von Felicie Notter

«Medien sind Geiseln von Ausnahmefällen»

Von 9/11 über den arabischen Frühling bis hin zur Burka-Diskussion: Professor Reinhard Schulze ist als Islamwissenschaftler ein beliebter Ansprechpartner der Medien. Er ordnet aktuelle Ereignisse in der Tagesschau ein, diskutiert im «Club» und gibt Zeitungen Interviews. Nach über zehn Jahren in der Öffentlichkeit kennt er das Geschäft – und damit die Grenzen seiner Zusammenarbeit mit den Medien.

Medienwoche: Herr Professor Schulze, Ihre Einschätzungen als Islam-Experte sind in den Medien gefragt. Kritiker beurteilen Ihre Warte aber als «islamfreundlich». Was ist Ihre Position?
Schulze: Meine Aufgabe als Islamwissenschaftler besteht darin, eben gerade kein politisches Urteil zu vermitteln. Es geht darum, mit rationalen Argumenten, den Informationsstand zu verbreitern und Falschinformationen zu korrigieren. Die Öffentlichkeit soll sich ihre Meinungen und Urteile auf einer gesunden Grundlage bilden können. Welche politischen Haltungen sich daraus ergeben, kann ein Wissenschaftler nicht steuern.

Sehen Sie sich als Gegengewicht zu einer zunehmend islamfeindlichen Stimmung?
In einem bestimmten Teil der Öffentlichkeit ja. Das sind rechts-konservative oder evangelikale Kreise – aber nicht nur. Auch im liberalen Milieu oder auf der politisch linken Seite gibt es Leute, die für sich beanspruchen, eine islamkritische Haltung artikulieren zu dürfen. Hier wird einem Islamfreundlichkeit unterstellt, nur weil man kein moralisches Urteil abgibt. Würde ich sagen, «die Muslimbrüder sind gefährlich», würde man mir das sicher nicht vorwerfen. Sage ich hingegen, «die Muslimbrüder sind als eine Organisation wertkonservativer Art zu verstehen, die in der ägyptischen Szene eine Art von sozialmoralischem Milieu gebildet haben» – dann wird man mir Verharmlosung unterstellen und die Aussage als typisch islamfreundlich werten.

Sie sagten einmal, Ihr Ziel sei es, den «Normalfall Islam» in den Vordergrund zu rücken.
Im Grunde sind wir in der Öffentlichkeit Geiseln von Ausnahmefällen. Die Medien fokussieren auf den Extremzustand. Sie skandalisieren ihn als Teil der Gesamtwelt – das ist nicht nur bei uns, sondern auch in der arabischen Welt so. Eine sehr prononcierte Position oder gar militante Aktion wird als repräsentativ interpretiert; so sehen sich die Protagonisten ja auch gerne selber. Mein Anliegen ist es, etwas dagegen zu steuern: Es gibt auch den Normalfall, und der ist genau so medienrelevant.

Was ist Ihre persönliche Motivation?
Ein komisches Gefühl von Gerechtigkeitsempfinden. Ich stelle mir immer vor, meine eigene Welt würde genau so skandalisiert wahrgenommen, wie wir die muslimische oder arabische Seite wahrnehmen. Da würde ich mich sehr schlecht fühlen.

Wo kennen Sie sich aus, zu welchen Themen äussern Sie sich nicht?
Ich habe in Saudi-Arabien, Ägypten, Syrien, Libanon und Irak gelebt und spreche ein Hocharabisch mit einem syrisch-ägyptischen Dialekteinschlag. Meine Kompetenz endet am Indus. Alles, was östlich davon liegt, ist für mich ein anderes Land.

Gibt es Medienanfragen, die Sie ablehnen?
Definitiv, es gibt für mich eine Grenze der Zusammenarbeit. Medien, die aus einem Problem einen Skandal machen wollen, stehen für mich nicht zur Diskussion. Mit denjenigen Medien, die von mir lediglich die Rolle eines Experten erwarten, kooperiere ich gerne.

Das klingt nach schlechten Erfahrungen.
Ich hatte eine Erfahrung mit dem «Blick», die war nicht so positiv. Es ging um eine Aussage, die sich auf eine Stelle im Koran bezog. Ich wurde dermassen falsch zitiert, dass ich mich selbst als jemanden, der die islamische Gewalt im Grunde befürwortet, wiederfand. Die Medien reduzieren ohnehin schon stark, aber das empfand ich als eine Katastrophe. Seither lehne ich alles ab, was für mich Skandalpresse ist, dazu gehört auch «20 Minuten».

