«Der Sport hat nichts Politisches»
Seit zehn Jahren ist Stefan Osterhaus Sportkorrespondent der NZZ in Deutschland. Im MEDIENWOCHE-Interview spricht der Bundesliga-Fachmann über seine Lieblingsspieler, über Sepp Blatter und die Fifa und über den Fussball als Pseudowissenschaft und Unterhaltungsindustrie.
Ich treffe Stefan Osterhaus abends in einer Pizzeria in Berlin Neukölln. Osterhaus, grossgewachsen und mit sonorer Stimme, sieht etwas aus wie eine Kreuzung zwischen Ulli Potofski und Kai Diekmann. Er formuliert mit grosser Mühelosigkeit und bringt auch noch die kompliziertesten Sätze korrekt zu ihrem Ende. Seine geschriebenen Texte fallen auf, weil sie nicht nur sprachlich elegant daherkommen, sondern auch auf ein grosses Hintergrundwissen schliessen lassen. Besonders gelungen sind die von ihm verfassten Porträts von Fussballspielern. Hier einige zur Auswahl:
«Franz Beckenbauer wird 70: Die Freiheit nahm er sich»
(11. September 2015)
«Der Schlüsselspieler Arjen Robben: Narziss und Goldschuh»
(5. Juli 2014)
«Jürgen Klopp, der Narziss und Vollmund»
(23. November 2013)
«Jupp Heynckes – eine Würdigung: Don Osram strahlte nie heller»
(22. Mai 2013)
Sie sind von Berlin aus für die NZZ tätig. Wie arbeiten Sie, wenn zum Beispiel an einem Dienstagabend ein Champions-League-Spiel mit Verlängerung ansteht und am Mittwoch ein Spielbericht in der NZZ stehen muss?
Bei grossen Spielen wenn möglich immer im Stadion auf der Pressetribüne, und da bedeutet Verlängerung, dass nur noch wenige Augenblicke nach dem Schlusspfiff bleiben, um den Text fertig zustellen. Manchmal sind wir auch aufmerksame Zuschauer am TV. Ich versuche, wenigstens jedes zweite Wochenende im Stadion zu sein, einfach auch, um Mannschaften besser einschätzen zu können. Wie verteidigt Mannschaft X, wie greift Mannschaft Y an – das sieht man nur im Stadion.
In den Medien werden die Offensivspieler oft viel stärker wahrgenommen als die Defensivspieler – warum?
Die Wertschätzung der Defensivspieler ist letzten Jahren grösser geworden. Aber es ist eben sehr viel schwieriger, die Qualitäten eines Defensivspielers zu erkennen. Man muss dazu konzentriert zuschauen, denn das Zulaufen einer Lücke zur Verhinderung eines Passes oder einer Chance ist eben sehr unspektakulär. Wahrgenommen vom Defensivpersonal der Bundesliga wurde in den letzten Jahren vor allem Mats Hummels von Borussia Dortmund, ein lässiger, aber auch spektakulärer Defensivspieler, der schon mal mit einem 40-Meter-Pass die Offensive in Szene setzt. So einer kann besser aussehen als ein Verteidiger ohne Offensivdrang. Jerome Boateng von den Bayern, für mich der beste Abwehrspieler der Gegenwart, wurde von den Medien erst richtig gefeiert, nachdem er mit zwei langen Pässen ein Spiel gegen Borussia Dortmund entscheiden konnte.
Wie sind Sie zum Spezialgebiet Bundesliga gekommen?
Bis 2005 war ich Redaktor bei der Berliner Zeitung. Dann wechselte mein Vorgänger Martin Hägele in die Auslandvermarktung des FC Bayern München. So wurde ich sein Nachfolger.
Sie schreiben seit 1997 für die NZZ über Sport. Und seit zehn Jahren über die Bundesliga, als Sportkorrespondent der NZZ in Deutschland. Ist Ihnen noch nie öde geworden dabei?
Nein, der Fussball von 2005 ist ein anderer als der von 2016. Die Entwicklung des Spiels ist interessant genug, dass es einem kaum langweilig werden kann. Natürlich gibt es auch altbekannte Rituale wie Trainerwechsel: Erst das Dementi, dann das Aussprechen der Nibelungentreue, am Ende der Dolchstoss.
Ist die Bundesliga nicht so etwas wie die Lindenstrasse für Männer, also eine Art Soap-Opera mit vielen altbekannten Darstellern, die gemeinsam Woche für Woche an der Fortsetzung eines Dramas stricken?
