Eine Redaktion, die nicht mehr schreiben will
Weil man bisher zu wenig Zeit zum Schreiben gehabt habe, will «Das Magazin»-Chefredaktor Finn Canonica künftig gar nicht mehr schreiben und mit einer Mini-Redaktion nur noch Fremdbeiträge redigieren. Canonica verweist auf namhafte Magazine, die so funktionierten. Doch der Entscheid stösst auch auf Unverständnis.
Die beiden ersten Sätze, die der Chefredaktor der Samstagsbeilage «Das Magazin», Finn Canonica, im Persoenlich.com-Interview, das die kürzlichen Veränderungen in der Redaktion zum Thema hatte, waren diese:
«Bisher war die Redaktion des ‹Magazin› eine schreibende Redaktion. Wir verbrachten einen grossen Teil unserer Zeit mit dem Schreiben von eigenen Geschichten.»
Wir? Wer in der Schweizer Mediendatenbank SMD nach den Texten von Canonica sucht, findet vor allem Editorials. In etwa zwei Absätzen und etwas mehr als 1000 Zeichen fasst Canonica jede Woche zusammen, was sein Team erarbeitet hat – eine Aufgabe, die ersatzweise sicher auch der Redaktionspraktikant erledigen könnte. Müsterchen: «Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern schöne Sommerferien. PS: Wer Heimweh hat, findet Trost auf blog.dasmagazin.ch.» Das letzte Werk, das Canonica alleine zeichnete, also nicht in Zusammenarbeit mit anderen, war in der Ausgabe vom 7. Juli 2012 zu finden. «Der legendäre Stil von Beda», ein kurzes Interview mit und ein kurzes Textchen über den Zürcher Kreativdirektor Beda Achermann: «Achermann isst übrigens ein Tellerchen Cima di Rapa, banalen, sautierten Cima di Rapa. Das allein ist nicht berichtenswert, wäre da nicht diese mitreissende Freude am banalen Cima-di-Rapa-Verzehren, der Mann macht ein Gesicht, als wäre ihm soeben der beste Cima di Rapa der Welt serviert worden.» Sollte jemand nicht auf Anhieb wissen, was Cima di Rapa ist: Stängelkohl / Rübstiel.
Nun aber sind Canonica und seine eigene Geschichten schreibenden Mitstreiter in akuter Zeitnot:
«Das System der schreibenden Redakteure, das etwa zehn Jahre alt ist, hat dazu geführt, dass uns für diese redaktionelle Arbeit nicht mehr genügend Zeit zur Verfügung stand. Jetzt stellen wir die Redaktion um, arbeiten künftig mit einem System, wie es bei angelsächsischen Magazinen wie zum Beispiel dem ‹New York Times Magazine› oder ‹The New Yorker› schon lange gäbe ist: Eine kleine Gruppe von Redakteuren kümmert sich ausschliesslich um Themenzusammensetzung, Qualität der Texte und Autorenbetreuung. Diese Redakteure schreiben selbst keine langen Texte.»
Die «Magazin»-Redaktoren kommen nun also, weil sie sich ständig konzeptuelle und qualitative Gedanken machen und sich um Autoren kümmern müssen, nicht mehr zum Schreiben? «Das System der schreibenden Redakteure» soll abgelöst werden durch ein System von nicht-schreibenden Redakteuren? Vielleicht bin ich etwas naiv. Aber ist Schreiben nicht das, was von Journalisten, die für Textmedien arbeiten, in erster Linie erwartet wird? Ist es nicht fragwürdig, dass festangestellte Journalisten je länger, je weniger das tun, wofür sie angestellt sind, nämlich schreiben? Zu reden geben muss auch die Bezahlung: Denn während ihre Löhne auf teils hohem Niveau stagnieren, erhalten jene, die ausserhalb der Redaktionen tatsächlich für die Texte sorgen, immer weniger. Zu wenig, um zu überleben. Ein freier Mitarbeiter des NZZ-Feuilletons beispielsweise müsste, um auf einen Monatslohn von 7000 Franken zu kommen, 50 Artikel à 140 Franken und 6000 Zeichen schreiben, also etwa jeden Tag eine ganze Zeitungsseite.
Ein gemässigter Bearbeitungsprozess ist Usus im Journalismus und auch durchaus sinnvoll. Da «Das Magazin» nicht nur gute, sondern exzellente Texte liefern will, ist es nachvollziehbar, dass viel in die Bearbeitung investiert wird. Doch ist es der richtige Weg, noch mehr zu bearbeiten und selbst gar nichts mehr zu schreiben? Noch mehr Geschichten aus den einschlägigen US-Magazinen einzukaufen und übersetzen zu lassen? Womöglich wären auch die Gedichte von Rainer Maria Rilke noch besser geworden, wenn sie von «Magazin»-Redaktoren gegengelesen worden wären. Viel eher aber gibt es den perfekten Text nicht, sondern nur Annäherungen daran. Zu viele Köche verderben jedes Gericht. Selbst eine Bolognese-Sauce muss nicht wochenlang köcheln, um gut zu werden.
