Die Trümmer der türkischen Presse
Am Sonntag wählt die Türkei ihr Parlament und ihren Präsidenten. In den Medien dominierte während des Wahlkampfes die Stimme der Regierungspartei AKP. Ein weiteres Beispiel für die massive Beschneidung der Medienvielfalt und Pressefreiheit in der bewegten Geschichte der türkischen Medien. Doch der Kahlschlag ist auch das Ergebnis einer langjährigen Konzentration unter starkem staatlichem Einfluss.
Redet der Präsident, hört die Türkei zu. Recep Tayyip Erdoğans Stimme dröhnt in Cafés, in Amtsstuben, in Wohnzimmern. Der Präsident ermahnt: ewige Feinde wie die USA oder die EU. Der Präsident begeistert: mit Anekdoten aus seiner Jugend. Der Präsident imponiert: mit Zitaten aus Gedichten. Was dem Präsidenten Trump seine Tweets sind Erdoğan seine Reden. Jeden Tag hält er bis zu drei. Das Fernsehen ist sein Medium. Mehrere TV-Sender übertragen alle Reden live. Und ZuschauerInnen hat er genug, denn 80 Prozent der türkischen Bevölkerung informiert sich über das Fernsehen.
Zu Wahlkampfzeiten beanspruchen der Präsident und seine Regierungspartei AKP das Fernsehen zusätzlich. Im Mai veröffentlichte die staatliche Rundfunkaufsicht (RTÜK) die Zahlen der Sendeminuten auf dem öffentlichen Sender TRT. Sie prüfte sie in einem Zeitraum von drei Wochen, nachdem die Regierung am 17. April den vorgezogenen Wahltermin bekannt gab. Die Sendezeit der grossen Parteien verteilte sich in diesem Zeitraum wie folgt:
- Prokurdische HDP: 0 Minuten
- Nationalkonservative İyi-Partei: 9.5 Minuten
- Sozialdemokratische CHP: 3 Stunden 4 Minuten 28 Sekunden
- Regierungspartei AKP im Bündnis mit der MHP: 37 Stunden 40 Minuten 2 Sekunden.
Zwar ist das Türkische Radio und Fernsehen (TRT) gesetzlich als «unparteiische öffentliche Einheit» definiert, diese Kriterien erfüllte sie aber auch unter anderen Regierungen nicht. Die Rundfunkaufsicht prüft im Auftrag der höchsten Wahlbehörde jeweils, ob TRT und private Sender ausgewogen berichten – pro forma. An den ungleichen Verhältnissen ändert RTÜK nichts. Was nicht überrascht. Die Konstellation ihrer neun Mitglieder illustriert die Verquickung politischer Akteure mit den Medien. Aktuell amtieren fünf Mitglieder der Regierungspartei AKP und je zwei der sozialdemokratischen CHP und der rechtsnationalistischen MHP. Die Mitglieder wählt das Parlament. Im Rat sitzen keine Vertreter aus Medien oder Gewerkschaften. Ausgewogenes Berichten, Pressefreiheit und Kritik an den Mächtigen waren in der Türkei unter jeder Regierung eingeschränkt. Das Gefängnis bezeichnet man schon seit jeher als die «Schule türkischer JournalistInnen». Morde an Medienschaffenden prägen die blutige Geschichte der türkischen Presse. Teil dieser Geschichte ist auch fraglos politische und wirtschaftliche Interessen über die Medien durchzusetzen. Die aktuellen Verhältnisse aber sind auf allen Ebenen von ungekanntem Ausmass. Die Türkei erlebt seit dem versuchten Militärputsch im Juli 2016 den vielleicht grössten Umbruch in der Geschichte der Republik. Für die Presse bedeutet der seit bald zwei Jahren andauernde Ausnahmezustand in Zahlen unter anderem:
- 780 eingezogene Presseausweise
- 191 inhaftierte Medienschaffende
- 839 angeklagte Medienschaffende
- 62 Zeitungen, 19 Magazine, 34 Radiostationen, 5 Nachrichtenagenturen, 28 TV-Sender, 29 Verlage die geschlossen, verboten oder von regierungsnahen Unternehmen übernommen wurden.
