von Susanne Wenger

Sterbehilfe als Medienereignis

Über Suizidfälle berichten Medien generell vorsichtig. Geht es aber um Sterbehilfe, legen sie jede Zurückhaltung ab. Tatsache ist: Begleitete Suizide nehmen in der Schweiz zu, das Thema ist öffentlich präsent. Die Rolle der Medien wird dabei noch wenig reflektiert.

Eine Schweizerin mit Demenz-Diagnose möchte Suizidbeihilfe beanspruchen, bevor sie den eigenen Namen nicht mehr kennt. Die Zeitschrift «Beobachter» porträtierte kürzlich die Frau, schilderte eindrücklich ihr Ringen um Lebensqualität und Selbstbestimmung. In einem ergänzenden Interview äusserte sich der stellvertretende Leiter der Freitodbegleitung von Exit zum richtigen Zeitpunkt der Suizidbeihilfe. Demenzkranke verpassten diesen oft, stellte er fest, denn wenn jemand nicht mehr urteilsfähig sei, sei ein assistierter Suizid aus rechtlichen Gründen nicht mehr möglich.

«Im Vergleich zum Ausland berichten Schweizer Medien heute unaufgeregt über Suizidbeihilfe.»
Heinz Rüegger, Ethiker und Gerontologe

Medienbeiträge wie dieser zeugen davon, dass Suizidbeihilfe, Tod und Sterben nicht mehr tabu sind. Dem emanzipatorischen Anliegen, über das eigene Lebensende zu bestimmen, verschaffen sie Öffentlichkeit. Es richtet sich gegen eine als paternalistisch empfundene Medizin, eine moralisch bevormundende Kirche. Gleichzeitig könnte man kritisch fragen, ob das Pendel im öffentlichen Diskurs nicht zu sehr auf diese Seite ausgeschlagen ist. Zum Thema Suizidgedanken bei Demenz wären jedenfalls auch Experten denkbar, die nicht in der Sterbehilfe tätig sind. Beispielsweise eine Vertretung der Alzheimervereinigung, die auch die Sicht und die Nöte der Angehörigen einbringen würde.

Der Zürcher Ethiker und Gerontologe Heinz Rüegger beobachtet die Entwicklung beim begleiteten Suizid und die Berichterstattung dazu seit vielen Jahren. Er sagt: «Im Vergleich zum Ausland berichten Schweizer Medien heute unaufgeregt über Suizidbeihilfe.» Die Berichterstattung erfolge vor dem Hintergrund, dass die liberale Gesetzeslage in der Schweiz breit akzeptiert sei. Tatsächlich konnten sich mehrere Versuche in den letzten Jahren, die Suizidbeihilfe ausdrücklich im Strafrecht zu regeln, nicht durchsetzen. Der Bundesrat setzt stattdessen auf Prävention und Palliativversorgung. Suizidbeihilfe ist legal, wenn sie nicht aus eigennützigen Motiven erfolgt. Der Sterbewunsch muss autonom gefällt, wohlerwogen und konstant sein, ein Arzt muss die Urteilsfähigkeit bestätigen, ein Diagnoseschreiben ausstellen und das Sterbemittel verschreiben.

Jede vierte Suizidbegleitung erfolgt nicht bei tödlichen Erkrankungen, sondern bei sogenannt polymorbiden Älteren.

In der Deutschschweiz und im Tessin begleitete Exit letztes Jahr 905 Personen beim Suizid, wie der Verein vor wenigen Tagen bekanntgab. In der Westschweiz schieden 299 Personen mit der Organisation Exit Suisse Romande aus dem Leben. Damit ist ein neuer Höchststand erreicht. Auch der Trend, dass assistierter Suizid in der alternden Gesellschaft zum Seniorenthema wird, setzt sich fort. Oder vielmehr: zum Seniorinnenthema. Mehr Frauen als Männer nehmen sich auf diese Weise das Leben. Die grosse Mehrheit der Begleiteten ist im Rentenalter, bei Exit im Schnitt über 78-jährig. Und schon jede vierte Begleitung erfolgt nicht bei tödlichen Erkrankungen, sondern bei sogenannt polymorbiden Älteren. Dabei gehe es um «mehrere Gebrechen und Gebresten, die der alte Mensch nicht mehr ertragen will», wie Exit-Sprecher Jürg Wiler sagt.