Ich glaube, dass Journalisten, die schreiben können, das einfach tun sollten. Nicht Zeit in Sitzungen verschwenden. Nicht das Authentische an Texten vernichten. Nicht sich in Themenzusammensetzungsfindungsprozessen verlieren. Um ehrlich zu sein: Ich hätte sogar etwas Angst, Texte von mir in die Umschreibmaschinerie des «Magazins» zu geben – könnte ich danach noch mit meinem Namen dazu stehen? Es bleibt der Verdacht, dass Journalisten, die sich fast ganz auf das Bearbeiten und Beurteilen von anderen Texten verlegen, gar nicht schreiben können. Zu faul sind dazu. Oder nichts zu sagen haben. Vielleicht sollten gerade sie zuerst eingespart werden – und das freigewordene Geld wieder vermehrt an die tatsächlichen Urheber der Texte ausbezahlt werden. Also zum Beispiel an «Michael Hugentobler, Paula Scheidt, Thomas Zaugg oder Joel Bedetti», in denen Canonica eine neue Generation von Edelfedern sieht.
Als freier Journalist verstört mich die Entscheidung, und auch im Mutterblatt Tages-Anzeiger löst sie Unverständnis aus:
Aber Hauptsache die (Rest)Magazin-Redaktion denkt noch länger und intensiver über Themen nach.
— Michèle Binswanger (@mbinswanger) January 24, 2015
So, so: @finncanonica will noch „länger über Themen nachdenken“. Irgendwann schläft man dabei ein. http://t.co/7B8lJEHqpJ — Marc Brupbacher (@MarcBrup) January 20, 2015
Neben der Redaktion des «NZZ Folio» war die «Magazin»-Redaktion privilegiert wie kaum eine andere in der Schweiz. Eigentlich müsste es in der Schweizer Öffentlichkeit mindestens jeden Monat einmal eine grosse Diskussion geben um Texte, die dort publiziert wurden – doch das war zuletzt unter der Führung von Roger Köppel der Fall. Unter Canonica hat sich «Das Magazin» den Werbebeilagen angeglichen und behandelt, ganz im Sinne von Tamedia, vornehmlich Luxusprobleme und Luxusprodukte, angereichert mit Kolumnen. Mit dem 1970 gegründeten Urprodukt hat es nur noch teilweise etwas zu tun.
«Was mache ich hier eigentlich, ausser in Meetings zu sitzen?», fragte sich Peter Hogenkamp während seiner Zeit bei der NZZ, und das ist die Frage, die sich alle Mitarbeiter in grösseren Unternehmen fragen müssen. Denn im Verwaltungsprozess gehen auch gefeierte Journalisten unter. Der letzte nicht-konzeptuelle Text des Journalist des Jahres 2012, Peer Teuwsen, früher beim «Magazin» und aktuell im Dienste der NZZ als Entwickler publizistischer Produkte, wurde in der «Aargauer Zeitung» veröffentlicht, über den Schulweg seiner Kinder. Sind Chefs, die selbst nicht schreiben, noch Journalisten? Haben Redaktionsmitglieder Respekt vor nichtschreibenden Chefs? Patrik Müller, Christian Dorer, René Lüchinger, Markus Somm und Roger Köppel beweisen, dass es auch anders geht.
Rafaela Roth 26. Januar 2015, 09:53
«In etwa zwei Absätzen und etwas mehr als 1000 Zeichen fasst Canonica jede Woche zusammen, was sein Team erarbeitet hat – eine Aufgabe, die ersatzweise sicher auch die Redaktionspraktikantin erledigen könnte.» –
Warum wird jetzt gerade in diesem Fall die weibliche Form von «Praktikant» gewählt? Während im Rest vom Artikel ausschliesslich männliche Formen verwendet werden? tsss… erwischt!
Ronnie Grob 26. Januar 2015, 16:30
Ja, erwischt. Es gibt keinen Grund, hier von einer Praktikantin zu schreiben. Ich wollte es beim Durchlesen noch in die männliche Form ändern, hab es dann aber vergessen. Ist hiermit nachgeholt.
Philippe Wampfler 26. Januar 2015, 10:01
Finde, so polar kann man das nicht beurteilen: Themenfokus und redaktionelle Bearbeitung von Texten kann enorme Wirkung haben. Nur ist diese Arbeit selten erkennbar. Finde deshalb den Vorwurf gewichtiger, das Magazin könne kaum gesellschaftlich relevante Themen bearbeiten, als die Norm, dass Journalistinnen und Journalisten auch schreiben solten.
