von Eva Hirschi

«Konstruktiver Journalismus ist Teil unserer DNA geworden»

Der Hype um den konstruktiven Journalismus ist zwar vorbei, aber in vielen Medien rund um die Welt hat er die Redaktionsarbeit verändert. Die MEDIENWOCHE hat sich in Genf an der 2. Global Constructive Journalism Conference in Genf umgehört.
v.l.n.r.: Christophe Deloire (Reporter ohne Grenzen), Nick Wrenn (Facebook), Emma Tucker (The Times), Robert Roth (Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights), Noel Curran (EBU)

«Während News-Journalismus über das Heute berichtet und investigativer Journalismus über das Gestern, geht es beim konstruktiven Journalismus um das Morgen!», erklärte Ulrik Haagerup an der zweiten globalen Konferenz über konstruktiven Journalismus am Freitag in Genf. Der frühere Nachrichtenchef des dänischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat das Konzept des «konstruktiven Journalismus» in den letzten Jahren wieder populär gemacht. Erste Forderungen nach mehr lösungsorientiertem Journalismus wurden bereits nach Ende des zweiten Weltkriegs laut.

Gemäss dem Konzept des konstruktiven Journalismus sollen Nachrichten nicht nur aus Verbrechen, Terror, Kriegen, Naturkatastrophen und anderen Sensationen bestehen, sondern sich vermehrt mit Lösungsansätzen für Probleme befassen. Dabei geht es – im Gegensatz zum positiven Journalismus – nicht darum, sich auf positive statt negative Meldungen zu konzentrieren. Der Journalismus solle weiterhin seine gesellschaftliche Aufgabe als Wachhund und vierte Gewalt wahrnehmen können, jedoch gleichzeitig auf mögliche Lösungen hinweisen.

Mehrere Studien bestätigten, dass die Medienberichterstattung als überwiegend negativ und pessimistisch empfunden wird. Eine vielzitierte Studie von 2017 vom «Reuters Institute for the Study of Journalism» an der Universität Oxford zeigt, dass 48% der Befragten keine News mehr konsumierten, weil sich dies negativ auf ihre Stimmung auswirken würde; 37% sagten, sie trauten dem Inhalt nicht; 28% gaben an, sie könnten ja ohnehin nichts gegen all die Katastrophen tun. Die britische Tageszeitung The Times ist auf ähnliche Schlussfolgerungen gekommen.

Emma Tucker, stellvertretende Chefredaktorin The Times:

«Unsere Artikel gehen in eine Richtung, die man durchaus konstruktiven Journalismus nennen könnte. Diese Herangehensweise ist aber organisch entstanden, aus den Bedürfnissen der Leserschaft. Wir liessen eine schwedische Firma eine tiefgehende Analyse unserer Online-Artikel machen. Sie hat untersucht, welche Themen mehr gelesen wurden als andere, bei welchen die Leserschaft länger online blieb, etc. Eine der Schlussfolgerungen war, dass die Leserschaft unsere Hintergrundartikel und unsere Expertise schätzen, und eben das, was man als konstruktiven Journalismus bezeichnen könnte, sprich lösungsorientierte Artikel. Bei solchen Themen war die Engagement-Rate der Leserschaft höher. So eine Herangehensweise ist jedoch nicht bei allen Artikeln möglich, etwa bei einem Gerichtsfall. Wir könnten aber schon noch weitergehen und noch öfter mögliche Lösungen präsentieren. Die Anwendung einer konstruktiven Herangehensweise wird bei unseren Redaktionssitzungen allerdings nicht explizit diskutiert, zumindest nennen wir es nicht so. Bei uns geschieht dies unbewusst.»

Mehrere Redaktionen in verschiedenen Ländern weltweit, hauptsächlich in Europa und in den USA, begannen ab 2012, sich mit diesem Konzept verstärkt auseinanderzusetzen. Es wurden teilweise Gefässe spezifisch für konstruktiven Journalismus entwickelt, etwa «The Upside» vom «Guardian» oder «The Optimist» von der Washington Post. Auch wurden Medien gegründet, die sich explizit dem konstruktiven Journalismus verschrieben, wie etwa «De Correspondent» in Holland oder «Perspective Daily» in Deutschland.