Sie haben auch in anderen Zusammenhängen von einer zunehmenden Skandalisierung gesprochen. Betrifft sie auch andere Medien?
Im Grunde betrifft es inzwischen alle Medien. Offensichtlich wird der Nachrichtenwert davon abhängig gemacht, wie der Konsument eine Nachricht bewertet. Wenn er sie goutiert, dann ist es eine gute Nachricht – und umgekehrt. Der Skandal wird meist goutiert, wodurch der Skandal einen höheren Nachrichtenwert erhält als eine unspektakuläre Nachricht. Diese konsumorientierte Vermittlung führt zu einer Umstrukturierung der Nachrichten, vom Aufbau bis zum Inhalt.

Welche Medien präferieren Sie als Plattform für Ihre Botschaften?
Radio mache ich gerne. Da hat man etwas mehr Spielraum. Wenn der Gesprächspartner gut ist, kann man wirklich ein interessantes Gespräch führen. Da habe ich schon sehr gute Erfahrungen gemacht. Bei der Presse bin ich zurückhaltend, selber etwas zu schreiben. Die Journalisten haben eine andere Art, Dinge zu benennen und benutzen Bilder, die mir in meinem trockenen akademischen Geschäft nicht so zugänglich sind. Ich bin etwas neidisch, wenn Journalisten eine schöne Feder haben.

Sie wurden auch schon wohlwollend vom Islamischen Zentralrat zitiert.
Dass einen gewisse Gruppen als Kronzeugen zitieren, würde man manchmal gerne verhindern. Aber das ist in der Informationsgesellschaft, in der wir leben, gar nicht möglich. Damit muss man leben.

Haben Sie diese Rolle in der Öffentlichkeit gesucht?
Gewiss nicht, das war früher auch nicht Teil meines Selbstverständnisses. Allerdings hatte ich vor Beginn meiner akademischen Laufbahn überlegt, in den Journalismus zu gehen. Ich habe auch bei Zeitungen hospitiert, somit ist mir das Geschäft nicht ganz unbekannt. Aber ich hatte mir nie vorgestellt, dass meine akademische Tätigkeit mit einer Medienarbeit verbunden sein würde.

Wie ist es dazu gekommen?
In der Schweiz durch 9/11. Die Ratlosigkeit in der Schweizer Öffentlichkeit war damals gross. Zuvor beschränkten sich meine Einschätzungen auf einzelne arabische Länder, wenn es etwa um die Revolution im Iran ging. Dann aber wurde die Religion zum Thema, und die Fragen bezogen sich nun mehr und mehr auf den Islam.

Kommt es vor, dass Sie aktiv auf Medien zugehen, um ein Thema zu setzen oder eine neue Perspektive in eine Diskussion einzubringen?
In Einzelfällen versuche ich schon, die Aufmerksamkeit ein wenig zu steuern und zu sagen: «Schaut mal auch da hin.» Gerade nach 9/11 hatte ich das Gefühl, hier muss wieder der Normalfall gezeigt werden. Das war auch mein Einstand beim «Bund»: Es gab eine Sitzung mit der Redaktion, wo man darüber beratschlagt hat, wie man das Thema Islam angehen könnte. Daraus hat sich dann eine ganze Porträt-Serie ergeben von Muslimen, die in der Schweiz leben. Angesichts des Tagesgeschäfts an der Uni kommt das aber nicht oft vor.

Experten wollen differenzieren, Journalisten zuspitzen. Wie bewegen Sie sich in diesem Spannungsfeld?
Das ist eine ungeheuer schwere Aufgabe. (seufzt) Die Kommentare oder Antworten, die man etwa am TV zu liefern hat, müssen in kurzen Statements von zwanzig bis dreissig Sekunden abgegeben werden – und das bei Fragen, an die ich gerne erst einen Studenten für seine Masterarbeit ransetzen möchte. Dazu kommt der Wechsel von einer akademischen, wissenschaftlichen Sprache in eine Art Expertensprache. Die Herausforderung ist es, das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit nach einer klaren Antwort zu befriedigen und sich dabei nicht in seinem eigenen akademischen Ethos zu verletzen. Ich finde das ungeheuer schwer, auch heute noch.