Annabelle Huber 26. Januar 2015, 10:11
Tja, die Zeiten ändern sich. Das Managen verdrängt traditionelle Berufsvorstellungen. In Deutschland sind wir laut einem Bericht der Süddeutschen soweit, dass Chirurgische Chefärzte teillweise gar nicht mehr operieren können, sie sind da zum Managen. Die Bevölkerung darf nicht darüber aufgeklärt werden, wer diese Chefärzte konkret sind, wohl weil sie dieser Entwicklung nachhinkt und ihre traditionellen Vorstellungen – Vorurteile ?- die Umsätze in den entsprechenden Kliniken mindern könnten. Und Vassella von Novartis hatte ja auch verkündet, der Konzern wolle in Zukunft lieber Forschung einkaufen, statt selber zu forschen.Viele Eltern erziehen ihre Kinder auch nicht mehr selber, sie managen deren Erziehung, überlassen diese Aufgabe Krippen, Lehrern, Sozialtherapeuten ..Da ist der Entscheid des Magazins, nicht mehr selber zu schreiben, ein zeitgemässer. Die Zeiten ändern sich. Manage sich wer kann.
Ronnie Grob 26. Januar 2015, 16:28
Nicht zu vergessen die Coaches der Managenden. Und deren Coaches.
bugsierer 26. Januar 2015, 10:56
wenn der herr chefredaktor nur noch redigiert – geschenkt. aber der binswanger…?
Valentin Kimstedt 26. Januar 2015, 14:33
Das NZZ Feuilleton zahlt 140 Franken für 6000 Zeichen? Das glaube ich nicht.
Ansonsten: sehr schöner Beitrag!
Ronnie Grob 26. Januar 2015, 16:24
Ist aber leider so. Mehr dazu hier:
medienwoche.ch/2014/09/30/das-geld-reicht-nicht-fuer-alle/
Stefan Millius 26. Januar 2015, 17:55
Ich schenke der Frau Binswanger ein Komma für ihren Twitter-Account. Achtung, hier:
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Das kann man fallweise einsetzen, ohne lang und intensiv nachzudenken. Einfach dort reinstellen, wo es hingehört.
Clyde Burke 27. Januar 2015, 06:46
Das ist wie eine Beiz, die nicht mehr kocht, sondern den Food bei McDonald einholt.
Astrid-Vera Schaffner 27. Januar 2015, 10:03
Als langjährige Leserin kommt mir spontan auch kein Beitrag von Herrn Canonica in den Sinn – ich kann mich im Zusammenhang mit seinem Namen nur an eine „Layout“-Anpassung erinnern – die er nach schlechter Leser/innen-Resonanz in der nächsten Ausgabe als „Test“ oder so ähnlich abtat. Sonst ist in all den Jahren irgendwie nichts (bei mir) haften geblieben …
Ein Vorschlag: Übernehmen Sie das „Magazin“, Herr Grob – ich habe den leichten Verdacht, dass es danach schwer aufwärts ginge …
Carl Just 27. Januar 2015, 12:23
Ausgerechnet Patrik Müller hier als gutes Beispiel für selber schreibende Chefs anzuführen, war jetzt vielleicht etwas unglücklich… Von dem gab es doch in jüngerer Zeit Texte, die wir lieber nicht gelesen hätten…. bzw. die er im Nachhinein lieber nicht geschrieben hätte….
Peter Knechtli 31. Januar 2015, 14:57
Ich bitte Redaktorinnen und Redaktoren sowie Freie Medienschaffende, mir hier mitzuteilen, welche Tagesansätze die Medien an Freie Journalisen zahlen. Danke!
Ronnie Grob 31. Januar 2015, 15:25
Tagesansätze? Ich habe bisher nur immer Geld für Storys erhalten, und da war je nach Medium und Grösse der Geschichte ab 50 Franken schon fast alles dabei. 140 Franken für 6000 Zeichen, wie das das NZZ-Feuilleton zahlt, finde ich jedenfalls eindeutig zu wenig – hier stimmen die Verhältnisse zwischen den Angestellten-Löhnen und den Freien-Löhnen nicht. Interessant ist übrigens auch, was Praktikanten verdienen: http://waspraktikantenverdienen.tumblr.com/.
Marianna Truttmann 31. Januar 2015, 16:02
Auf die Idee zu kommen, rund ein Dutzend dazu zu bringen, ihre Wochenendaktitivitäten aufzuschreiben, darauf zu achten, dass genügend Links für Konsummöglichkeiten geschaffen werden, die Texte dann einfach aneinanderzureihen und damit das zu füllen, stelle ich mir ungeheuer anstrengend vor ….Da bleibt wohl keine Zeit mehr zum Schreiben von eigenen Artikeln und den Lesern und Leserinnen am Wochenende im Gegenzug mehr Zeit für eigene Aktivitäten. Schade, dass anregende Beiträge immer seltener werden.