von René Zeyer

Die Schuld der Unschuldsvermutung

«Es gilt die Unschuldsvermutung.» Wenn man diesen Satz in den Medien liest oder hört, gilt sie nicht mehr. Denn dieser Satz ist das Feigenblatt vor der Berichterstattung über einen Unschuldigen. Es gibt kaum ein Gebiet, wo Anspruch und Wirklichkeit zwischen der Justiz und den Medien so weit auseinanderklafft.

Rechtlich ist es so, dass jeder solange als unschuldig gilt, bis er rechtskräftig verurteilt worden ist. Rechtskräftig heisst, dass es ein endgültiges Urteil gibt, gegen das keine Berufung mehr eingelegt werden kann. Zudem gilt, dass niemand seine Unschuld beweisen und dass die Schuld über jeden vernünftigen Zweifel hinaus erwiesen werden muss. Und all diese Fragen sollten vor Gericht abgehandelt werden. Unter Umständen unter Ausschluss der Öffentlichkeit oder vor beschränkter Öffentlichkeit, wenn nur akkreditierte Gerichtsberichterstatter anwesend sind, die beispielsweise den Namen oder identifizierende Eigenschaften eines Angeklagten nicht veröffentlichen dürfen.

In der Berichterstattung über Verbrechen gibt es zunächst ein zeitliches Problem. Nach der Tat kann es eine Weile dauern, bis ein möglicher Täter gefunden ist.

All das dient dem Schutz eines Menschen, der beschuldigt wird, ein Verbrechen begangen zu haben. Selbst nach einer Verurteilung gilt der Schutz weiter, insofern er die Resozialisierung befördern soll, was das höchste Ziel des Strafvollzugs ist und die mittelalterliche Rache oder das biblische Prinzip «Auge um Auge, Zahn um Zahn» abgelöst hat. Soweit die schöne Theorie. Die Praxis sieht ganz anders aus. In der Berichterstattung über Verbrechen gibt es zunächst ein zeitliches Problem. Nach der Tat kann es eine Weile dauern, bis ein möglicher Täter gefunden ist. Und dann dauert es nochmals lange, vielleicht Jahre, bis durch den Instanzenzug bis zum Bundesgericht hinauf oder sogar bis zum Gerichtshof in Strassburg verhandelt wurde und endlich ein höchstinstanzliches Urteil vorliegt.

Es ist verständlich, dass die Medien nicht so lange warten wollen, bis sie beispielsweise über den Mörder von Rupperswil berichten können. Mindestens so alt wie die Berichterstattung als solche ist die Tatsache, dass Sex und Crime interessieren, verkaufen, aufregen. Nun besteht aber das Problem, dass der Mörder von Rupperswil solange kein Mörder ist, bis er rechtsgültig als solcher verurteilt wurde. Also gilt für ihn vorher die Unschuldsvermutung. Im Prinzip. Vor einiger Zeit wurde ein durch einen Bestseller bekannt gewordener Schweizer Pädagoge von einem ehemaligen Schutzbefohlenen sexueller Übergriffe bezichtigt. Auch für ihn galt die Unschuldsvermutung, insbesondere, da seine mutmasslichen Taten längst verjährt waren, als diese Anschuldigungen erhoben wurden. Und schliesslich gibt es einen sehr bekannten ehemaligen Bankboss, der Ende Februar dieses Jahres für mehr als 100 Tage in Untersuchungshaft schmorte. Ihm wird ungetreue Geschäftsbesorgung vorgeworfen. Der Mörder ist verurteilt, der Pädagoge bleibt mit völlig ruiniertem Ruf als Unschuldiger auf freiem Fuss, der Ex-Bankchef ist heute genauso unschuldig wie im Februar dieses Jahres.

Seit seiner Verhaftung sind über 3600 Artikel über den gefallenen Bankenchef erschienen. Viele von ihnen verzichten auf die Erwähnung der Unschuldsvermutung.

Betrachten wir diesen Fall genauer, weil der Tatvorwurf nicht so aufgeladen ist wie bei mehrfachem Mord oder sexuellen Übergriffen auf Schutzbefohlene. Seit seiner Verhaftung sind über 3600 Artikel über den gefallenen Bankenchef erschienen. Viele von ihnen verzichten auf die Erwähnung der Unschuldsvermutung; zu recht wird das als Platzverschwendung gesehen. Andere Artikel erwähnen immerhin, dass der Banker nicht schuldig, nicht verurteilt, nicht einmal angeklagt ist. Ihm wird «ungetreue Geschäftsbesorgung» vorgeworfen. Das bedeutet, dass er zum Schaden seines Arbeitgebers geschäftet haben soll. Zwischen der Verhaftung, der U-Haft und der Anklage vergehen bei solchen Fällen, in denen es um manchmal komplexe Ermittlungen handelt, problemlos zwölf Monate und mehr.

