Recherchen, die wirken
Der Journalismus erfüllt seine Rolle als Vierte Gewalt am wirkungsvollsten, wenn er etwas bewegt. Doch ist Wirkung planbar? Und wie lässt sie sich messen?
Der Chef einer Bank investiert in eine Firma. Daraufhin kauft seine Bank diese Firma. Seine Doppelrolle als Käufer und Verkäufer legt der Chef nicht offen. Er vervielfacht seinen privaten Gewinn.
Der Journalist Lukas Hässig erzählt diese Geschichte ungerechtfertigter Bereicherung auf seinem Blog Inside Paradeplatz. Wenig passiert. Er legt mit Details nach. Kein anderes Medium recherchiert weiter. Im Frühjahr 2018 kommt der ehemalige Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung in Untersuchungshaft. Das Verfahren läuft noch.
Im Alleingang deckt Hässig einen der vermutlich grössten Wirtschaftsskandale auf. Ein paar Jahre vorher enthüllt er, dass Daniel Vasella, damals abtretender Verwaltungspräsident von Novartis, als Abfindung 72 Millionen auf einem privaten Konto parkiert hatte. Der Primeur wird breit debattiert, schliesslich gibt Vasella das Geld zurück.
Hässig bringt auf Inside Paradeplatz immer wieder die Mächtigen in Erklärungsnot. Rechnet er jeweils mit grosser Wirkung? «Nicht immer. Bei Vincenz war ich sicher, bei Vasella nicht. Ich dachte nicht, dass Vasella die Millionen zurückgibt», sagt Hässig am Telefon.
MEDIENWOCHE:
Denken Sie vorab über die mögliche Wirkung Ihrer Recherchen nach?
Lukas Hässig:
Täglich. Ich will maximale Wirkung erzielen, Nachhall erzeugen, das Publikum berühren. Den Wert einer Geschichte kategorisiere ich dabei nicht nach der Grösse der Wirkung.
MEDIENWOCHE:
Wollen Sie sich auch an Bankern rächen?
Lukas Hässig:
Wozu? Ich bin ein Aussenstehender. Ich weiss nicht, was Banking ausmacht. Ich weiss, was Journalismus ausmacht.
MEDIENWOCHE:
Besteht die Tendenz, dass Sie trotzdem publizistisch eine intendierte Wirkung anstreben – wenn Sie etwa CS-Chef Tidjane Thiam nicht mehr haltbar finden?
Lukas Hässig:
Ob Thiam weg muss, überlege ich mir nicht. Ich frage mich: Ist Beschattung zulässig? Ich finde nicht. Thiam hat offenbar eine andere Meinung – er will ja nichts davon gewusst haben. Dem gehe ich nach und suche nach Verantwortlichen. Mag sein, dass man hin und wieder Blut leckt, doch nicht das treibt mich an.
MEDIENWOCHE:
Was treibt Sie an?
Lukas Hässig:
Machtmissbrauch aufzudecken. Meine Pflicht als vierte Gewalt zu erfüllen. Ich will es richtig machen, bei allen Fehlern, die unterlaufen. Geld ist die Spur, der man folgen muss, will man enthüllen. Inside Paradeplatz funktioniert wie der Boulevard: laut sein, kommentieren, zuspitzen – so erzielt man Wirkung. Den Boulevard finde ich übrigens nicht schäbig, er rüttelt wach.
MEDIENWOCHE:
Was heisst für Sie zuspitzen?
Lukas Hässig:
Schreiben wie mit einem gespitzten Bleistift: scharf, klar, direkt.
Auch die «Republik»-Reporterin Adrienne Fichter sieht sich im Dienste der Gesellschaft. Wirkung zu erzielen heisst für sie, die Gesellschaft über die Gefahren der Digitalisierung aufzuklären. «Wir alle sind in diesem Überwachungskapitalismus handlungsfähig», sagt sie am Telefon. Ihre Haltung: Stärkung der Demokratie, Schutz der Privatsphäre, Transparenz im Umgang mit Daten. Diese Haltung transportiert sie auch in ihren Texten. Doch sieht sie dies als Gratwanderung zwischen Haltung und Aktivismus: «Je mehr ich über die Abgründe der Digitalisierung erfahre, desto vorsichtiger muss ich mich auf dieser feinen Linie bewegen.» Anfragen für Mitgliedschaften in Gremien etwa lehnt sie trotz vorhandenem Interesse ab. Sie hat den Blick der Journalistin, der ihr lieb ist, und will Themen frei von ihrer Meinung beleuchten. Beim E-Voting etwa vertrat sie erst keine Position, später eine positive, und nachdem sie Sicherheitslücken erkannt hatte, schliesslich eine negative. «Ich habe viel erreicht, wenn die Bevölkerung informiert ist. Was sie daraus macht, will ich nicht beeinflussen», sagt sie.