Suizidbeihilfe ist in der Schweiz also eine Realität, und die Medien informieren darüber. Doch wie sollen sie das tun? Die Baselbieter Lokalredaktion der «bz Basel» steht immer wieder vor dieser Frage, weil die Sterbehilfeorganisation Lifecircle in ihrer Region tätig ist. Die Zeitung stellt zu bestimmten Berichten einen Kasten mit Informationen zu Hilfsangeboten bei Suizidgedanken. Ein bewusster Entscheid, sagt Ressortleiter Hans-Martin Jermann: «Von der redaktionellen Haltung her stehen wir der Sterbehilfe offen gegenüber, auch aus einem liberalen Verständnis heraus. Aber wir wollen sie mit unseren Berichten nicht noch promoten.»

Offensiv geht die Westschweizer Zeitung «Le Temps» ans Werk. Auf ihrer Website bietet sie einer französischen Suizidbeihilfe-Aktivistin eine Plattform. Titel des Blogs: «La vieillesse est une maladie incurable.» (Deutsch: Das Alter ist eine unheilbare Krankheit.) Die Frau, sie ist Mitte siebzig, hat angekündigt, sich Anfang nächsten Jahres im Berner Oberland mit Lifecircle das Leben zu nehmen. In Frankreich, wo sie wohnt, ist Suizidbeihilfe verboten. Die Französin will sterben, bevor Altersbeschwerden sie erreichen und solange sie noch «schön» ist («mourir encore belle»).

Der nächste laute Tod in der Schweiz ist bereits angekündigt, eine sterbewillige Französin betreibt auf der «Le-Temps»-Website einen Blog.

Neben der Begründung löste auch die Mediatisierung des geplanten Suizids – so er denn tatsächlich stattfinden wird – kontroverse Reaktionen aus. Das gehe zu weit, sagte selbst ein Vertreter von Exit Suisse Romande am Westschweizer Fernsehen. Warum das «Le-Temps»-Blog? Die Debatte über das Lebensende verändere sich, das zeige die sterbewillige Autorin, sagt Online-Chefredaktor Gaël Hurlimann zur MEDIENWOCHE: «Sie will eine Diskussion anstossen über das Altern und den Tod. Das sind Themen, die wir nicht verdrängen sollten.» Als Gastautoren seien die «Le-Temps»-Bloggerinnen und- Blogger frei, ihre Meinung zu schreiben, so der Digitalchef. Das Blog sei eingebettet in kritische redaktionelle Berichte über das Vorgehen der Französin und allgemein zum assistierten Suizid und zur Frage, wo dessen Grenzen lägen. Demnächst wird sich der Presserat zur «Le-Temps»-Berichterstattung äussern, denn die Schweizer Bischofskonferenz hat eine Beschwerde eingereicht.

Für das ganze letzte Jahr weist die Schweizer Mediendatenbank SMD über 1200 Beiträge mit den Stichworten «Sterbehilfe» und «Suicide assisté» aus. Zum Vergleich: Fünfzehn Jahre vorher waren es noch nicht einmal halb so viele. Anlässe um zu berichten, gab und gibt es immer wieder. 2018 waren das unter anderem die kontroverse Debatte um die Rolle der Ärzte und die Bestrebungen von Exit, dass alte Menschen erleichterten Zugang zu Suizidbeihilfe erhalten sollten. Greifen die Medien solche umstrittenen Themen auf, üben sie eine gewisse Kontrollfunktion aus und ermöglichen Meinungsbildung. Doch auch über konkrete Suizide wird berichtet. Und spätestens da wird es laut Präventionsfachleuten heikel.

Wie im Mai 2018, als ein 104-jähriger Australier in die Schweiz reiste, um sich hier mit Lifecircle das Leben zu nehmen. Um die Botschaft zu verbreiten, dass älteren Menschen mit Sterbewunsch überall auf der Welt das Recht auf Suzidbeihilfe zustehen sollte, inszenierte er sein Ableben öffentlich. Das Medieninteresse war riesig. Internationale und Schweizer Medien berichteten ausführlich. Bis zu den Vorbereitungshandlungen im Sterbezimmer in Liestal hielten die Kameras drauf. Er sei nicht unheilbar krank, sah man ihn noch den Arzt korrigieren, der ihm das nötige Formular zur Unterschrift vorlegte. Der Suizid eines alten Mannes als globales Medienereignis.

