Ente ist aus, Koch ist abgehauen
Unser Kolumnist erlebte im November 1989 die welthistorischen Umwälzungen als Reporter in der DDR hautnah. Für die «Schweizer Illustrierte» berichtete er aus Leipzig und Berlin – ganz ohne Internet und Laptop. Ereignisse von dieser Dimension liessen sich auch heute nur mit Reportagen verständlich erklären, findet Nik Niethammer.
«Die Mauer ist in gleissendes Scheinwerferlicht getaucht. Volkspolizisten haben Absperrgitter aufgestellt, versuchen die Menschenmassen abzudrängen. Ohne Erfolg. Die Menge stampft, johlt. Ein junger Mann hat eine Holzleiter mitgebracht, ist auf die Mauer gestiegen. ‹Sie kommen›, schreit er in die Nacht hinaus.»
So beginnt ein Text, den ich vor 25 Jahren für die «Schweizer Illustrierten» geschrieben habe. Er trägt den Titel «Freiheit!» Es sind meine persönlichen Aufzeichnungen einer historischen Nacht. Der Nacht, in der in Berlin die Mauer fiel.
«Mehr und mehr Leute versuchen, auf die Mauer zu klettern. Sie werden von Polizisten zurückgehalten. Auf der Westseite ertönen Klopfgeräusche. Jemand bearbeitet die Wand mit einem Hammer. Erst zaghaft, dann stärker. Die Menge wogt im Takt der Schläge. Eine Frau schlägt sich die Hände vor das Gesicht, weint hemmungslos. Die Schlaggeräusche verstummen wieder. Totenstille. Dann ertönen Pressluftbohrer. Zuerst einer, dann werden es mehr. Die Wand vibriert. Fotografen und Kameraleute stürzen nach vorn.»
Man nennt es Reporterglück. Auf der Redaktion war ein Kollege krank geworden, also bat mich Jörg Kachelmann, damals Nachrichtenchef der «Schweizer Illustrierten», die Ereignisse in der DDR im Auge zu behalten. Im Oktober 1989 reiste ich nach Leipzig und erlebte mit, wie Zehntausende Menschen nach dem wöchentlichen Friedensgebet in der Nikolaikirche durch das Zentrum zogen, «Jetzt oder nie, Demokratie» skandierten. Ich wurde in Ostberlin Zeuge, wie Polizei und Staatssicherheit mit Gewalt gegen Protestierende vorgingen. Und ich traf die Ikone der Protestbewegung, die ebenso faszinierende wie scheue Bärbel Bohley, Mitbegründerin des Neuen Forums, in ihrer kleinen Wohnung im Prenzlauer Berg. Vor hier aus führte sie den friedlichen Kampf gegen die SED-Diktatur.
«Dort, wo jemand «DDR» an die Wand gesprayt hat, bröckelt der Beton. Ein kleiner Riss wird sichtbar. Die, die zuvorderst stehen, werden beinahe erdrückt. Polizisten bringen sie in Sicherheit. Durch den Riss in der Mauer dringt ein feiner Lichtstrahl. Der Blick wird frei auf Baumaschinen, Lastwagen und Arbeiter in grauen Overalls. Wildfremde Menschen fallen sich in die Arme. Es ist Samstagmorgen, der 11. November 1989. Um 2 Uhr 47 wird in der Bernauerstrasse in Ost-Berlin die Mauer aufgebrochen.»
Zwei Tage zuvor, am Abend des 9. November, antwortete SED-Funktionär Günter Schabowski an einer Pressekonferenz in Berlin auf die Frage, wann die neue grosszügige Reiseregelung ins westliche Ausland für DDR-Bürger in Kraft trete, mit dem lapidaren, legendären Satz: «Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.» Heute würde diese Nachricht innerhalb von Sekunden durchs weltweite Netz rauschen, millionenfach in sozialen Netzwerken geteilt werden. Buzzfeed würde eine Liste posten: «15 Dinge, die sie über die Berliner Mauer noch nicht wussten.» Und die Heftig-Macher würden texten: «20 Bilder, die dir die Tränen in die Augen treiben, Nummer 11 hat uns umgehauen.» Aber damals? Twitter, Facebook, Instagram – Fehlanzeige. Internet? Noch ohne Bedeutung. Die ersten Meldungen von der Maueröffnung las ich auf dem Telex – am nächsten Morgen bestiegen Fotograf Charles Seiler die Maschine der PanAm nach Berlin-Tegel.
«Beim Übergang Invalidenstrasse stauen sich die Fahrzeuge kilometerlang. Viele haben ihre Autos einfach stehen lassen, strömen zu Fuss über die weisse Grenzlinie in den anderen Stadtteil. Dort bilden Zehntausende von Westberlinern eine Gasse, bespritzen die Ankömmlinge mit Champagner, beschenken sie mit Kuchen und Früchten. Die im Schritttempo fahrenden Trabis werden von Zuschauern durchgeschüttelt, mit den Händen trommeln sie auf die Fahrzeugdächer. Über Lautsprecher fordert ein Westberliner Polizist die Menge auf, «nicht so doll draufzuschlagen, weil die sonst kaputt gehen.»
«Gute Reportagen fangen die Zeit ein, sehr gute Reportagen frieren die Zeit ein, und wenn man sie auftaut, Jahre später, dann sind sie immer noch so wahr, wie sie waren, als sie geschrieben wurden.» Sagt Spiegel-Redaktor Cordt Schnibben. Ein hoher Anspruch. Wenn ich heute meinen Text von damals lese, sind die Bilder wieder da: Der junge Ostberliner, der mir freudestrahlend eine Dose Pal hinstreckt, die er von den 100 Mark Begrüssungsgeld für seinen Hund gekauft hat, «weil ich das vom Westfernsehen kenne.» Oder der Betreiber einer Peep-Show am Bahnhof-Zoo, der den Umsatz seines Lebens machte, «die Mädchen arbeiten nonstop». Unvergessen auch der junge Vietnamese am Potsdamer Platz, Betreiber eines kleinen Imbiss. Auf die Frage, ob wir eine Kleinigkeit essen können, schleudert er mir entgegen: «Ente ist aus, Koch ist abgehauen».
Nach 48 Stunden ohne Schlaf in einer Stadt im Ausnahmezustand flogen wir am Sonntagmittag nach Zürich zurück. Aufgewühlt. Völlig neben der Spur. Charles Seiler brachte seine Filmrollen ins Labor, ich ordnete meine Notizen – einen Laptop, auf dem man unterwegs oder im Flugzeug hätte schreiben können, gab es damals noch nicht – haute 15‘000 Anschläge in die Tasten und produzierte die zwölf Seiten starke Titelgeschichte. Um 17 Uhr verliess ein Kurier mit Text und Bildern die Dufourstrasse Richtung Druckerei in Zofingen. Und ich taumelte nach Hause, zu müde, um irgend etwas zu empfinden.
Warum ich das aufschreibe? Weil der Beruf des Reporters – Medienkrise hin oder her – noch immer der schönste der Welt ist. Und weil ich mir wünsche, dass gerade junge Journalistinnen und Journalisten das Handwerk der Reportage nicht verlernen: Also denn: geht raus. Kriecht in andere Menschen hinein. Werdet zum Entdecker. Erzählt Geschichten. Und hört auf, alles zu ergoogeln.