Über die mögliche Wirkung einer Geschichte denkt Fichter vorab nicht nach. Sie geht meist von den Fragen aus: Was ist neu? Was lernt das Publikum? Nach der möglichen Wirkung fragt sie sich erst bei der Umsetzung, wenn sie Erzählweisen oder sprachliche Mittel einsetzt, um Dringlichkeit zu vermitteln.
Wirkung im Kleinen erfährt Fichter als sinnstiftend. Etwa bei der Initiative zu «No Billag» oder dem Referendum gegen die Sozialdetektive eruierte sie bei einigen Plattformen, dass diese Daten sammelten, ohne die Nutzenden ausreichend darüber zu informieren. «Sie ergänzten die Datenschutzhinweise, nachdem ich für eine Stellungnahme angefragt hatte. Solche Erfahrungen inspirieren mich.» Sie wünscht sich breitere Debatten zur Digitalisierung in der Schweiz.
Die Wirkung des Journalismus über Klickzahlen hinaus zu messen und offenzulegen, würde das Vertrauen der Gesellschaft in die Medien stärken.
Die Wirkung journalistischer Arbeit lässt sich schwer messen. Ist Wirkung: Aufsehen erregen, die Welt verbessern, Ungereimtheiten enthüllen? Zudem verflüchtigt sich Wirkung heute durch die Flut an Information oder Desinformation. Redaktionen messen Seitenaufrufe, Klicks, Verweildauer, weil diese Faktoren Teil des Einkommens via Werbetreibende und Nutzende sind. Doch über die Wirkung sagen diese Zahlen noch nichts aus. Die drei Artikel über Pierin Vincenz, sagt Hässig, lieferten nur mittelprächtige Klickzahlen. Doch ihre Wirkung war massiv.
Die Wirkung des Journalismus über Klickzahlen hinaus zu messen und offenzulegen, würde das Vertrauen der Gesellschaft in die Medien stärken, schreibt Patrick Butler, Vizepräsident des International Center for Journalists. Doch wie lässt sich ein kaum greifbares Phänomen messen?
Einen Versuch, Wirkung zu messen, initiierte 2015 die Journal News Media Group, in White Plains, unweit von New York. Das regionale Medienhaus, das dem amerikanischen Medienkonzern Gannett gehört, entwickelte den sogenannten Impact Tracker. Mit einem Online-Tool können Autorinnen und Autoren aus zwölf Kategorien mögliche Wirkungsphänomene wählen, die ihre Geschichte nach Publikation auslösen könnte: etwa eine Gesetzesänderung, Untersuchungen seitens Behörden, Engagement in der Bevölkerung und weitere. Mit dem Impact Tracker lassen sich über unbestimmte Zeiträume vermutete oder eingetretene Wirkungsphänomene publizierter Artikel mitsamt Eigenschaften festhalten. Dies ermöglicht Autorinnen und Autoren, die intendierte und tatsächliche Wirkung einer Publikation zu vergleichen oder Entwicklungen zurückzuverfolgen.
«Magazin»-Reporter Hannes Grassegger denkt vorab nicht über die mögliche Wirkung seiner Geschichten nach. Seine Reportagen über Facebook beförderten weltweit Recherchen und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. «Impact ist unvorhersehbar. Vorab darüber nachzudenken, ist müssig. Etwa bei der Geschichte über die Content-Moderatoren bei Facebook entfaltete sich der impact nach und nach», sagt er am Telefon. «In Deutschland ergänzte man das Netzwerkdurchsetzung-Gesetz betreffend der Transparenz über die psychologische Betreuung von Content-Moderatoren. Und zwei Jahre nach Publikation sass ich 2018 in der US-Senatsanhörung von Sheryl Sandberg, als plötzlich aus diesem Text zitiert wurde. Damit hätte ich nicht gerechnet.»
Für Grassegger zählt vor der Recherche nicht die möglich Wirkung, sondern «wie ich meine Quellen und Familie schütze. Erst danach komme ich. Meine Frau meint, ich hätte einen suizidalen Trieb bei der Wahl meiner Geschichten.» Für ihn sind es heilige Missionen. Dringlichkeit treibt ihn dabei an. «Ich erzähle, was erzählt werden muss. Würde ich mögliche gesellschaftliche Folgen voranstellen, könnte ich nicht Reporter sein.»
