Ein bluttes Füdli – ist das gut für den Kopf? Blattkritik «Bon pour la tête»
Das neue Westschweizer Online-Magazin «Bon pour la tête» startet verhalten. In der Blattkritik von Peter Rothenbühler schneidet das «widerspenstige» Medium noch zu brav ab, zu beliebig und zu berechenbar. Da hilft auch die Prise Sex nichts, die zur Première eingestreut wurde.
«Bon pour la tête» heisst das jüngste Medium der Westschweiz, exakt so wie der alte Werbeslogan für «L’Hebdo», das Anfang 2017 eingestellte Wochenmagazin des Ringier Verlags. Der Name ist Programm: eine Gruppe von rund dreissig Hebdo-Nostalgikern rund um Hebdo-Gründer Jacques Pilet, hat am 21. Juni die Nullnummer einer Online-Zeitung präsentiert, die «gut für den Kopf» sein soll, so etwas wie der Phönix aus der Asche von L’Hebdo und nicht weniger als «Der Frühling des Journalismus», wie der Film heisst, den der welsche Regisseur Frédéric Gonseth Ende Jahr vorstellen will. (Hoffentlich gibt’s dann die Internetzeitung noch.) «Bon pour la tête» oder kurz BPLT, will täglich mit neuen Storys überraschen und kann für acht Franken im Monat abonniert werden.
Die überwältigende Summe reicht sicher für ein Trinkgeld für die rund dreissig freiwillig mitarbeitenden Journalisten.
Wer davon ausgeht, dass sich Sex im Kopf abspielt, versteht auch, dass ausgerechnet ein wohlgeformtes nacktes Füdli auf dem ersten Bild des neuen Mediums zu sehen ist – und auch, warum sich gleich drei von zwölf Geschichten zum Start um Sex drehen. Vielleicht hängt es mit dem zweiten Frühling der durchschnittlich doch etwas älteren Mannschaft zusammen? Jedenfalls soll das Medium «indocile» sein, sagen seine Gründer. Man kann «indocile» mit unbrav, undiszipliniert oder gar rebellisch übersetzen. Und sie jubeln ganz optimistisch, dass in nur fünf Wochen ganze 230’000 Franken Startkapital per Crowdfunding zusammengekommen sind, «ein Rekord für die Westschweiz», wie sie stolz verkünden. Die überwältigende Summe reicht sicher für ein Trinkgeld für die rund dreissig freiwillig mitarbeitenden Journalisten, würde ich mal sagen.
Dessen ungeachtet verspricht Jacques Pilet, Mitgründer von L’Hebdo und späteres Ringier-Direktionsmitglied auf allen Kanälen frohgemut, dass diese Internet-Zeitung mit ihren Reportagen, Kolumnen und Analysen einen originellen, überraschenden Ort der Debatte, der neuen Ideen schaffen werde, wie es ihn seit dem Untergang von L’Hebdo im Welschland leider nicht mehr gebe. Und wie es von einer ungeduldigen, inspirierenden Leserschaft sehnlichst erwartet werde. Mal sehen.
Die ersten veröffentlichten Beiträge enttäuschen punkto Originalität und Themenwahl.
Eine derart ambitiöse Sache hat nur eine Chance, einen ersten Eindruck zu machen: man muss hoffen, dass sich das Trüppchen um Doyen Pilet noch steigern kann. Sie erinnern an eine dieser beliebigen, mässig interessanten, vorproduzierten Hintergrundseiten bestehender Titel, die nicht wirklich von Belang sind.
Da wird zum Beispiel über die 40 Prozent Boote in 70 Häfen des Lac Léman geschrieben, die nie ausfahren (!), oder die schäbigen Tricks gewisser Anbieter von Online-Dating (stand vorher schon in «20 Minutes»). Über offene Fragen nach der Moutier-Abstimmung wird gerätselt, wie das alle Kommentatoren der Westschweiz schon drei Tagen zuvor taten. Man erfährt vom schönen Brauch, in gewissen Cafés der Rhonestadt für ein Kaffee noch ein zweites zu bezahlen, für den mittellosen Gast. Das Schweizer Krankenkassen-Wesen wird als einmalig in Europa geoutet.
Im Bereich Lifestyle stellt eine ältere Journalistin eine junge Modeschöpferin vor, die Kleider für ältere Damen herstellt mit so originellen Aufdrucken wie «Old is the new black». Drohnenaufnahmen von einem riesigen Friedhof im Irak und das Bild einer Moderatorin des nordkoreanischen Fernsehens runden das Bild ab. Wie gesagt, nichts Bewegendes. Nichts zum Abschreiben.
«Bon pour la tête» muss mit der durchwegs gouvernementalen, auf Harmonie bedachten Haltung der Regionalzeitungen brechen.
Wenn das sehr erfolgreiche Medienportal «Médiapart» in Frankreich das Vorbild sein sollte, muss sich «Bon pour la tête» sogleich daran machen, gewisse Dinge aufzudecken, die die andern Medien zwingen, den neuen Fisch im Karpfenteich zu zitieren. Und es muss seine Unabhängigkeit vom Verleger-Establishment beweisen, in dem es beispielsweise mit der durchwegs gouvernementalen, auf Harmonie bedachten Haltung der Regionalzeitungen bricht, Missstände aufdeckt, die Politiker kritisiert, wo ss nötig ist, regelmässig in der Westschweiz eine öffentliche Debatte anreisst, aneckt – «indocile» eben.
Vorläufig schwimmen die Alt-Hebdoler noch im gleichen Wasser wie das von ihnen sehr betrauerte ehemalige Magazin in den letzten Jahren: Man bringt ein bisschen dies und ein bisschen das und geht langsam aber sicher in Selbstgefälligkeit unter.
Man ist nur bisschen witzig, nur ein bisschen klug, nur ein bisschen unbrav. Aber leider auch ein bisschen unnötig. Aber vielleicht täuscht ja dieser erste Eindruck und es wird noch alles ganz anders, viel besser. Lassen wir uns überraschen.