So finden sich bei «Perspective Daily» beispielsweise Artikel, die aufzeigen, wie es mit der Wirtschaft auch ohne Wachstum weitergehen kann, wie unzufriedene Bürger die Bundesregierung legal und ohne Anwendung von Gewalt loswerden können, wie eine kranke Person komplett genest und wie ein Spital mit einer einfachen, nachahmbaren Methode hohe Kosten einsparen kann.

In einigen Ländern scheint die Herangehensweise mittels konstruktivem Journalismus bereits in den Redaktionsalltag eingeflossen zu sein. Gerade Nordeuropa nimmt eine Pionierrolle ein. So gab etwa die dänische Journalistin Tine Rud Seerup an der Konferenz in Genf einen Einblick in das konstruktive Radioprogramm «Public Service» des dänischen Radios DR, und Anne Lagercrantz erzählte der MEDIENWOCHE von der Vorgehensweise beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen Schwedens SVT.

Anne Lagercrantz, Nachrichtenchefin SVT:

«Bei SVT haben wir uns ziemlich früh mit lösungsorientiertem Journalismus befasst, im Rahmen einer Neuausrichtung unserer Strategie entstand unser Leitsatz: ‹Das ganze Bild darstellen›. Seit etwa zwei Jahren wenden wir nun konstruktiven Journalismus an, nicht bei allen Themen, aber dort wo es möglich ist. An den Redaktionssitzungen ist das nicht einmal mehr ein Thema, dieses Vorgehen ist bereits Teil unserer DNA geworden. Wir verpassen aber schon noch Themen, über die wir konstruktiv hätten berichten können. Es braucht Zeit, um die Kultur im Newsroom zu ändern. Wir haben dafür verschiedene Methoden. Wir evaluieren zum Beispiel jeden Tag, wie viele Beiträge in der Hauptausgabe unserer Nachrichtensendung konstruktiv waren und wie viele nicht. Wir haben kein quantitatives Ziel, aber wenn an einem Tag diese Zahl viel höher oder viel tiefer als am Vortag ist, dann diskutieren wir das und schauen weshalb. Es geht nicht darum, konkrete Ziele zu haben, wir haben eine ganze Palette an News-Kriterien, aber wir wollen dieses Konzept stets im Kopf behalten. Einige Redaktorinnen oder Redaktoren sind natürlich schon skeptisch, manche missverstehen es als positiven Journalismus, doch darum geht es nicht. Es soll genauso relevant, transparent und kritisch sein wie immer, und kein Marketing für irgendwelche Organisationen. Um die Redaktionskultur zu ändern, haben wir Treffen zwischen Journalisten und Zuschauern organisiert, wo sich jeweils zwei Personen zum Kaffee getroffen haben und die Journalistinnen und Journalisten zugehört haben, was die Erwartungen an SVT und den Journalismus sind, was stört oder was gewünscht wird. Das hat sicher geholfen, die Haltungen des Redaktionsteams zu ändern und zu einem besseren Verständnis unseres Publikums geführt – und eben gezeigt, dass oft ein konstruktiver Aspekt gewünscht wird.»

In Finnland entsteht derweil wiederum eine neue Spielart: conciliatory journalism, was man am ehesten mit Vermittlungsjournalismus übersetzen könnte. Heutzutage führe Journalismus zu einer Polarisierung der Gesellschaft, statt zwischen verschiedenen Meinungen zu vermitteln. Dies käme auch davon, dass Themen zugespitzt, Aussagen stark verkürzt oder falsch zitiert und irreführende Titel gesetzt würden, dies alles im Kampf um Aufmerksamkeit. Die Skepsis gegenüber Medienschaffenden wachse. Medien sollten jedoch viel eher eine Vertrauensbasis schaffen und einen Dialog zwischen verschieden denkenden Menschen anstossen, so dass die Debatte danach weitergeführt werden könne. In Zeiten der Polarisierung sei ein sozialverträglichen Journalismus wichtig, erklärte Noora Kettunen vom Verein Sopiva im Gespräch.