Wie trainieren Sie für diesen Spagat?
Was die Mediensprache anbetrifft, bin ich Autodidakt. Aber wir üben das auch gezielt an der Uni: Die Studenten präsentieren ein Thema zunächst akademisch, und in einem zweiten Schritt nochmals für die Öffentlichkeit. Sie sollen erkennen, welche Differenzen es gibt, wo man verallgemeinern darf und wo nicht. Mit welchen Redestrategien sie das akademisch Richtige sagen können und trotzdem verständlich bleiben. Das Berufsfeld von Islamwissenschaftlern hat sich in letzter Zeit stark auf die Öffentlichkeit hin ausgerichtet.

Bei spektakulären Ereignissen erwarten die Medien von den Experten eine schnelle Einordnung. Nach den Anschlägen von 9/11 haben Sie sich Zeit ausbedungen, um sich zunächst selber über die Geschehnisse zu informieren. Zeigen die Medien dafür Verständnis?
Ich sagte damals dem Redaktor, ich hätte keine Ahnung, worum es geht. Da fragte er, ob ich denn in einer halben Stunde etwas sagen könne. Das ist ein wirklich schwieriger Punkt für uns Experten: Wir müssen von der Öffentlichkeit definierte Themen in relativ kurzer Zeit durcharbeiten, um darauf Antworten zu bringen. Ich bedinge mir manchmal eine Viertel- oder halbe Stunde aus. Inzwischen reicht das, es muss reichen. Gerade in Bezug auf Libyen oder Syrien gibt es manchmal sehr spezifische Fragen, sodass ich meine Kontakte vor Ort anrufe. Das ist aber im Moment etwas heikel, ein Telefonat nach Syrien ist nicht unproblematisch. Ich will meine Kontaktpersonen nicht gefährden.

Wie halten Sie sich auf dem Laufenden?
Inzwischen gehört Medienmonitoring zum Tagesgeschäft. Ich lese arabische Zeitungen, höre arabisches Radio. Hiesige Medien nehme ich weniger zur Kenntnis, sie bringen meist nur einen Kommentar zu dem, was die arabischen Medien produzieren. Es gibt wenig originelle westliche Informationen. Die Informationen sind zwar relativ schnell verfügbar, am schnellsten auf der Seite vom Schweizer Fernsehen. Aber es sind doch meist Reproduktionen von Informationen, meist von Al Jazeera.

Wie informieren Sie sich über hiesige Themen?
Dafür sind für mich die schweizerischen Medien natürlich sehr wichtig, gerade was schweizerische oder europäische Politik angeht. Ich lese den Tagesanzeiger und die NZZ, für lokale Berichterstattung den «Bund». Radio höre ich nicht. Fernsehen habe ich auch keinen.

Sehen Sie sich Ihre eigenen Auftritte an, lesen Sie Ihre Interviews?
Nein.

Sie haben auch schon negative Erfahrungen mit den Medien gemacht: Aufgrund falscher Filz-Vorwürfe der Weltwoche haben Sie auf eine Kandidatur als Vizerektor der Universität Bern verzichtet.
Meine Reaktion war nicht unmittelbar mit der Berichterstattung verknüpft. Aber ja, das ist leider so, dass dann auch die Person eine Rolle spielt und man angegriffen werden kann. Damit habe ich in meiner Naivität gar nicht gerechnet. In der Kampagne, die da gestartet wurde, war ich nur ein Teil in der Argumentation, daher hab ich das schnell weggesteckt. Aber natürlich, persönliche Angriffe sind erniedrigend.

Sie äussern sich zu einer grossen Vielfalt von Themen – mitunter auch innenpolitisch, etwa zur Minarett-Initiative oder zur Burka-Diskussion. Ist dies aus Sicht der Universität als öffentlichen Betrieb kein Problem?
Ich möchte in der Öffentlichkeit nicht als Vertreter der Universität wahrgenommen werden. Ich bin nichts anderes als einer von vielen Professoren, die auf Grundlage ihres Wissens etwas mitteilen. Das war auch eine Überlegung in Bezug auf das Rektorat: In dem Moment, wo man als Vizerektor amtiert, könnte die Expertenrolle gleichgesetzt werden mit der Rolle einer bestimmten Führungsposition in der Universität. Dies auseinanderzuhalten ist nicht unbedingt einfach – ich kann es, aber ob es die Öffentlichkeit kann, weiss ich nicht.