Die Bundesliga scheint vor allem durch die Erfolge des deutschen Nationalteams für Frauen interessanter geworden zu sein, jedenfalls sehe ich mehr Frauen im Stadion. Generell halte ich viel davon, die Bundesliga nicht nur als Sport zu begreifen, sondern auch als Teil der Unterhaltungs-, also auch der Kulturindustrie. Der Fussball erfüllt hier alle wesentliche Merkmale, wenn Sie so wollen eine Soap mit Wettbewerbscharakter.
Wie wahren Sie die Distanz zu den Objekten der Berichterstattung?
Wenn man ihre Aussagen und Handlungen hinterfragt, wird zwangsläufig eine Distanz hergestellt: Vor kurzem etwa erzählte der Dortmunder Trainer Thomas Tuchel, er hätte sich überlegt, seinen Spieler Mats Hummels nun doch aufzustellen im letzten Bundesligaspiel, und das, obwohl er es eigentlich wollte – damit nicht eine Diskussion über die Fehler von Hummels entsteht. Sowas ist Dialektik für Fortgeschrittene.
Melden sich auch mal Fussballer, die nicht zufrieden sind mit der Berichterstattung?
Jürgen Klopp beispielsweise hat Journalisten sowohl in Mainz als auch in Dortmund immer sehr unmittelbar Feedback gegeben, und das auch nicht immer freundlich, was ich sehr erfrischend finde. Mit ihm war es ein Geben und Nehmen, von dem beide Seiten profitiert haben. Die Wahrscheinlichkeit einer Rückmeldung ist dann am grössten, wenn man etwas schreibt, das sich deutlich von der Mehrheitsmeinung abhebt. Für die Spieler spielt Print heute nicht mehr so eine grosse Rolle. Sie versuchen vor allem über Twitter, ihre Interessen zu lancieren.
Wie unterscheidet sich die NZZ von anderen Zeitungen?
Sie gibt einem den Rahmen, auch mal ins Detail gehen zu können – ich empfinde das als Privileg. Im Gegensatz zu deutschen Zeitungen kann sie in vielen Fragen, die den deutschen Fussball betreffen, zurückgelehnter sein.
Ein Porträt über Arjen Robben begannen Sie mal mit den Worten: «Aus der Ferne sieht er ein wenig mechanisch aus. Seine Arme sind angewinkelt, sie wirken wie die Pleuelstange einer Dampflokomotive, die gerade Fahrt aufnimmt. Andere erinnert er an Soldaten, die im Stechschritt marschieren, wenn er über das Feld eilt.»
Robben ist kein eleganter, aber ein technisch sehr beschlagener, effizienter, in seiner Art soldatisch wirkender Spieler. Er wirkt mechanisch, aber ein Arbeiter ist er nicht, dazu ist er viel zu kreativ. Ein Arbeiter ist etwa Javi Martinez, ein Defensivspieler der Bayern. Robbens technische Möglichkeiten sind riesig. Bei ihm hat man immer das Gefühl, es könnte jederzeit etwas aus seinem Körper herausbrechen, das noch grossartiger ist. Für mich war er bei der WM 2014 der beste Spieler überhaupt.
Haben Sie einen Lieblingsverein?
Ich habe zwar gewisse, aus der Jugend stammende Sympathien für Borussia Mönchengladbach, aber ich bin weit entfernt davon, mich als Fan irgendeiner Mannschaft zu bezeichnen. Ich bin ein Liebhaber des Spiels, nicht eines bestimmten Vereins.
Und einen Lieblingsspieler?
Mein Lieblingsspieler der Gegenwart ist der defensive Mittelfeldspieler Sergio Busquets vom FC Barcelona, ein Stratege, wie ich ihn bisher nicht gesehen habe. Er ist unglaublich effektiv und beherrscht das Pass- und Stellungsspiel sowie die Organisation einer Mannschaft wie kein anderer. Der spanische Nationaltrainer Vicente del Bosque hat einmal gesagt: «Wenn ich wieder auf die Welt komme als Fussballer, dann möchte ich Sergio Busquets sein.» Unter den Spielgestaltern gefällt mir auch Toni Kroos, der in Deutschland lange verkannt wurde: «Der macht sich nicht schmutzig», sagte man über ihn. Warum sollte er auch? Er ist ein eleganter, intelligenter Spieler, der muss nicht den Platz umpflügen. Ganz vorne mag ich die Leichtigkeit von Neymar, der oft wie eine Feder auf dem Platz zu schweben scheint – ihm zuzusehen ist ein ästhetisches Vergnügen. Als Torhüter muss man Manuel Neuer nennen, der das Torwartspiel auf eine gewisse Weise neu erfunden hat.