Noora Kettunen, Journalistin und Kursleiterin:

«Das Ziel von conciliatory journalism ist sicher ähnlich wie beim konstruktiven Journalismus, wir verwenden dafür aber bewusst Methoden der Vermittlung und der Mediation. Es beginnt schon bei der Themenwahl: Es geht darum, eine Fragestellung zu nehmen, die man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten kann, denn solcher Journalismus führt zu einer höheren Polarisierung und zu Stereotypen. Zweitens sollte man sich fragen, wen man interviewt, also Menschen zu Wort kommen zu lassen, die nicht so oft angehört werden. Wir sind daran, einen Diversitätsmeter zu entwickeln, mit welchem wir zählen wollen, wie oft in finnischen Medien Frauen, wie oft Männer, wie oft Politiker, etc. zu Wort kommen. Drittens geht es darum, welche Fragen man stellt. Man sollte nicht nur fragen, was für eine Meinung eine Person hat, sondern auch warum und ob sie Beispiele geben kann. Oft hören Journalisten den Menschen gar nicht richtig zu und geben sich zufrieden, sobald sie das Statement haben, das sie erwarten. Vermittlungsjournalismus ist noch sehr neu in Finnland, wie auch die Diskussion über konstruktiven Journalismus, aber die Ziele sind sehr ähnlich. Mit unserem Verein bieten wir übrigens auch Workshops für konstruktiven Dialog an, nicht nur für Journalisten, sondern auch für Firmen oder Private. So haben wir sogar eine neue Einnahmequelle erschlossen.»

Geld war auch sonst an der Global Constructive Journalism Conference in Genf ein Thema. Konstruktiver Journalismus zahle sich durchaus aus, war man sich auf einem Podium einig. Der Westschweizer Journalist Serge Michel hatte während seiner Zeit bei der französischen Tageszeitung Le Monde einen Test mit zwei Artikeln zum gleichen Thema – die zu Hungersnot führende Trockenheit in Ostafrika – gemacht und eine Journalistin einen Nachrichtenartikel und einen konstruktiven Artikel mit möglichen Lösungsansätzen schreiben lassen. Er stellte fest: Der konstruktive Artikel hatte zu besonders vielen Neuabonnenten geführt, sogar zu den meisten für diesen Monat. Michel, der im Frühling das neue Online-Medium Heidi.news lanciert, ist überzeugt, dass Menschen viel eher bereit seien, für «nützliche» Medien zu zahlen.

David Bornstein, Co-Gründer und CEO des Solutions Journalism Network, zeigte dies anhand eines Beispiels auf: «In der USA sind Menschen nicht bereit, 50 Dollar für ein Zeitungsabonnement zu bezahlen – aber sie sind bereit, 60’000 Dollar für ein Studium auszugeben.» Wissen sei Macht, deshalb würden sie dafür bezahlen. Da Wissen also mehr Wert habe als Nachrichten, müssten sich die Medien dementsprechend wandeln. So könne man auch einfacher an Stiftungsgelder oder andere Sponsoren gelangen, sagte Bornstein.

Natürlich gibt es auch am konstruktiven Journalismus Kritik: Etwa, dass Journalisten zu Aktivisten verkommen könnten, oder – noch schlimmer – zu Promotern von netten Projekten. Auch beim «Guardian» musste Mark Rice-Oxley gegen solche Vorurteile ankämpfen. Er ist unter anderem verantwortlich für «The Upside», einer losen Serie von multimedialen, konstruktiven Beiträgen, die man durch einen wöchentlichen, kostenlosen Newsletter abonnieren kann. Im Gespräch erklärte er, wie er vorging.

