von Peter Stäuber

Britische Medien in der winzigen Blase von Westminster

Journalisten in England treten im Umgang mit Labour-Chef Jeremy Corbyn nicht als Wachhunde der Demokratie auf, sondern als Kampfhunde. Selbst der als links geltende «Guardian» übt sich nicht eben in fairer Kritik am polarisierenden Parteichef. Corbyn setzt darum vermehrt auf Social Media – allerdings mit beschränktem Erfolg.

Ende Juni sass Labour-Chef Jeremy Corbyn in der Klemme. Das politische Erdbeben, das die Briten mit ihrem Votum für den Brexit ausgelöst hatten, bot seinen parteiinternen Gegnern die perfekte Gelegenheit, den ungeliebten Chef ein für allemal loszuwerden. In einer medienwirksamen Inszenierung traten 20 Mitglieder des Schattenkabinetts gestaffelt zurück, und am Dienstag nach dem Brexit versagten 80 Prozent der Fraktion ihrem Parteivorsitzenden das Vertrauen. Am darauffolgenden Tag berichtete der linksliberale Guardian von einem weiteren Schlag für Corbyn: Thomas Piketty, der renommierte französische Ökonom, habe seine Rolle als Berater der Labour-Führung aufgegeben, und zwar weil sich der Parteichef zu wenig enthusiastisch für den Verbleib in der EU eingesetzt habe.

Die Meldung passte bestens zur Gewitterstimmung, die die Medien verbreiteten, nur war sie falsch. Piketty war tatsächlich von seinem Posten als Berater zurückgetreten, aber die Entscheidung hatte nichts mit Corbyn oder seiner Politik zu tun, sondern mit dem vollen Stundenplan des Ökonomen: Genau das hatte er Corbyns Team bereits drei Wochen zuvor in einer E-Mail mitgeteilt – und dabei betont, dass er Corbyns politisches Projekt weiterhin unterstütze.

Am gleichen Tag, als sich der Guardian zu einer Richtigstellung gezwungen sah, berichtete die Zeitung in bester Boulevard-Manier von einer «kontroversen» Pressekonferenz, in der Corbyn «anscheinend die Regierung von Benjamin Netanjahu mit islamischen Extremisten verglich». Der Anlass war die Präsentation eines Untersuchungsberichts über Antisemitismus in der Labour-Partei, mit dem die Bürgerrechtsaktivistin Shami Chakrabarti beauftragt worden war. Der Parteichef hatte jedoch lediglich eine relativ banale Aussage etwas umständlich formuliert – wie im Video, das dem Artikel vorangestellt war, auch für die Reporterin hätte ersichtlich sein müssen: «Unsere jüdischen Freunde sind genauso wenig verantwortlich für das Handeln Israels oder der Regierung Netanjahu wie unsere muslimischen Freunde verantwortlich sind für das der selbsternannten islamischen Staaten oder Organisationen», sagte Corbyn. Chakrabarti selbst verurteilte die «bewusste Falschdarstellung» seiner Rede.

In der Berichterstattung über Jeremy Corbyn sind solche Verzerrungen keine Ausnahme. Locker lassen sich damit lange Listen erstellen. So fand das nicht eben im Sozialismus-Verdacht stehende Wirtschaftsportal Business Insider zahlreiche Belege für die «lächerlichsten Fehlinterpretationen» von Corbyns Aussagen oder Auftritten in britischen Medien. Das Verdrehen und Verzerren lässt sich auch wissenschaftlich belegen. Verschiedene Studien sind zum Schluss gekommen, dass die britischen Medien zu einseitig und negativ über den Labour-Vorsitzenden berichten. Die London School of Economics (LSE) untersuchte die Berichterstattung acht verschiedener Zeitungen im Zeitraum vom 1. September bis zum 1. November 2015. Ihr Fazit ist deutlich: Jeremy Corbyn wurde von der britischen Presse unfair behandelt, und zwar «durch einen Prozess der Verunglimpfung, der weit über die normalen Grenzen der fairen Debatte und der Meinungsverschiedenheiten in einer Demokratie hinausgeht.» So wurde den Stimmen, die Corbyn gegenüber kritisch waren, viel mehr Raum gegeben als seinen Anhängern, seine eigenen Ansichten kamen viel zu wenig zur Sprache, und er wurde systematisch verspottet und lächerlich gemacht. Linksliberale Publikationen wie der Guardian seien zwar weniger antagonistisch, aber auch hier würden dem Labour-Chef viel zu wenig Möglichkeiten geboten, seine eigene Meinung einzubringen. Kurzum: Die Journalisten traten in Bezug auf Corbyn nicht als Wachhunde der Demokratie auf, wie sie es eigentlich tun sollten, sondern als Kampfhunde.