Die Zwischenzeit will überbrückt werden. Aber womit? Der Angeschuldigte schweigt bislang eisern, offensichtlich nicht zuletzt auf Anraten seines Anwalts, der schon immer die These vertrat, dass Prozesse im Gerichtssaal geführt – und gewonnen – werden, nicht ausserhalb. Das sehen die Medien naturgemäss etwas anders; noch so gerne hätten sie ein «jetzt rede ich». Aber ausser einer dürren Mitteilung bei seiner Entlassung, dass er sämtliche Vorwürfe zurückweise und sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehre, ist vom angeschuldigten Ex-Banker nichts zu vernehmen. Die Staatsanwaltschaft ihrerseits kann und darf nicht aus der Schule plaudern, die Untersuchung, die dabei produzierten Akten und behändigte Dokumente sind vertraulich, bis zum Prozess.

Schon zuvor war im gleichen Sonntagsmedium berichtet worden, dass es beeindruckende Spesenrechnungen gebe. Da stellt sich natürlich die Frage, woher diese Informationen stammen.

Umso erstaunlicher, dass immer wieder Artikel erscheinen, in denen über mögliche Anklagepunkte spekuliert wird. So zum Beispiel einer, in dem auf einer Dreiviertelseite eine angebliche Spesenabrechnung des Bankers beschrieben wird. Sie bestünde im Wesentlichen aus dem Titel «Spesen», der Zahl von 12’000 Franken, der Unterschrift des Bankers und einem Visum des damaligen VR-Präsidenten der Bank. Damit wird insinuiert, dass der ehemalige Bankchef ein lockeres Verhältnis zu Spesenbelegen gehabt habe, das von seinen Vorgesetzten zudem geduldet worden sei. Schon zuvor war im gleichen Sonntagsmedium berichtet worden, dass es beeindruckende Spesenrechnungen gebe, die in einschlägigen Rotlicht-Lokalen wie dem «Red Lips» in Zürich entstanden seien. Da stellt sich natürlich die Frage, woher diese Informationen stammen.

Das ist in diesem Fall besonders interessant, da es in der Geschichte des Finanzplatzes Schweiz einmalig ist, dass die Spesenabrechnungen einer Führungskraft an die Medien gelangen. Denn ohne zumindest Einsicht in die entsprechenden Dokumente zu haben, würde es kein Presseerzeugnis wagen, solche Berichte zu publizieren. Die Gefahr einer Klage, verbunden mit hohen Kosten und einer krachenden Niederlage vor Gericht, wäre zu hoch, wenn sich ein Journalist da nur auf Gerüchte oder Hörensagen abstützen würde. Woher kommen also diese Dokumente?

Der Kreis der Quellen ist überschaubar. Zunächst einmal der Beschuldigte selbst. Aber was hätte er davon? Möglicher Spesenbetrug kann ebenfalls als ungetreue Geschäftsbesorgung gewertet werden, wieso sollte er also entsprechende Dokumente in Umlauf bringen? Er (und natürlich auch sein Anwalt) scheiden also aus. Dann gibt es noch Quellen aus der Bank selbst, also die wenigen Personen, die mit solchen vertraulichen internen Unterlagen befasst sind. Oder die mit der von der Bank eingeleiteten internen Untersuchung betreute Personen. Es wäre aber das erste Mal in der Bankengeschichte, dass dermassen heikle Unterlagen heraustropfen. Noch niemals konnte man Spesenabrechnungen aus den Führungsetagen Schweizer Grossbanken in den Medien wiederfinden, obwohl es da sicherlich interessante Fälle gäbe.

Aber warum sollte die Staatsanwaltschaft solche Unterlagen an die Presse durchstechen?

Wer bleibt also, wenn man ausschliessende Logik verwendet, übrig? Richtig, es bleibt die Staatsanwaltschaft übrig. Aber warum sollte die Staatsanwaltschaft solche Unterlagen an die Presse durchstechen; für ein Vergehen braucht es zumindest meistens ein Motiv. Das liegt hier allerdings auf der Hand. Der in dieser Untersuchung federführende Staatsanwalt hat bereits mehrere krachende Niederlagen bei der Verfolgung von angeblichen Straftaten im Bankenbereich erlitten. Zudem muss er früher oder später rechtfertigen, wieso er einen unbescholtenen und nicht vorbestraften prominenten Banker samt dessen Kompagnon mehr als hundert Tage in U-Haft schmoren liess. Und schliesslich muss der Staatsanwalt schlüssig nachweisen, dass es genügend Anlass zum Verdacht der ungetreuen Geschäftsbesorgung gibt, sodass Anklage erhoben werden kann.