Über den begleiteten Suizid eines 104-jährigen Australiers in der Schweiz wurde genau so berichtet, wie Fachleute seit Jahren davon abraten. Weil die Forschung den sogenannten Werther-Effekt kennt.

«Das war ein katastrophales Signal», findet Thomas Reisch. Der ärztliche Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen im Kanton Bern forscht zu Suizid und Suizidprävention. Er kritisiert nicht, dass berichtet wurde, sondern wie: schlagzeilenträchtig, in allen Einzelheiten, glorifizierend («neue Ikone der Sterbehilfe», «letzte Mahlzeit wie Jesus Christus»), den Suizid als einzige Lösung darstellend. Also exakt so, wie Fachleute seit Jahren davon abraten. Weil die Forschung den sogenannten Werther-Effekt kennt. Er besagt, dass unbedachte Medienberichte zu Nachahmungssuiziden führen. Werther-Effekt wird das Phänomen genannt, weil schon im 18. Jahrhundert der fiktionale Suizid in Goethes Roman junge Intellektuelle reihenweise zum Suizid veranlasst haben soll.

Den Werther-Effekt wies vor mehr als vierzig Jahren der US-Soziologe David Phillips erstmals nach. Seither wurde er mehrfach untersucht. Studien spezifisch zur Wirkung von Berichten über assistierten Suizid fehlen, sowohl auf medienwissenschaftlicher wie auch auf medizinischer Seite. Organisierte Beihilfe ist ein jüngeres Phänomen und in vielen Ländern verboten. Doch für Reisch spricht manches dafür, ebenfalls von einem Werther-Effekt auszugehen. «Gerade bei älteren Menschen setzt sich das im ‹Mindset›, also in der Denkweise, fest und wird hervorgeholt, wenn die Lebensumstände schwierig werden, zum Beispiel, weil eine Pflegebedürftigkeit eintritt», sagt der Suizidforscher. Alternativen zum begleiteten Suizid würden diese dann gar nicht mehr in Erwägung ziehen. Suizidale Personen hätten eine Art Tunnelblick auf sich selbst, sagt Reisch: «Die oft auch von den Medien kolportierte Feststellung, es handle sich um Bilanzsuizid, frei und rational gefällt, ist zu hinterfragen.»

Eine Häufung von Berichten kann im Einzelfall die Schwelle senken, Suizidbeihilfe zu beanspruchen.

Die Basler Alterspsychiaterin und Wissenschaftlerin Gabriela Stoppe betrachtet die Berichterstattung ebenfalls mit Sorge: «Während es Konsens gibt, über Suizid möglichst nicht zu berichten, um Nachahmungstaten zu verhindern, kann ich das beim assistierten Suizid nicht feststellen, ganz im Gegenteil.» Eine Häufung von Berichten kann laut Stoppe im Einzelfall die Schwelle senken, Suizidbeihilfe zu beanspruchen. Besonders, weil diese medial oft in ein beinahe positives Deutungsraster gestellt werde: die saubere Suizidvariante, friedlich, zu Musik. Beim 104-jährigen Australier war es Beethovens 9. Symphonie, wie die Medien rapportierten.

Die Sterbewilligen würden in den Medien als sehr selbstbestimmt beschrieben, was die Professorin einseitig findet. «Sterbewünsche gehen bei alten Menschen oft mit Ängsten einher: Angst vor Abhängigkeit, vor Würdeverlust, vor den Pflegekosten», sagt Stoppe, die eine Praxis für mentale Probleme im höheren Lebensalter leitet. Sie ist auch Präsidentin von Ipsilon, dem Dachverband für Suizidprävention in der Schweiz. Ipsilon stellt Journalistinnen und Journalisten einen Leitfaden mit Empfehlungen zur Darstellung von Suizid in den Medien zur Verfügung. Dieser wird jetzt überarbeitet und an die Entwicklungen bei der Suizidbeihilfe und den digitalen Medien angepasst.

Der Journalistenkodex sagt: Nur in bestimmten Fällen sei das öffentliche Interesse an Berichten über Suizid gegeben.

Die Medienbranche unterwirft sich der freiwilligen Selbstverpflichtung, bestimmte Formen der Suizidberichterstattung aus dem publizistischen Wettbewerb zu nehmen. In der Richtlinie 7.9. des Journalistenkodexes mahnt der Schweizer Presserat zu Zurückhaltung. Nur in bestimmten Fällen sei das öffentliche Interesse an Berichten über Suizid gegeben. Die Richtlinie basiert auf einem Leitentscheid des Presserats von 1992, den Medienwissenschaftler Roger Blum ausarbeiten half. Die Stellungnahme sei auf herkömmliche Suizide gemünzt gewesen, erinnert sich der heutige Ombudsmann von Schweizer Radio und Fernsehen: «Die Suizidbeihilfe war damals noch kein grosses Thema.»

