«Beständigkeit ist, was zum Erfolg führt»
Walter Bingham ist mit seinen 96 Jahren laut Guinnessbuch der Rekorde der «älteste aktive Radio-Talk-Host» der Welt. Er hat als jüdischer Holocaustflüchtling einen Nazi interviewt, spielte bei Harry Potter mit und hat keine Zeit für Frauen. Zu Besuch bei Walter in Jerusalem.
«An guten Tagen fühle ich mich wie 40. An schlechten wie 50», sagt Walter Bingham. An den Wänden seiner Wohnung in Jerusalem hängt noch die «Birthday-Boy»-Bordüre seines 96. Geburtstags von letzter Woche. In der Ecke liegt ein schrumpeliger Ballon seines 95. «Ich lass die Dekoration gern hängen. Eigentlich feiere ich jeden Tag Geburtstag.»
Walter lebt ein Leben, das eigentlich nie hätte gelebt werden sollen: Als jüdischer Junge, geboren in Deutschland, überlebte er den Holocaust nur, weil er mit 15 Jahren mit dem Kindertransport nach England kam. Getrennt von seiner Mutter, die er erst mit 22 Jahren wiederfand, und getrennt von seinem Vater, der nach seiner Deportation vermutlich in Polen starb.
Heute kennt man Walter in Israel von seiner gleichnamigen Radio-Talksendung «Walter’s World», die auf «Arutz 7», einem bekannten nationalen israelischen Radiosender, wöchentlich ausgestrahlt wird. Die Wände seines Heimstudios zeigen Aufnahmen von ihm und namhaften Persönlichkeiten, wie etwa Israels Präsident Reuven Rivlin. Und neben all den Bildern hängt es. Das Zertifikat, das ihm seinen wohl bekanntesten Titel gebracht hat: «Guinness World Record: The oldest radio talk show host», 2017.
In seinem langen Leben durfte Walter bereits viel erleben: In die «Legion d’Honneur» Frankreichs wurde er 2018 aufgenommen für seinen Dienst in der britischen Armee. 1944 war er als Soldat an der Operation Neptune beteiligt zur Befreiung Frankreichs. Eine weitere Medaille für «Mut auf dem Feld» erhielt er vom britischen König George VI.
Mit 94 Jahren stellte Walter seinen zweiten Weltrekord auf: Den Titel «Ältester Skydriver der Welt» trägt er noch immer. Dann spielte er in zwei «Harry Potter»-Filmen einen Zauberer und wurde wegen seines stolzen Bartes als Weihnachtsmann für Londons bekannteste Warenhäuser Harrods und Selfridges gebucht.
Seit 2004 lebt der gebürtige Deutsche, dessen Akzent im Englischen noch immer hörbar ist, in Jerusalem, wo auch seine einzige Tochter wohnt. Auch die beiden Enkel sind ganz in der Nähe. Walters Frau lebt schon lange nicht mehr. Eine neue wolle er nicht. Die seien ihm alle zu alt, auch die 75-Jährigen. Die meisten älteren Menschen sprechen nur über ihre Gebrechen. Das sei nichts für Walter. Für eine Beziehung habe er ausserdem auch gar keine Zeit.
Aktuell legt er sich mit dem Guinness-Rekorde-Komitee an, weil er als «ältester aktiver Journalist» ausgezeichnet werden will. Er sagt, sie verweigerten ihm den Titel.
Walter will nicht gesiezt werden.
MEDIENWOCHE:
Walter, reicht dir der Titel «ältester Radio Talk Show Host» nicht?
Walter Bingham:
Als ich vor zwei Jahren diesen Titel erhielt, war der «älteste aktive Journalist» in derselben Ausgabe 92 Jahre alt. Ich weiss also mit Sicherheit, dass ich der älteste bin. Aber die wollen Radiojournalismus nicht als Journalismus anerkennen. Das regt mich wahnsinnig auf. Deshalb halte ich mich jetzt widerwillig an die Auflagen des Komitees, damit ich doch noch zum Titel komme.
MEDIENWOCHE:
Wie lauten diese Auflagen?
Walter Bingham:
Ich arbeite jetzt nur noch nach Skript, schreibe Fragen auf und später auch die Antworten meiner Talkgäste. Die wollen einen Printartikel sehen, um mich als Journalist zu akzeptieren. Soll doch irgendjemand eines meiner vielen Interviews drucken, damit die zufrieden sind. Diese Geschichte ist doch komplett verrückt: Ist denn ein Radiojournalist, der mit dem Mikrofon aus der Kriegszone berichtet, kein Journalist, weil er nicht schreibt? Bin ich weniger Journalist, weil meine Fragen und Antworten nicht auf einem Blatt stehen? Hier öffnet sich eigentlich eine grundlegende journalistische Diskussion.
