Sie sind unter uns!
Ob in unseren Timelines, in unseren virtuellen Freundeskreisen oder gar in unserem Sexleben: Avatare sind überall. Sie haben sich von verpixelten Figuren zu Wesen entwickelt, die den Menschen zum Verwechseln ähnlich sehen. Doch was ist real und was ist fake?
Avatare wurden einst als Kunstfiguren im Cyberspace geschaffen, um den Menschen zu unterhalten. Ihm eine andere Realität vorzutäuschen. Ihn zu befriedigen. Eine der treibenden Kräfte ist auch hier die Pornoindustrie. So scannt das Berliner Startup vrXcity Pornodarsteller und verwandelt sie zu Avataren. Wesen, mit denen der Nutzer über eine VR-Brille und Controller interagieren, seine Fetische ausleben und sogar seine Sextoys in diese Erfahrung einbringen kann. Im Sommer 2018 ging das Portal in die Testphase, und obwohl das Angebot vielversprechend und breit ist, bleibt es erst mal ein Nischenprodukt für experimentierfreudige Gamer.
Dabei waren Avatare vor zwanzig Jahren nichts anderes als ein Spiel. Im Jahr 2000 kam die erste Version des Kultgames «Die Sims» auf den Markt. In «Das volle Leben» machten die Figürchen ihre ersten Schritte – auf Kommando. Der Spieler war verantwortlich, dass sie genug assen, tranken, schliefen und soziale Kontakte knüpften (aka Sex im Whirlpool hatten.) Nur wenig später, im Jahr 2003 erschien mit «Second Life» eine Online-Plattform, auf die wir Avatare los liessen, Abbilder unserer selbst oder unserer Fantasie. Wir sagten ihnen, was sie dort zu tun und zu lassen hatten, was ihre Interessen waren und wen sie in ihrer Welt kennen lernen sollten.
Nach einem Hype wurde es ruhig um «Second Life». Doch unterdessen hat sich die Plattform weiterentwickelt: Der Nachfolger Sansar befindet seit 2017 in der Betaphase. Eine soziale Plattform mit verschiedenen Welten, die der Nutzer entweder über eine VR-Brille oder ganz traditionell über seinen Browser besuchen kann. Was früher, bei den ersten Versionen von «Sims» noch ziemlich einseitig und auch einsam war, ist jetzt nicht nur ein Spiel, sondern eine Plattform, auf der wir andere Menschen – oder ihre Avatar Alter Egos – kennen lernen können. Jeder User schafft sich seine Online-Stellvertretung. Egal, ob Tier, Normalo, Fee oder – die vermutlich häufigste Art von Avatar – eine sexy-Version von sich selbst. Auch wenn solche Welten eigentlich allen zugänglich sind mit einer Internetverbindung, sind sie für die meisten weit weg.
Da sind uns menschenähnliche Figuren von Social Media her schon vertrauter. Auf Instagram tauchen seit zwei Jahren Influencer in Avatarform auf. Die erste war Miquela Sousa, besser bekannt als @lilmiquela. Miquela ist schön. Fast zu schön: keine Pore ist zu sehen, keine Verunreinigung verunziert das puppenhafte Gesicht. Photoshop? Nicht nur. Ihr Macher, der bis heute anonym bleibt, gab Miquela das realistische Aussehen eines Teenagers; ein Teenager, der Werbung für Modelabels macht, Musik für Spotify produziert und damit über 1,4 Millionen Follower erreicht. Zum ersten Mal verschiebt sich das Verhältnis zwischen künstlichen Wesen und Mensch: Miquela sagt uns, was wir anziehen, welche Musik wir hören und worüber wir reden sollen. Sie löst in ihren Kommentarspalten Diskussionen aus, darüber, wie «real» oder «fake» sie ist, über ihren Körper und ihren Stil – Kommentare wie sie bei jedem menschlichen Influencer auch zu finden sind.
Klar ist, dass alles unklarer wird: die Grenzen zwischen real und fake, Wirklichkeit und Fiktion sind online immer weniger zu erkennen. Hübsche Avatare, die Werbung machen, sind ja noch einigermassen harmlos. Aber was passiert, wenn jeder Mensch kopierbar ist? In Videos und Fotos, die es so nie gab? «Deep-Fakes» schaffen genau das. Um die Potenz dieser Technologie zu demonstrieren, haben kürzlich die «10vor10»-Moderatorinnen Susanne Wille und Andrea Vetsch kurzerhand die Gesichter ausgetauscht: Künstliche Intelligenz encodiert die Grundzüge eines Gesichts und baut sie dann, in einer anderen Videosequenz wieder auf. Zack, fertig: Die Gesichter von Promis tauchen in Pornofilmen auf. Politikern werden Worte in den Mund gelegt, die sie selbst nie sagen würden. Für den normalen Internetnutzer ist von blossem Auge nicht mehr zu erkennen, was richtig und was falsch ist.
So werden uns Avatare plötzlich ebenbürtig. Indem sie auf den Plattformen auftauchen, die wir täglich nutzen, zwischen Fotos unserer Freunde, Beiträgen von Stars und den Medien. Wir wissen zwar, dass sie nicht menschlich sind– aber wer ist das im Internet schon? Ja, hinter diesen künstlichen Wesen stecken Menschen. Aber sie sind nicht mehr die kleinen Männchen, denen wir per Klick Befehle erteilen und dann abends abstellen können. Im Gegenteil. Sie beeinflussen jetzt unseren Medienkonsum. Sagen uns, was Trend ist, welche Musik wir hören sollen und lassen Fetische wahr werden. Und wir geniessen «das volle Leben».