Mark Rice-Oxley, Verantwortlicher «The Upside» vom «Guardian»:

«Am Anfang bin ich auf viel Skepsis gestossen, auch innerhalb der Redaktion. Viele dachten, wir würden nun einfach über schöne Medienmitteillungen berichten und so zu Sprachrohren von PR-Firmen werden. Es stimmt, dass ich solche PR-Mitteilungen erhalte. Ich lese sie auch. Aber ich schreibe nicht darüber! Ich benutze diese als Inspiration. Ein Beispiel: Eine Firma schreibt, sie hätte eine App zur Verbesserung der Ernte in Indien erfunden. Ich schaue mir daraufhin Ernteerträge in Indien genauer an, warum Ernten tief ist, wer was dagegen macht, ob es überhaupt möglich ist, mit einer einzigen App das Problem zu beheben, oder ob es auch andere Lösungen braucht, wie etwa bessere Strassen, mehr Dünger, oder sonst etwas. Vielleicht erwähne ich in diesem Artikel die App, vielleicht aber auch nicht. Aber sie dient mir als Ausgangslage. Warum wir unsere Artikel überhaupt als konstruktiven Journalismus deklarieren? Nun, wir wollten den Leser zeigen, was wir machen, dass es etwas Innovatives ist. Beim ‹Guardian› labeln wir viele unserer Artikel und machen oft Serien. Mein Ziel für ‹The Upside› ist aber, dass wir sie bald nicht mehr kennzeichnen müssen, sondern intrinsisch so arbeiten. Wenn es in weniger als drei Jahren ‹The Upside› nicht mehr gibt, dann ist das ein Erfolg – gibt es die Rubrik in drei Jahren immer noch, dann sind wir gescheitert.»

Und wie steht es um den konstruktiven Journalismus in der Schweiz? Auch hierzulande nahmen Medien das Konzept auf, allen voran der Tages-Anzeiger mit der montäglichen Rubrik «Die Lösung», in welcher Beiträge zur Bewältigung sozialer, ökonomischer oder politischer Probleme publiziert wurden. Diese 2015 lancierte Serie wurde jedoch bereits 2016 beerdigt. Judith Wittwer, damalige Co-Leiterin der Rubrik und heutige Chefredaktorin des Tages-Anzeigers, schreibt auf Anfrage: «Konstruktive Lösungen und Ideen sind nicht an den Tag gebunden. Deshalb haben wir Ende 2016 entschieden, die wöchentliche Rubrik ‹Die Lösung› nicht mehr weiterzuführen, sondern uns täglich um lösungsorientierte journalistische Ansätze zu bemühen.» An der Konferenz in Genf gab der MEDIENWOCHE Titus Plattner, Reporter beim Recherchedesk und Senior Innovation Projekt Manager, einen kleinen Einblick in den Redaktionsalltag bei Tamedia.

Titus Plattner, Reporter und Innovation-Manager Tamedia:

«Abgesehen von diesem Experiment vor zwei Jahren, wenden wir in unserem Redaktionsalltag konstruktiven Journalismus kaum an, oder zumindest nicht auf eine systematische Art. Es ist aber ein sehr interessantes Konzept und wir überlegen uns sicher, ob wir nicht auch in diese Richtung gehen wollen. Ich glaube allerdings nicht an Einzelprojekte, konstruktiver Journalismus sollte nicht nur punktuell wie etwa in einer Rubrik oder Serie angewendet werden. Die grösste Herausforderung liegt meiner Meinung nach beim nötigen Kulturwandel in den Redaktionen, um neue Reflexe und Herangehensweisen zu entwickeln. Das wird nicht von einem auf den anderen Tag möglich sein. Indem wir bei einer Recherche auch positive Beispiele aufzeigen, könnten wir besser auf die Bedürfnisse der Leserschaft eingehen – wer will schon am Abend vor dem Einschlafen eine News-App öffnen, wenn dort nur negative, deprimierende Nachrichten erscheinen?»

Leserbeiträge

Waldvogel 31. Januar 2019, 22:53

Bedeutet das nun aktive Steuerung auf gewisse Ziele hin? Wenn ja, wo ist da der Unterschied zur Propaganda? Und wer entscheidet, was der konstruktive Lösungsansatz ist? Und wer trennt dann noch zwischen Meinung und Meldung, was eigentlich sauberen Journalismus ausmachen würde? Und ist das vielleicht der Grund, weshalb wir heute die hitzige Fake News Debatte haben?