Und wenn Sie etwas weiter zurückblicken?
Die Leichtigkeit von Franz Beckenbauer ist unerreicht. Seine Art, das ganze Leben mit dem Aussenrist zu spielen, hat mich immer beeindruckt. Die Lässigkeit, mit der er gegnerische Angriffe abfing, und auch seine Körperlosigkeit – das hat es danach nie wieder gegeben. Auch er war einer, der sich nie schmutzig gemacht hat und es immer verstanden hat, sich ein Milieu zu schaffen, das ihm die Unannehmlichkeiten vom Leibe hielt. Seine Lebenstüchtigkeit besteht darin, zu wissen, auf wen er sich verlassen kann. Und dann natürlich Günter Netzer, der im direkten Vergleich mehr von seiner Athletik lebte. Er hatte ein grosses Gespür für Theatralik, zelebrierte seine Freistösse. Und er konnte im deutschen Fussball etwas die Fassade der Biederkeit aufbrechen: Einen Fussballer, der Ferrari fuhr und eine Disco in Mönchengladbach besass, hatte es zuvor nicht gegeben. Bemerkenswert ist, dass diese beiden EM-Sieger von 1972 nun auch im Zuge des Skandal um WM-Vergabe an Deutschland genannt wurden: Der eine, Netzer, spielt den Chauffeur für die Granden vom Organisationskomitee, der andere unterschreibt blanko alles, was man ihm vorlegt.
Waren die Enthüllungen rund die WM-Vergabe nach Deutschland für Sie überraschend?
Überhaupt nicht. Ich wundere mich eher darüber, dass so viele geglaubt haben, dass die WM-Vergabe nach Deutschland ganz anders abgelaufen sein soll als WM-Vergaben davor. Die Diskussion dazu in den Medien fand ich etwas hysterisch, eine Art Selbstgeisselung: Jetzt soll das «Sommermärchen» plötzlich entwertet worden sein? Wer damals begeistert war, dessen Erinnerung ist doch nicht getrübt, wenn er nun weiss, dass irgendwelches Geld auf irgendwelche Konten geflossen ist. Wohin, das wissen wir ja immer noch nicht. Aber man darf nicht vergessen, dass die WM 2006 für die Deutschen weit über den Fussball hinaus sehr wichtig war. Die Sonne schien über sechs Wochen, Deutschland wurde von der Welt als ein guter Gastgeber wahrgenommen, alles schien prima. Keine Imagekampagne, wäre sie auch noch so teuer gewesen, hätte bewerkstelligen können, was diese Weltmeisterschaft für das Land erreicht hat.
Wie nehmen Sie den kürzlich suspendierten Fifa-Präsidenten Sepp Blatter wahr? Er hat ja den Fussball von einer Kirchenmaus zu einem Milliardär gemacht, was durchaus auch viele positive Auswirkungen hatte.
Die Verdienste der Fifa und von Sepp Blatter sind in den Diskussionen dazu immer untergegangen, was ich ein wenig ungerecht finde. Natürlich kommt es in so einer grossen Organisation immer auch zu Reibungen und auch zu Unsauberkeiten. Viele glauben ja, die Fifa sei eine multinationale Organisation mit über 200 weisungsgebundenen Dependancen. Doch das sind sie nicht: Es sind autonome Nationalverbände, die ein Eigenleben führen. Wir sehen das doch auch bei der UNO, dort funktioniert auch nicht immer alles problemlos. Gemessen daran glaube ich, dass Blatter über viele Jahre einen schwierigen Job gut gemeistert hat, die Fifa ist prosperiert unter seiner Führung. Es ist Blatter, der den Fussball zu einem globalen Phänomen gemacht hat, weg von der Dominanz der Europäer und der Südamerikaner. Auch die Förderung des Fussballs in Afrika hat er wesentlich vorangetrieben. Bei aller berechtigten Kritik an Blatter wurde er, gerade in deutschen Medien, übermässig dämonisiert.
Ist es richtig, dass die Öffentlich-rechtlichen Millionenbeträge ausgeben für Sportübertragungen?
Grundsätzlich habe ich nichts dagegen. Aber ich weiss nicht, woher der Anspruch kommt, dass Öffentlich-rechtliche diese übertragen sollen.
Aus welchen Medien abseits der NZZ informiert sich der geneigte Fussball-Fan am Besten?