Zu einem ähnlichen Schluss kam auch die Media Reform Coalition, die während der turbulenten zehntätigen Phase nach der Brexit-Abstimmung eine breite Auswahl von Fernsehberichten und Online-Medien unter die Lupe nahm. Zusammen mit der Universität Birkbeck analysierte sie 465 Online-Artikel sowie 40 Nachrichtensendungen, unter anderem jene der BBC. Die Akademiker stellten fest, dass dem Labour-Chef auch hier keine faire Behandlung zuteil wurde: Seine Kritiker erhielten doppelt so viel Sendezeit wie seine Anhänger, und insbesondere die Abendsendungen der BBC zeigten die Reporter eine Neigung, abwertend über Corbyn und seine Unterstützer zu sprechen.

In der Geschichte der britischen Politik sei eine solche Einseitigkeit einmalig, schreiben die Autorender LSE-Studie. Der Grund ist offensichtlich: Corbyn vertritt eine linkere Position als alle seiner Vorgänger seit den frühen 1980er-Jahren. Er ist nicht bloss ein dezenter Gegner kapitalistischer Exzesse, sondern lehnt das gesamte neoliberale Projekt, das in Grossbritannien und weiten Teilen der Welt seit vier Jahrzehnten verfolgt wird, vollumfänglich ab. Zudem setzt er sich für einseitige atomare Abrüstung ein, kritisiert die interventionistische britische Aussenpolitik und nimmt im Nahostkonflikt eine weit Israel-kritischere Haltung ein als das britische Establishment. Das Problem für Corbyn besteht darin, dass diese Ansichten für den Grossteil der Medien als töricht, unpatriotisch und gefährlich gelten – und wer sich mit den Medien anlegt, der hat in Grossbritannien einen schweren Stand.

«Die Presse hat einen enormen Einfluss auf die Politiker», sagt Julian Petley, Professor für Journalismus an der Brunel University. «Ihre Macht ist grösser als in anderen Ländern, unter anderem weil wir in Grossbritannien keine starke Regional- oder Lokalpresse haben.» Die Folge der Medienkonzentration in London sei, dass sich das Leben von Journalisten und Politikern in einer winzigen Blase in Westminster abspielt und das Gruppendenken gestärkt wird. Auch ist die Presse in Grossbritannien rechtslastiger als in den meisten westeuropäischen Ländern. Die drei grössten Verlage, die zusammen einen Marktanteil von knapp 65 Prozent haben, publizieren allesamt rechte Titel, darunter die Daily Mail, die Sun, die Times, und den Daily Telegraph.

In der Brexit-Debatte hätten viele konservative EU-Befürworter zum ersten Mal die geballte Propagandakraft der rechten Presse gespürt, meint Petley: «Erst als die Presse ihre Brexit-Kampagne startete, merkten sie, wie furchtbar und widerwärtig unsere Zeitungen tatsächlich sind.» Brian Cathcart, der an der Kingston University Journalismus lehrt und die Medienreform-Kampagne Hacked Off mitgründete, hält diese für eine Tatsache, die im Rest Europas viel zu wenig bekannt ist: «Etwas, das Leute ausserhalb Grossbritanniens nur kaum verstehen, ist das Ausmass, zu dem dieses Land – obwohl es eine gereifte Demokratie ist – ein Gefangener der rechten Presse ist.» Er beschreibt die britische Medienlandschaft als «Berlusconi ohne Huren».

In dieser Presselandschaft ist der Guardian am linken Rand anzusiedeln, aber er ist kaum mit linken Titeln in Kontinentaleuropa vergleichbar, etwa mit Libération oder der Taz. In vielerlei Hinsicht ist die Bezeichnung «liberal» treffender. Zwar kommt in den Spalten der Zeitung ein recht breites Spektrum linker Ansichten zur Sprache, aber insgesamt liegt Corbyns Politik ausserhalb der Komfortzone der Redaktion. Dass er von der Zeitung nicht frenetisch gefeiert wird, sollte also kaum erstaunen. Indes hat der Corbyn-kritische Journalismus des Guardian manchen langjährigen Leser dazu verleitet, das Abo zu kündigen.