Nun gibt es beim Delikt ungetreue Geschäftsbesorgung eine wichtige Voraussetzung: Sie muss beim Arbeitgeber einen nachweisbaren Schaden angerichtet haben. Dem Ex-Banker wird im Wesentlichen vorgeworfen, dass er über Strohmänner an Firmen beteiligt gewesen sei, die dann von seinem Arbeitgeber aufgekauft wurden. Dadurch habe er sich Gewinne verschafft, ohne dass sein Arbeitgeber wusste, dass er sozusagen auf beiden Seiten des Verhandlungstisches sass. Das ist natürlich verwerflich und übelriechend, sollte es zutreffen. Aber selbst wenn es so wäre, gäbe immer noch ein Problem: Wenn dem Arbeitgeber durch diese Transaktionen kein Schaden entstanden ist, handelt es sich nicht um ungetreue Geschäftsbesorgung. Und lässt sich diese nicht nachweisen, fällt der Anfangsverdacht in sich zusammen, gibt es keine Anklage und sassen zwei Unschuldige zu Unrecht über 100 Tage in U-Haft. Wofür sie dann vom Staat entschädigt werden müssten.

Viele Fachanwälte, natürlich immer aufgrund des Kenntnisstandes der Öffentlichkeit, sehen bei den bislang bekannten Vorfällen aber genau das Problem, dass dadurch der Bank kein Schaden entstanden ist, sogar wohl eher ein Gewinn. Ist das so, muss der Staatsanwalt eine dritte krachende Niederlage befürchten. Werden aber Dokumente an die Medien durchgestochen, die wiederholten lockeren, anrüchigen und sogar belegfreien Umgang mit Spesen in doch beeindruckender Höhe beweisen, wird das öffentliche Terrain geschickt dafür vorbereitet, dass vom ursprünglichen Verdacht, Bereicherung auf Kosten des Arbeitgebers durch Aufkäufe, zwar nichts mehr übrigbleibt, dafür aber Spesenbetrug vermutet werden darf, der sich ebenfalls in ungetreue Geschäftsbesorgung umdeuten lässt. Damit wäre dann eine Anklage möglich, das Gesicht der Strafverfolgungsbehörde bliebe einigermassen gewahrt. Es käme dann zu einer bedingten Strafe, da der Banker Ersttäter ist, und da er wohl dagegen Einsprache erheben würde, dauerte es die üblichen zwei bis fünf Jahre, bis ein rechtsgültiges Urteil vorliegt. Und bis dahin ist die Öffentlichkeit längst nicht mehr interessiert.

Alle Indizien deuten darauf hin, dass der Tipp aus der Staatsanwaltschaft kam.

Wenn in einem Strafverfahren der Angeklagte nicht geständig ist, benützt man Indizien. Gibt es eine Indizienkette, die über jeden vernünftigen Zweifel erhaben auf die Schuld des Angeklagten hinweist, wird er verurteilt. Die wiederholte Publikation von Indiskretionen im Umfeld des Bankers und seines finanziellen Verhaltens bildet eine solche Indizienkette. Ein weiteres Glied ist die Tatsache, dass der Banker am Anfang der Woche einen Termin bei der Staatsanwaltschaft hatte. Wieso man das weiss? Ganz einfach, weil ein Reporter einer Gratis-Postille vor Ort war und den Banker abknipste. Von einem solchen Termin weiss normalerweise nur der Einbestellte und die Staatsanwaltschaft. Auch hier ist es kaum zu vermuten, dass der Banker diesen Sachverhalt den Medien mitteilte. Wie kann dann also ein Journalist genüsslich berichten, dass sich ein «sichtlich überraschter» Banker schnell abdrehte und ins Treppenhaus des Gebäudes verschwand? Wobei auch dieser Artikel nicht auf die Floskel verzichtet: «Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.» Alle Indizien deuten darauf hin, dass der Tipp aus der Staatsanwaltschaft kam. Sie stellt «entschieden in Abrede», dass sie «diese Informationen weitergegeben hat». Daher gilt natürlich auch für sie die Unschuldsvermutung.