Doch seither hat sich der Presserat, die Instanz für medienethische Fragen, mehrmals mit Beschwerden zu Berichten über Suizidbeihilfe befasst. Daraus ist abzulesen, dass das Gebot der Zurückhaltung auch für diese gilt. Eine Zeitung beschrieb die bei der Sterbehilfeorganisation Dignitas verwendete Methode im Urteil des Presserats zu detailliert. Hingegen verletzte ein TV-Dokumentarfilm über einen psychisch kranken Arzt, der mit Exit in den Tod ging, die Branchenregeln nicht. Die Nachahmungsgefahr bestehe grundsätzlich, befand der Presserat, doch der Film sei nicht reisserisch aufgemacht gewesen.

Die Medienpräsenz von Promis, die sich öffentlich zu ihrer Mitgliedschaft bei einer Sterbehilfeorganisation bekennen, bringt Exit & Co. jeweils sprunghaft Zulauf.

Zu vielbeachteten Mediengeschichten wurden in den letzten Jahren Schweizer Prominente, die ihre Mitgliedschaft bei einer Sterbehilfeorganisation publik machen. Ständerat This Jenny, Fussballtrainer Timo Konietzka und Sportreporter-Legende Karl Erb nahmen sich mit Exit das Leben. Jenny und Konietzka waren unheilbar an Krebs erkrankt. Erb, der mit 92 Jahren starb, war wegen einer Augenkrankheit fast blind und litt an einer Herzkrankheit. Bevor er seine Selbständigkeit ganz verliere, werde er seinem Leben ein Ende setzen, hatte er zuvor im «Blick» angekündigt. Solche Medienpräsenz bringt den Sterbehilfeorganisationen jeweils sprunghaft Zulauf. 2014, als der populäre This Jenny mit Exit ging, traten 12’000 Neumitglieder bei. Der Verein hat heute über 120’000 Mitglieder, mehr als je zuvor.

Ob prominent oder nicht, wenn Mitglieder von sich aus an die Öffentlichkeit gelangten, würden sie zu «Botschaftern des selbstbestimmten Sterbens», sagt Exit-Sprecher Jürg Wiler. Auch Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit durch Exit selber sei nötig, weil sich dem Anliegen «leider immer noch Behördenkreise, Teile des Gesundheitswesens und die Kirchen entgegenstellen». Bei Exit glaubt man nicht, dass die öffentliche Präsenz des Themas zu mehr assistierten Suiziden führt. Exit begleite nur nach wohlüberlegtem Entscheid aus schwerwiegenden Gründen: «Falls es bei jemandem einen Nachahmereffekt gäbe, würde das im internen Kontrollverfahren auffallen.»

Die Zahl der assistierten Suizide in der Schweiz hat sich zwischen 2003 und 2016 verfünffacht.

Eine Mitgliedschaft bedeute nicht, dass Suizidbeihilfe in Anspruch genommen werde, sagt der Sprecher zu den anschwellenden Mitgliederzahlen. Bei den meisten komme es nicht soweit: «Doch allein die Gewissheit, dass der Notausgang bei unerträglichem Leiden bestünde, wirkt entlastend.» Nur 1,5 Prozent aller Sterbefälle in der Schweiz seien auf assistierten Suizid zurückzuführen, fügt Wiler an. Fakt ist aber auch: Die Zahl der assistierten Suizide in der Schweiz hat sich zwischen 2003 und 2016 verfünffacht, von 187 auf 928 Fälle pro Jahr. Und ab 2020 kommen die geburtenstärksten Babyboomer-Jahrgänge ins Rentenalter, eine Generation, die Werte wie Autonomie und Selbstbestimmung besonders hochhält.