Entsprechend stellt sich für den Labour-Chef die Frage, wie jemand, der von den Medien durchs Band verunglimpft und lächerlich gemacht wird, seine politischen Botschaften, Visionen und Überzeugungen unter die Leute bringen kann. Eine Möglichkeit wurde vor zwei Wochen von seinen Anhängern demonstriert: Mit dem Hashtag #WeAreHisMedia versuchten sie, auf sozialen Medien positive Nachrichten über Corbyn zu verbreiten und so die Massenmedien zu umgehen. Julian Petley hält solche Methoden für wichtig: «Soziale Medien sind sehr gut darin, die Lügen der Presse aufzudecken.» Ein Beispiel ist der oben erwähnte Fall Piketty: Das E-Mail, in dem er die Gründe für seine Resignation bekannt gab, wurde von der Ökonomin Ann Pettifor über Twitter veröffentlicht.

«Eine zweite Funktion ist die Verbreitung von Geschichten, die von der Mainstream-Presse ignoriert werden», fährt Petley fort. Im vergangenen September etwa, wenige Tage nachdem Corbyn zum Vorsitzenden gewählt worden war, echauffierte sich die konservative Presse, weil er nicht zum Eröffnungsspiel der Rugby-Weltmeisterschaft erschien – angeblich eine grobe Beleidigung des englischen Teams. Der Grund für seine Abwesenheit wurde wenig später auf Facebook gepostet: Corbyn hatte sich – wie jede Woche – mit Bürgern in seinem Wahlkreis getroffen und mit einer Anwohnerin über ihre Wohnungssituation gesprochen. Der Post wurde 20‘000 mal geteilt.

Dennoch ist die Wirkung sozialer Medien für Corbyn oder andere linke Politiker beschränkt, sagt Petley, und zwar weil der Einfluss, den Printmedien über Politiker ausüben, dadurch in keiner Weise beschränkt wird. Auch Brian Cathcart hält die Wirkung sozialer Medien für viel geringer, als sich viele Leute einbilden. Unter anderem kommt hier das Phänomen der Filterblase zum Tragen: User, die sich mit Gleichgesinnten austauschen, isolieren sich vor Meinungen, die sich nicht mit der eigenen decken.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass noch immer die überwältigende Mehrheit der Britinnen und Briten Nachrichten über traditionelle Quellen konsumieren, vor allem die BBC. Und das öffentlich-rechtliche Fernsehen wiederum lässt sich in der Berichterstattung weitgehend von den Printmedien leiten. Ein Blogger hingegen, der mit akribischer Recherche eine Falschdarstellung der Presse aufdeckt, wird von der BBC und anderen Medienorganisationen nicht als ein bedeutsamer Akteur in der Debatte angesehen. «Diese Person bleibt eine Stimme im Internet», sagt Cathcart. «Zu den nationalen Medien durchzubrechen, bleibt in Grossbritannien extrem schwierig.»

In Bezug auf die Medien bleiben die Aussichten für Corbyn also trüb. Eine ausgewogene Berichterstattung in den Massenmedien ist erst dann möglich, wenn sie demokratisiert werden: Das Oligopol der grossen Medienkonzerne müsste gebrochen, die Managementstruktur der BBC überholt werden. Zudem ist die Regulierung der Presse weiter zu stärken: Wer Falschmeldungen verbreitet, muss dafür geradestehen. Die derzeitige Regelung ist laut Cathcart ein «zahnloser Pudel», obwohl sie nach dem Abhörskandal der Murdoch-Zeitung «News of the World» Versuche gab, die Presseregulierung zu stärken. Die Sun beispielsweise wurde für ihre berüchtigte Schlagzeile «Queen backs Brexit» zur Rechenschaft gezogen, weil sie laut der Regulierungsbehörde irreführend war. Das Boulevardblatt druckte darauf zwar die Rüge ab, aber kurz darauf meinte der Chefredaktor, er sei sich nicht bewusst, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Und das war das Ende der Affäre.

Bild: Flickr/lewishamdreamer (CC BY-NC 2.0)

Leserbeiträge

Robert Scholz 14. August 2016, 10:22

Dieser Beitrag ist der beste in deutscher Sprache den ich bisher gelesen habe. Angesichts der Politisierung in GB versagen alle deutschen Qualitätsmedien, auch die ZEIT, die noch die besseren Beiträge publiziert.