkeit zur akademisch geprägten Elite Grossbritanniens öffnet ihm den Zugang zu Medien und Macht.

Boris Johnson ist ein Meister der «toten Katze». So nennt man im britischen Medienjargon ein plumpes Ablenkungsmanöver: Ein Politiker, dem die Berichterstattung über ein heikles oder schwieriges Thema zu schaffen macht, sagt etwas derart Kurioses oder Unverschämtes, dass die Medien über nichts anderes mehr sprechen können – wie eine tote Katze, die während des Abendessens mitten auf den Tisch geschmissen wird.

Diese Strategie machte sich Johnson kürzlich zunutze, als seine Kampagne für den Tory-Parteivorsitz ins Schleudern kam. Ein lauter Streit mit seiner Freundin dominierte die Schlagzeilen, der Kandidat geriet in Erklärungsnot und trat in Interviews defensiv und ausweichend auf – der künftige Regierungschef machte keine gute Figur.

Kurz darauf kauten die Medien jedoch auf einem ganz anderen Thema herum, einem, das für Johnson weit weniger verfänglich ist: Er hatte in einem Fernsehinterview erzählt, dass er gern aus alten Weinkisten Modelle von Autobussen bastelt, mitsamt gemalten Passagieren – «fröhlichen Passagieren», wie Johnson betonte. Von den verschiedenen Theorien, weshalb Johnson sich zu dieser bizarren – und wohl frei erfundenen – Offenbarung entschied, überzeugt jene der toten Katze am meisten, zumal Johnson vor einigen Jahren selbst auf die Effektivität dieses Manövers verwiesen hat.

Skandale und verbale Ausrutscher, die anderen Politikern das Karriereende besiegeln würden, werden Johnson kaum je zu einer wirklichen Gefahr.

Tatsächlich ergibt die Google-Suche nach den Worten «Boris Johnson» und «Bus» jetzt nicht mehr nur Treffer zum problematischen Brexit-Bus, auf den die «Leave»-Kampagne vor drei Jahren das nachweislich falsche Versprechen einer saftigen Geldspritze gedruckt hatte – heute enthalten die Suchresultate ebenso viele Einträge zu Johnsons angeblichem Hobby.

Johnson versteht die geschickte Manipulation der Medien ausgezeichnet. Das erklärt ein Stück weit, dass Skandale und verbale Ausrutscher, die anderen Politikern das Karriereende besiegeln würden, ihm kaum je zu einer wirklichen Gefahr werden können. Aber um zu verstehen, weshalb dieser Mann, der weder besonders sympathisch ist noch als Politiker viel geleistet hat, mit grosser Wahrscheinlichkeit zum nächsten Premierminister gewählt wird, muss man den Blick ausweiten, und zwar auf die Beziehung zwischen Johnson und dem Medien-Establishment.

Zunächst einmal ist der ehemalige Aussenminister aussergewöhnlich gut vernetzt: Er begann in den späten 1980er-Jahren als Brüssel-Korrespondent des «Daily Telegraph». Dort machte er vor allem mit hanebüchenen Räuberpistolen über die angeblichen Exzesse der EU-Bürokratie auf sich aufmerksam. Eine seiner Glossen hatte die Überschrift «Brüssel rekrutiert Schnüffler, um sicherzustellen, dass EU-Dünger gleich riechen». Heute schreibt er im rechtskonservativen Blatt eine wöchentliche Kolumne und hat so reichlich Platz, seine Ansichten unter die Leute zu bringen; dafür steckt er übrigens jährlich 275‘000 Pfund ein, oder umgerechnet annähernd sechs Franken pro Wort. Auch zum «Spectator», einem konservativen Wochenmagazin, als dessen Chefredakteur er von 1999 bis 2005 agierte, pflegt Johnson gute Beziehungen. Und schliesslich baute er sich als regelmässiger Gast in der BBC-Sendung «Have I Got News For You» ein öffentliches Profil auf.

«Wenn Boris Johnson den Raum betritt, ordnen sich die Moleküle neu, um Platz zu machen für die rohe Kraft der Persönlichkeit.»
Johnson-Fan-Prosa im «Telegraph»

Dazu kommt die Tatsache, dass der Grossteil der britischen Medien stramm rechts ist – und denen passt Johnsons politische Linie ganz gut. So hat der «Telegraph» zu Beginn des Wahlkampfs einen Artikel publiziert, der eine geradezu peinliche Anhimmelung zum Ausdruck bringt: «Wenn Boris Johnson den Raum betritt, ordnen sich die Moleküle neu, um Platz zu machen für die rohe Kraft der Persönlichkeit», liest man darin etwa. Der Londoner «Evening Standard», der Johnson bereits während seiner zwei Kandidaturen fürs Londoner Bürgermeisteramt unterstützte, hält ihm auch jetzt die Stange.