Weder bei seinen Recherchen zu Facebook noch bei «Die Finkelstein Formel» hatte Grassegger mit Wirkung in dieser Grösse gerechnet. «Bei Cambridge Analytica dachte ich, das interessiere bloss die Nerds.» Die Kritik aus dem deutschsprachigen Raum betreffend Zuspitzungen im Text teilt er nicht: «Die Kritiker positionieren sich so, als hätten intendierte Zuspitzungen den impact ausgelöst. Dabei waren es die didaktischen Inhalte zu Big Data. Wir rüttelten an Konzepten. Der Reflex war wie üblich Ablehnung.»
Über die mögliche Wirkung einer Geschichte vorab nachzudenken, findet Grassegger unverantwortlich, denn er sieht sich als Überbringer von Informationen. «Meine Mission ist nicht die Welt zu verbessern, sondern die Welt abzubilden. Ich kämpfe für Informationen, nicht für politische Ziele.» Mit der möglichen Wirkung befasst er sich einzig bei der Textgattung Essay, etwa in «Ein GA für News», «wo ich etwas vorschlage, argumentiere, kommentiere. Bei der Reportage folge ich der Faszination für die Geschichte.» Unabhängig von der Textgattung zählt für ihn die Wirkung der Sprache: «Sie soll treffend sein, damit ankommt, was ich sage.»
Forschung: «Generell erzeugen Bildmedien stärkere, affektive Wirkung»
Heinz Bonfadelli, emeritierter Professor der Universität Zürich, befasste sich als Medienwissenschaftler mit diversen Phänomenen der Wirkungsforschung. In den 1950er-Jahren, erzählt Bonfadelli am Telefon, sei man in der Wirkungsforschung davon ausgegangen, die Medien würden Meinungen nur bestätigen und nicht verändern. In den 1970er-Jahren habe man zusätzlich die kognitiven Effekte erkannt: «In den Medien ständig präsente Themen erachteten Menschen auch als wichtig, das nennt sich Agenda-Setting-Effekt», sagt Bonfadelli. «Heute befasst sich die Wirkungsforschung vor allem mit Medien-Frames: Wie Meinungen, Haltung und Ton in der Berichterstattung zu einem Thema die Sichtweise des Publikums prägen.»
Die Medienwirkungsforschung, sagt Bonfadelli, beobachte die Wirkungsphänomene beim Individuum. Der Fokus liege je nach Theorie auf der Art und Dauer der Wirkung: «Bilder etwa erzeugen vor allem affektive Wirkung, Texte kognitive. Der Boulevard etwa arbeitet mit viel Bildern und erzeugt vorwiegend affektive Wirkung, während anspruchsvolle Texte eines Magazins kognitive Wirkung erzeugen», sagt er. «Generell erzeugen Bildmedien stärkere, affektive Wirkung, weil man kaum Zeit zum Verarbeiten hat. Doch die Effekte können sich je nach Involviertheit eines Individuums unterscheiden.» Für die Art der Wirkung sind Bonfadelli zufolge nebst dem Medium auch das jeweilige Mediensystem und die kulturelle Prägung entscheidend. «In einem Land mit gleichgeschalteten Medien wirkt Kritik am System anders als in einem liberalen System. Zudem kann Wirkung stärker sein, wenn man keinen unmittelbaren Kontext dazu hat. Eine Reportage aus Syrien etwa wirkt auf das Publikum eines Schweizer Mediums erschreckender als auf die Menschen vor Ort, die den Krieg erleben.»
Jeglicher Wirkungsprozess setzt die Präsenz eines Themas in den Medien voraus. Wie essenziell dies ist, zeigte der Politologe Daniel Kübler von der Universität Zürich 2018 in einer Studie: Je magerer die lokale Berichterstattung über eine Gemeinde, desto geringer ist dort die Wahlbeteiligung.
«Wirkung beginnt, wenn eine Person ein bestimmtes Thema in den Medien wahrnimmt», sagt Bonfadelli zur ersten Phase des Wirkungsprozesses. «Dann bestimmt die Neugier die zweite Phase: Die Person will mehr über das Thema erfahren und liest den Artikel oder schaut die Sendung. Schliesslich erzielt diese Information gegebenenfalls eine Wirkung auf das Verhalten oder die Sichtweise dieser Person.» (Tuğba Ayaz)
Bilder: René Ruis (Hässig), Anne Morgenstern (Fichter), Miguel Kratzer (Grassegger)