Der «Kicker» ist als Fachmagazin unerlässlich. Ab und zu sollte man mal einen Blick in das Blog Spielverlagerung riskieren – da sind ein paar Fussballnerds mit grosser Leidenschaft zugange.
Spielen Sie selbst Fussball?
Ich war Torwart früher, mittlerweile spiele ich nur noch selten. Das Knie.
Gibt es Doping im Fussball?
Selbstverständlich. Es ist ein Graubereich, der ungern illuminiert wird.
Sind die Beine von Roberto Carlos also auf unnatürliche Art so dick?
Solche Beine kriegt man auch mit Doping nicht hin, das ist Veranlagung. Karl-Heinz Rummenigge und Gerd Müller hatten übrigens auch solche unglaublich muskulösen Beine.
Wie gut ist der Schweizer Fussball?
Ziemlich gut. Die Schweizer stellen derzeit die grösste Gruppe unter den Bundesliga-Legionären.
Wer ist aktuell der beste Fussball-Kommentator?
Ich höre lieber die Live-Reportage am Radio. Der beste TV-Kommentator ist für mich immer derjenige, der am wenigsten sagt – das Bild ist ja da. Er soll nur jene Informationen liefern, die sich mir nicht vom Augenschein her erschliessen.
Was für Wendungen sollte jemand, der über Fussball schreibt, vermeiden?
«Umschaltspiel», «abkippende Sechser», «Chancen liegen lassen» oder «die Bälle durchstecken» muss man nicht schreiben.
Die Einschätzung der Taktik nimmt in den Medien heute viel Raum ein. Zurecht?
Manche Medienschaffende übernehmen gerne diese eigenartige technokratischen Sprache der neuen Trainergeneration und versuchen so eine Art Pseudowissenschaft aus dem Fussball zu machen. Ich plädiere dafür, den Fussball als das zu sehen, was er ist: Ein Hochleistungssport. Ein Teil der Unterhaltungsindustrie. Und für die Fans eine Religion im säkularen Zeitalter. Der Medienkonsument sieht heute viele Tabellen und Statistiken über Ballbesitz, angekommene Pässe oder gewonnene Zweikämpfe, die für das Ergebnis oft irrelevant sind. Für manche Leute scheinen diese Zahlen wichtig zu sein – und zwar bei der Suche nach Gewissheiten in einem Spiel, in dem oft der Zufall über Erfolg und Misserfolg entscheidet.
Was ist denn wichtiger?
Die Wahl des Sportdirektors, der die Transferpolitik verantwortet, also neue Spieler und neue Trainer holt, ist für den Erfolg viel entscheidender – und dennoch sind diese Schlüsselpositionen auch heute noch oft von Dilettanten besetzt.
Jene, die im Fussball das Geschäft sehen (müssen), reden nochmals ganz anders über Fussball.
Sprachlich bemerkenswert ist doch, dass Fussball-Funktionäre wie Hans-Joachim Watzke oder Karl-Heinz Rummenigge neuerdings wie schlechte Politiker sprechen. Durch diese Staatssekretärsdiktion entsteht ein falscher Eindruck, zum Beispiel, der Sport sei politisch. Dabei hat der Sport nichts Politisches. Er ist allenfalls ein Vehikel zum Erreichen eines Ziels, das sehen wir im Extremfall bei Terrorakten in Sportstadien. Im Kern jedoch ist er unpolitisch.
Das sehen aber einige Journalisten anders als Sie.
Denen empfehle ich, die Begriffe mal durchzudenken. Keiner wird wegen des Fussballs oder wegen eines Olympiaboykotts einen Krieg riskieren – und als Wirtschaftsfaktor ist die Bundesliga zu klein, um wirklich relevant zu sein. Damit hat sich das Politische erübrigt. Sport dient – wenn schon – eher dazu, Konflikte zu entschärfen. Und mal im Ernst: Von welchem der aktuellen Bundesliga-Fussballer erwarten Sie denn eine politische Aussage? Das sollten besser jene tun, deren Aufgabe es ist. Andererseits ist es aber wichtig, dass sich Sportler an die Öffentlichkeit wenden, wenn sie persönlich eine Diskriminierung erfahren haben, so wie es Kevin-Prince Boateng in Mailand getan hat. Aber Fussballer und Sportfunktionäre als Ersatzpolitiker oder Diplomaten im Trainingsanzug? So ein Laientheater braucht es wirklich nicht.
Das Gespräch mit Stefan Osterhaus fand am 2. Dezember 2015 in Berlin statt.