«Diese Unterstützung von Teilen der britischen Presse ist der grösste Unterschied zwischen Johnson und jemandem wie Jeremy Corbyn», sagt Tom Mills, Dozent für Soziologie an der Aston University und Autor eines Buches über die BBC. «Der Labour-Chef liegt jenseits des Spektrums, das die meisten britischen Medien für akzeptabel halten. Demgegenüber vertritt Johnson eine Politik, mit der ein Grossteil der Presse leben kann. Zwar verletzt Johnson gewisse liberale Normen, aber er tut dies mit einer überlegten Selbstdarstellung als tollpatschiger Engländer.»

Eine vermeintlich improvisierte Festrede, mit der Johnson den Saal zum Toben brachte, war aufs Genauste eingeübt.

«Boris», wie er in der Presse meist genannt wird, gibt den ungeschickten Entertainer: selbstironisch, umgänglich und stets etwas überfordert – eine Rolle, die er sorgfältig einstudiert hat. Ehemalige Helfer berichten etwa, wie er sich vor jedem Auftritt vor der Presse sein Haar zerzaust; und der BBC-Journalist Jeremy Vine hat festgestellt, dass eine vermeintlich improvisierte Festrede, mit der Johnson den Saal zum Toben brachte, aufs Genauste eingeübt war. Aber die Darbietung überzeugt viele, und so wird ihm manches verziehen, weil es zu Johnsons Rollenspiel passt. Rassistische und sexistische Aussagen, dreiste Falschaussagen oder schlichte Ignoranz, die anderen Politikern zum Verhängnis würden, werden bei Johnson mit einem müden Lächeln hingenommen: Da hat er es wieder getan, der freche Lümmel.

Aber – und dies ist der entscheidende Punkt – das funktioniert nur, weil Johnson dank seiner Herkunft eine breite Akzeptanz unter der Elite geniesst. Er stammt aus der oberen Mittelschicht – sein Vater war Ökonom, seine Mutter Künstlerin – und ist über die gleichen Stationen in die Politik gekommen wie ein Grossteil des Establishments: Teure Privatschule, dann Oxford. «Er hat denselben Hintergrund wie die führenden Leute in der Politik und in den Medien», sagt Mills. «Diese Leute sind sich vielleicht nicht in allen politischen Fragen einig, aber in Bezug auf ihre Ausbildung gibt es viele Übereinstimmungen. Besonders gilt das für die Führungspositionen bei der BBC und der seriösen Presse.»

Die Stiftung Sutton Trust hat kürzlich eine Studie publiziert, die zeigt, wie dominant privilegierte Britinnen und Briten in verschiedenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen sind. Zusammen mit der Politik und den Staatsbediensteten zählt der Mediensektor zu den exklusivsten Sektoren. Unter den Zeitungskolumnisten beispielsweise, die die nationale Konversation entscheidend beeinflussen, sind 44 Prozent auf eine Privatschule gegangen, 33 Prozent haben die Universitäten Oxford oder Cambridge besucht. Wenn man bedenkt, dass nur 7 Prozent der Bevölkerung solche Schulen absolvieren, und gerade mal 1 Prozent in Oxford oder Cambridge abschliessen, wird das arge Missverhältnis deutlich. Ähnlich sieht es aus bei der Ausbildung von Chefredaktoren und Programmleiterinnen bei Rundfunkanstalten.

Er strahlt jene «mühelose Überlegenheit» aus, die man an den britischen Eliteschulen lernt.

Die Gemeinsamkeiten in punkto sozialer Herkunft und Ausbildung haben zur Folge, dass jemand wie Johnson in den oberen Etagen der einschlägigen Medien mit viel mehr Respekt behandelt wird, als angesichts seiner persönlichen und politischen Defizite gerechtfertigt wäre. «Es heisst nicht, dass sie ihn mögen, aber sie teilen die Annahme, dass er die Art von Person ist, die die Fäden in der Hand haben soll», sagt Mills. Er strahle jene «mühelose Überlegenheit» aus, die man an den britischen Eliteschulen lernt – und die meinungsbildenden Medien finden das gut so.

Im vergangenen Sommer beispielsweise löste Johnson Entrüstung aus, als er muslimische Kopftuchträgerinnen mit Bankräubern und Briefkästen verglich; daraufhin standen Reporter stundenlang vor seinem Haus, um ihm eine Aussage abzugewinnen. Als Johnson vor die Tür trat, hatte er jedoch nichts zu sagen zu seiner xenophoben Provokation, offerierte aber den Journalisten höflich Tee, was diese ihm mit freundlichem Gelächter dankten. «Wenn man schon keine Fragen beantwortet, dann ist dies die stilvolle Art, es zu tun», twitterte der Korrespondent von ITV. Es gibt wenige Politiker, die ihren Kopf auf diese Weise aus der Schlinge ziehen könnten. «Wenn Corbyn versuchen würde, schwierigen Fragen aus dem Weg zu gehen, indem er eine Tasse Tee anbietet, würden sich Journalisten kaum entwaffnen lassen», sagt Mills.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein BBC-Interview, das der schottische Journalist Eddie Mair vor einigen Jahren mit Johnson führte. Schon während der Vorstellung seines Gesprächspartners, als Johnson im Hintergrund irgendetwas murmelt, weist Mair ihn schroff zurecht: «Hören Sie auf, mich zu unterbrechen!» Das Interview geht in dem Tonfall weiter: Der Journalist fragt offensiv, hakt stets nach und lässt sich von Johnsons Ausweichversuchen nicht beeindrucken. Bezeichnenderweise ist Mair kein Absolvent einer teuren Privatschule oder Eliteuni – vielleicht ist ein solcher Aussenseiter nötig, um Politiker wie Johnson dem erforderlichen prüfenden Blick zu unterziehen.