Und als Professor: Gibt es Uni-intern eine Weisung, wie weit Sie gehen dürfen?
Würde ich in einer Sendung meine eigene Meinung vortragen, müsste ich darauf achten, dass darunter bei meinem Namen nicht Universität Bern steht. Wenn ich hingegen als Experte zu einer Sachinformation befragt werde, finde ich es völlig korrekt, wenn der Verweis auf die Universität gemacht wird. Ich vertrete dann eine Information, die von mir als Angestellter der Universität Bern geschaffen worden ist.

Experten, die sich in den Medien äussern, riskieren in Akademikerkreisen als unseriös abgestempelt zu werden.
Es gibt den alten akademischen Ethos, unser Wissen nur für die Wissenschaft, also für unseren Zirkel zu produzieren. Alle Formen der Übersetzung, die man über die Medien verbreitet, werden als sinnlos oder gar als Verfälschung angesehen. Diese Ansicht gibt es schon. Die Reaktionen an der Universität sind aber positiv. Da habe ich auch mit meiner Arbeit als Dekan ein Gegengewicht aufgebaut, sodass klar war, dass ich mich nicht nur für die Medien, sondern auch für die Universität einsetze. Es gibt aber auch Grenzen – nicht alles, was wir akademisch verhandeln, betrifft auch die Öffentlichkeit. Es sind zwei Ebenen, die nicht unbedingt miteinander vermischt werden müssen.

Sie kommen aus Berlin, studierten in Bonn, waren Professor in Bochum und Bamberg. Was hält Sie an der Universität Bern?
Die Leichtigkeit des Seins. (lacht) Das akademische Dasein an einer schweizerischen Universität ist leicht: wenig Bürokratie, flache Hierarchien, gute Kollegialität. Die Konsenspolitik in den politischen Institutionen ist sehr hilfreich: Entscheidungen müssen zwar teilweise mühevoll erarbeitet werden, werden dann aber breit mitgetragen. Ich hatte verschiedene Möglichkeiten, an andere Universitäten zu gehen, aber mir gefällt es hier.

Was unterscheidet Sie von anderen Experten, etwa islamischen Fachpersonen wie Farhad Afshar?
Die armen Experten, die jetzt als Muslime in den Vordergrund gerückt werden. Herr Afshar ist eigentlich Soziologe, wird aber ständig als Muslim befragt. Er muss das Islamische fast apologetisch vertreten. Das heisst, er muss sehr stark moralisch bewerten – und das brauche ich nicht zu tun. Da habe ich einen grossen Vorteil. Ich muss nicht sagen, was ist gut und was ist schlecht. Ich kann nur sagen, was plausibel oder richtig, was unverständlich oder falsch ist.

Eine andere Klasse von Experten sind die Korrespondenten. Oft werden Sie zu ähnlichen Einschätzungen gebeten.
Je nach Aktualität eines Ereignisses ziehen Fernsehen und Radio Augenzeugen vor – zu Recht. Ich kann aus Bern diesen Augenzeugencharakter nicht garantieren. Schlecht finde ich, wenn die Medien mich mangels verfügbarer Korrespondenten doch dafür haben möchten. Ich will nicht als Pseudo-Augenzeuge fungieren, nur weil ich etwas auf Al-Arabiya im Fernsehen gesehen habe.

Die Konflikte in der arabischen Welt sowie das Verständnis zwischen den Kulturen hierzulande – beides wird nicht einfacher, sondern zunehmend angespannt. Frustriert Sie Ihr Forschungsgebiet manchmal?
Absolut. Das ist schon frustrierend, wenn sich eigene pessimistische Vorhersagen über soziale Prozesse bestätigen. Ich würde furchtbar gerne öfter von der Realität widerlegt werden. Gerade jetzt in Syrien, das Elend kann man sich gar nicht vorstellen. Manchmal wünschte ich mir, ich wär’ Astrophysiker.

Bild: Adrian Moser

Leserbeiträge

Muhammad Hanel 19. November 2012, 22:05

Prof. SCHULZE … zindabad!

Man darf druchaus manchmal etwas nach-denken und nach-forschen!
Vielleicht ist das für manch jemanden ein Weg, dem Brett vor dem Kopf aus dem Weg zu gehen?