(Die Zahlen stammen vom Stockholm Center for Freedom und von «Reporter ohne Grenzen». Aufgrund intransparenter Verhältnisse können sie in allen Kategorien variieren.)
Die Trümmer der türkischen Presse sind aber nicht allein den jüngsten Ereignissen zuzuschreiben. Sie sind das Ergebnis einer Medienkonzentration, die in den Nullerjahren einsetzte und bei der die Regierung mitzumischen begann. Sie fand zwei Wege, um ihre Kontrolle auf die Medien sukzessive auszuweiten. Erstens fungierte der Staat als Geldgeber. Die staatliche Treuhandanstalt (TMSF) zahlte Medien oder Konzernen bei finanzieller Not Kredite aus, woraus sich Abhängigkeitsverhältnisse entwickelten. Waren ein Medium oder Konzern pleite, konfiszierte sie die staatliche Treuhandanstalt. Bei Ausschreibungen berücksichtige sie häufig regierungsnahe Unternehmer als einzige Bieter (es waren tatsächlich ausschliesslich Männer). Zudem sollen staatliche Geldinstitute den Käufern Zuschüsse in Millionenbeträgen gegebenen haben, deren Rückzahlung bis heute nicht belegt ist.
Unparteiischer – nicht einmal kritischer – Journalismus über Innenpolitik bedeutete hohe finanzielle Einbussen.
Zweitens dominierten die türkische Medienlandschaft lange schon Mischkonzerne, die ihre Gewinne aus anderen Branchen als den Medien erzielten. Die Auswüchse wucherten über die Jahre in Sektoren wie Versicherungen, Bau, Energie, Telekommunikation, Bankwesen, Immobilien oder Tourismus. Wirtschaftliche Interessen kamen vor publizistischen Leitlinien – selbst in Konzernen die nicht zwingend regierungsnah waren. Unparteiischer – nicht einmal kritischer – Journalismus über Innenpolitik bedeutete hohe finanzielle Einbussen. Öffentliche Aufträge begannen über Tod oder Leben der Konzerne zu entscheiden, und so konkurrierten sie sich nicht bei Primeurs, sondern Grossaufträgen wie dem Bau des dritten Istanbuler Flughafens oder von Wohnsiedlungen in ganzen Stadtteilen. Einige der regierungsnahen Unternehmer, deren Medienkonzerne auch im Bauwesen tätig sind, wurden in den vergangen Jahren mit solchen Projekten betraut.
In der Studie Media Ownership Monitor haben «Reporter ohne Grenzen» und das unabhängige türkische Nachrichtenportal Bianet die Besitzverhältnisse der Medienkonzerne entwirrt. Sie zeigen unter anderen, wie gross der Anteil regierungsnaher Unternehmer ist: 7 der 10 meistgelesenen Tageszeitungen, wie auch der meistgesehenen TV-Sender in der Türkei sind in regierungsnaher Hand.
Manche JournalistInnen wechselten die Fronten, weil sie dem Druck von allen Seiten nicht mehr standhalten konnten.
Die Führung dieser Konzerne entliess vor allem ab 2010 JournalistInnen mit spitzer Feder, darunter auch einige bekannte Kolumnisten, die sich gemässigt konservativ positionierten. Manche JournalistInnen wechselten die Fronten, weil sie dem Druck von allen Seiten nicht mehr standhalten konnten: des Verlags, der Regierung, der Justiz und der KollegInnen. Heute debattieren sie in regierungsfreundlichen Politshows und kotzen den Hass über ehemalige KollegInnen aus. Als wäre der Kahlschlag der Presse nicht bitter genug, setzt die Schlammschlacht unter Medienschaffenden einen drauf.
Ideologische Grabenkämpfe über die Medien auszutragen – auch das ist kein neues Phänomen in der Türkei. Doch die Debatten heute sind verroht. So polarisiert die Gesellschaft wegen politischer Ideologien ist, so polarisiert sind es auch die JournalistInnen untereinander. Der Zusammenhalt in den einzelnen Lagern ist ungebrochen. Die Gräben dazwischen sind aber tief. In Kolumnen etwa beleidigt man die Gegenseite oder wünscht einem die Haft. Wäre aber auf einem sinkenden Schiff der Zusammenhalt der BerufskollegInnen – ungeachtet politischer Haltungen – nicht der Rettungsring?