Ob die Medien Johnson verstärkt zur Rechenschaft ziehen, wenn er erst einmal in 10 Downing Street sitzt, bezweifelt Mills: «Eher das Gegenteil. Die BBC beispielsweise behandelt mächtige Leute sehr respektvoll – das haben wir bei Theresa May gesehen, der schlechtesten Premierministerin seit hundert Jahren. Möglich, dass die Medien einem Premierminister Johnson mit noch mehr Respekt begegnen als dem Kandidaten.»

Leserbeiträge

Lahor Jakrlin 09. Juli 2019, 16:36

Wäre Boris Johnson ein Linker, niemand würde es wagen, ihn einen „Medienmanipulator“ zu nennen. Und in der Tat ist er es auch nicht.

Boris Johnson war der bisher erfolgreichste und aussergewöhnlichste Mayor Londons, er hat die (einzige) Weltstadt Europas gestaltet. (Ich will hier nicht schreiben, was sein Nachfolger Sadiq Aman Khan dieser wunderbaren Stadt antut.)

Aber Boris Johnson ist der Prototyp des skurrilen Engländers, er hat den unbändigen typischen Humor und ein fantastisches Talent zur Ironie. Beides ist den meisten Journalisten suspekt, es sei denn es kommt aus rotgrüner Quelle.

Doch egal: Boris Johnson ist kein Linker, er ist ein klassischer Liberaler … und in GB sitzen Liberale bei den Tories. Zudem mag er die Bürokratie (und damit auch die EU) nicht. Er könnte zur «Maggie Thatcher 2.0» avancieren. Für Sozialisten ein Alptraum. Ergo wird er für den Medienmainstream zum Freiwild.

Sehr schade, denn von Boris Johnsons Freigeist können wir alle nur profitieren. Die Schweiz als EU-Aussenstehende erst recht.

Toni Koller 09. Juli 2019, 21:50

Nun ja, in erster Linie phantasiert und lügt dieser künftige Premier, dass sich die Balken biegen. Wem dessen Credo gefällt, der sieht das alles offenbar als  „Ironie“ oder „freigeistigen Humor“. Zum Glück werden wir vom sog. Medien-Mainstream korrekt ins Bild gesetzt.

Lahor Jakrlin 10. Juli 2019, 10:22

Die Linke hat republikanische oder bürgerlich liberale Thesen immer als Lügen bezeichnet.
Doch wohin die linken Wahrheiten (Corbyn zählt übrigens auch zu deren Trompeten) führen, zeigt uns die Geschichte seit Oktober 1917. Aktuell in Kuba, NK und Venezuela. Und schleichend mittlerweile in BRD und CH.

Persönlichkeiten wie Thatcher oder Johnson sind – am Beispiel GB – die einzigen Garanten, damit die «linksurbane» Beliebigkeit, wie sie jetzt via Klima- und Refugees Welcome-Aktivismus grassiert, einigermassen eingegrenzt wird und das Leben in Europa auch in Zukunft erträglich macht.

Boris Johnson ist eine äusserst geistreiche und erfrischend politisch unkorrekte Persönlihkeit. Ich hoffe für alle meine Freunde in GB, dass sie alles unternehmen, um ihn an die Spitze zu bringen.

Toni Koller 11. Juli 2019, 00:26

Die Linke bezeichnet republikanische oder bürgerlich-liberale Thesen keineswegs „immer als Lügen“. Eine absurde Behauptung, lieber Jahor! Manchmal allerdings empfinden Linke gewisse (wirtschafts)liberale Thesen als Irrtümer. Und sie liegen damit oft goldrichtig.

o aus h 10. Juli 2019, 10:35

Boris Johnson war der bisher erfolgreichste und aussergewöhnlichste Mayor Londons, er hat die (einzige) Weltstadt Europas gestaltet.

Meines Wissens war London schon locker ein paar Jährchen vor 2008 Weltstadt, es ist keineswegs erst durch Johnson gestaltet.

Lahor Jakrlin 10. Juli 2019, 11:57

Habe ich auch nicht behauptet, Herr/Frau „o aus h“.

Lesen bildet: Was ich hervorhebe ist, dass Boris Johnson ein Politiker ist, der die einzige wirkliche Weltstadt Europas zu gestalten vermochte.

Wer die Desaster und die Zunahme der Kriminalität und des muslimischen Kleinterrors in London seit Übernahme durch Sadiq Khan anschaut, wird das zu würdigen wissen.

Johnson ist brillant, geistreich, unabhängig. Eine Wohltat für GB (gerade in Zeiten des Brexit) und Europa.