Ist es der Zeitgeist, der zu mehr Suizidbeihilfe führt? Die Prägekraft des öffentlichen Diskurses? Da kann schon die Sprache einen Unterschied machen, wie eine letztes Jahr publizierte, gemeinsame Studie von Münchner Medienforschern und Wiener Medizinern nachweist. Texte mit dem Begriff «Freitod» führten bei Leserinnen und Lesern zu einem grösseren Verständnis für den Suizid unheilbar Kranker als solche, in denen von «Selbstmord» oder «Suizid» die Rede war. Die Forschenden empfehlen den Medien, neutrale, nichtwertende Begriffe wie Suizid und assistierter Suizid zu verwenden. In der Schweiz wird Suizidbeihilfe medial meist als Sterbehilfe bezeichnet, was den Aspekt des Suizids gänzlich verdeckt. Juristisch unpräzis ist es sowieso.

Medienwissenschaftler Roger Blum plädiert dafür, sich bei der Berichterstattung über Suizidbeihilfe auf eine medienethische Perspektive zu konzentrieren.

Über die Wirkung von Medien lasse sich ewig streiten, sagt der emeritierte Medienwissenschaftler Roger Blum. Er plädiert dafür, sich bei der Berichterstattung über Suizidbeihilfe auf eine medienethische Perspektive zu konzentrieren. Dazu gehöre, den Persönlichkeitsschutz für Betroffene und Angehörige bei diesem sehr privaten Thema zu wahren und die Suizidbeihilfe vor allem als gesellschaftliches Phänomen darzustellen: die Debatte abzubilden, Pro und Kontra sowie mögliche Folgen aufzuzeigen. Einzelne Suizide «mitzuzelebrieren», hält Blum «medienethisch nicht für opportun».

Auch die anderen Fachleute, mit denen die MEDIENWOCHE sprach, empfehlen eine Öffnung des Blickwinkels. «Der assistierte Suizid ist nur ein kleiner Teil des selbstbestimmten Sterbens», sagt Ethiker Heinz Rüegger. Das moderne Gesundheitswesen fordere uns alle heraus, festzulegen, wie lange die Medizin gegen den Tod ankämpfen solle. In fast sechzig Prozent der Todesfälle in der Schweiz geht ein Entscheid voraus, das Sterben zuzulassen. Das überfordere viele, weiss Rüegger, der auch als Heimseelsorger tätig war: «Es ist ein neues kulturelles Paradigma des Sterbens, das in den Medien noch kaum Widerhall findet.»

Im Bereich Suizidprävention wird den Medien Verantwortung zugesprochen. Denn neben dem Werther-Effekt ist auch der Papageno-Effekt nachgewiesen: dass umsichtige Berichterstattung Suizide und Suizidgedanken reduzieren kann. Benannt ist der Effekt nach Mozarts Opernfigur Papageno, der dank mitmenschlichem Beistand eine suizidale Krise überwindet. «Berichte über Hilfsangebote für ältere Menschen oder ein Porträt von jemandem, der vom Suizidwunsch abgekommen ist und die Situation gemeistert hat, könnten bei assistierten Suiziden protektiv wirken», sagt Suizidforscher Thomas Reisch.

Für Präventionsexpertin Gabriela Stoppe gehört auch eine stereotype Medienberichterstattung über das Alter und den demografischen Wandel in dieses Kapitel: «Ich lese oft den Begriff ‹Überalterung›, der das Alter abwertet.» Medien sollten nicht zu einem gesellschaftlichen Klima beitragen, in dem die Älteren sich als Last vorkämen, sagt Stoppe. Die Langlebigkeit sei eine historisch neue Situation, den Umgang damit gelte es noch zu erlernen: «Kommen wir doch öffentlich ins Gespräch über Lebenssinn im hohen Alter. Und darüber, wie Unterstützung für alte Menschen gemeinschaftlich organisiert werden kann.» Denn auch als selbstbestimmte Individuen, sagt die Alterspsychiaterin, «leben wir in Beziehungen.»

Leserbeiträge

Urs Zumbrunn 21. Februar 2019, 22:15

„Denn auch als selbstbestimmte Individuen, sagt die Alterspsychiaterin, «leben wir in Beziehungen.»“

Am Ende meines Lebens werde ich mit meinen Söhnen innerhalb einer gefestigten Beziehung mit Ihnen über mein allfällig selbstbestimmtes Ableben reden und verhandeln können. Im Gegensatz zur Situation, in der ich mit ihnen bei deren Entstehung stand, überlässt die Gesellschaft den Entscheid über deren Leben und Tod allein der Mutter — Beziehungen hin oder her.

Es braucht also noch einige Medienberichte, bis allgemein begriffen ist, dass es sich bei meinem begleiteten Freitod um mein ganz eigenes Leben geht.