MEDIENWOCHE:
Du bist 96 Jahre alt. Warum arbeitest du überhaupt noch?
Walter Bingham:
Viele Menschen sagen: Wenn du älter wirst und pensioniert bist, kannst du all das machen, was du immer tun wolltest. Ich kenne keine Pensionierung und das ist alles, das ich machen will. Ich hab mich aktiv dazu entschieden, meine Freizeit meinem Job zu widmen. Für meine Talkshow verlange ich heute kein Honorar mehr. Das hab ich nicht mehr nötig. Aber ich liebe diese Arbeit und bin mit 96 Jahren beschäftigter als eh und je. Mich macht dieses aktive Leben glücklich.
MEDIENWOCHE:
Erinnerst du dich an dein erstes Interview?
Walter Bingham:
Da war ich vielleicht 23 Jahre alt und diente der Britischen Armee. Zuerst war ich dort Krankenwagenfahrer, dann konnte ich aufgrund meiner Deutschkenntnisse zum Geheimdienst wechseln. Ich wurde dann nach Deutschland versetzt und interviewte ein Jahr nach Kriegsende unter anderem Joachim von Ribbentrop, der während des Deutschen Reichs Aussenminister war. Ich sprach damals mit ihm extra auf Deutsch mit englischem Akzent.
MEDIENWOCHE:
Wusste Ribbentrop, dass du jüdisch bist?
Walter Bingham:
Vielleicht hatte er eine Ahnung, ich bin mir nicht sicher. Für mich war das emotional natürlich eine grosse Herausforderung. Ich musste meine Gefühle damals sehr zügeln und professionell bleiben, auch als Ribbentrop mir ins Gesicht log und sagte, er habe von der «Endlösung» nichts gewusst.
MEDIENWOCHE:
Die Armee war also dein Einstieg in den Journalismus?
Walter Bingham:
Das kann man so sagen. Ich hab später auch für jüdische Publikationen geschrieben. Doch ich war nicht durchgehend Journalist. Mit Radio begann ich vor zirka fünfzig Jahren und als ich 2004 nach Israel auswanderte, wollte ich damit nicht aufhören. Wenn mir heute jemand erzählt, es sei für ihn schwer, mit 60 eine neue Stelle zu finden, dann sag ich: Versuch das mal mit 80. In dieser Situation fand ich mich hier wieder, als ich in Israel ankam. Dabei wollte ich nicht einmal bezahlt werden. Ein befreundeter Chefredakteur hatte mir vor meiner Auswanderung eine Talkshow zugesichert. Dennoch musste ich die HR-Dame in Jerusalem zum Interview treffen. Als die mich sah und nach meinem Alter fragte, wollte ich nicht antworten. Natürlich war sie aufgrund meines Alters nicht bereit, mich einzustellen. Doch zu meinem Glück hat das nach guter Überzeugungsarbeit doch noch funktioniert.
MEDIENWOCHE:
Du tust noch so manches, was ein jüngerer Mensch nicht tut. Wie zum Beispiel aus einem Flugzeug springen…
Walter Bingham:
Ach, das kann jeder. Ich hab den Pilotenschein und bin bis vor wenigen Jahren noch selbst geflogen. Skydiving setzt im Gegensatz zum Pilotsein keine Qualifikation voraus. Du musst nur springen und das kann jeder. Aber im Flugzeug zu sitzen und seine eigenen Füsse vor dem Absprung über dem Abgrund schweben zu sehen, war beeindruckend.
MEDIENWOCHE:
Bis wann gedenkst du zu arbeiten?
Walter Bingham:
Ich verstehe diese Frage nicht.
MEDIENWOCHE:
Hast du einen Ratschlag an junge Journalisten, der dir besonders am Herzen liegt?
Walter Bingham:
Springt nicht von Job zu Job. Bleibt an einem Ort, lernt euer Handwerk dort zu Ende. Bildet euch selbst zur Perfektion aus, egal wo ihr angestellt seid. Man kann überall viel lernen und man kann vor allem immer besser werden. Ich weiss, dass die Welt heute schnelllebiger ist als früher. Aber Beständigkeit ist das, was schlussendlich zum Erfolg führt.
Bilder: Joëlle Weil
Michael Scharenberg-Weinberg 11. Februar 2020, 16:30
Sehr guter Rat: Beständigkeit! Sehr gut!